Angemerkt!: Wider die Vernunft?

Allerdings argumentieren umgekehrt viele Befürworter der Kernenergie nicht mit Erwartungswerten, sondern allein mit der geringen und in ihren Augen daher zu vernachlässigenden Wahrscheinlichkeit eines GAUs, so gravierend dessen Folgen auch wären. Zwar streiten die Kontrahenten nicht zuletzt darüber, wie die Wahrscheinlichkeiten und Folgen eines GAUs genau zu beziffern sind. Aber der entscheidende, ethische Dissens liegt in den Einstellungen zu den Wahrscheinlichkeiten und Folgen. Doch was ist die angemessene Einstellung zum Risiko?

Im Fall der Kernenergie geht es freilich nicht nur um strategische Rationalität oder gar evolutionären Vorteil. In Frage steht, ob der GAU als ein so großes Übel zu betrachten ist, dass es schon angesichts seiner schieren Möglichkeit unverantwortlich wäre, weiterhin auf Atomstrom zu setzen – oder eben nicht. Doch lässt sich weder die Befürchtung des Kernkraftgegners durch den Verweis auf die geringe Wahrscheinlichkeit entkräften noch erschreckt den Befürworter der Verweis auf das Ausmaß des möglichen Übels. Wird für den einen die Unwahrscheinlichkeit durch die Größe des Übels aufgewogen, so kompensiert für den anderen die geringe Wahrscheinlichkeit das potenzielle Übel.
Wer von beiden Recht hat, ist keine Frage des richtigen Rechnens, sondern der Sichtweise – so wie wir einem Ethiker, der uns verbieten wollte, zuerst unser eigenes Kind zu retten, keinen logischen Fehler vorwerfen, sondern eine verzerrte Sicht der Dinge. Aristoteles hat für die Fähigkeit, das Allgemeine im Einzelnen zu erkennen und in seinem Wert angemessen einzuschätzen, die Metapher vom "Auge der Seele" geprägt. Dass zur Beantwortung ethischer Fragen auch diese Fähigkeit erforderlich ist und dies nicht als irrational abgetan werden kann, zeigt exemplarisch der dramatische Wandel der öffentlichen Meinung in Sachen Kernenergie. Der aktuelle Streit wird nicht nur mit Zahlen und Fakten geführt, sondern auch mit Bildern und Geschichten – und das ist richtig so.
Sind die Deutschen nun Ökopioniere, die Atomkraftbefürworter als unverantwortliche Zocker entlarven, oder darf man sie getrost als Hysteriker und hasenherzige Bedenkenträger bezeichnen? Wie dem auch sei, sie sind nicht einfach irrational.
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