Wiederaufbau von Forschung und Lehre in Zoosystematik - eine nationale Aufgabe
Die Schätzwerte der Anzahl lebender Tierarten auf der Erde haben sich binnen weniger Jahrzehnte vervielfacht; indes hat auch der Artenschwund dramatisch zugenommen. Aber die Biologie als zuständige wissenschaftliche Disziplin vernachlässigt ihren wachsenden Forschungsfundus dermaßen, daß sie die Gefährdung der Biodiversität nicht einmal zu dokumentieren vermag. Gegenmaßnahmen sind vor allem im Interesse des Naturschutzes unerläßlich und dringlich.
Organismen gibt es in scheinbar unerschöpflicher Mannigfaltigkeit. Diese Vielfalt ist ein Wesensmerkmal des Lebens schlechthin, entscheidend für seine weitere Evolution und eine unentbehrliche Voraussetzung für die Sicherung der menschlichen Existenz. Denn erst Lebewesen schaffen unsere Lebensgrundlagen, nicht nur als Ressourcen, sondern auch dadurch, daß sie an Prozessen wie dem Klima, den geochemischen Regenerationskreisläufen sowie dem Erhalt von Bodenfruchtbarkeit und Wasserqualität wesentlich beteiligt sind. Ihre Kenntnis und Bewahrung müßte deshalb das vorrangige Ziel der modernen Biologie sein.
Indes ist nicht klar, wie weit Biodiversität reduziert werden kann, ohne daß lebensnotwendige ökologische Abläufe beeinträchtigt würden. Zwar ist es mittlerweile ein Gemeinplatz, daß die Ausbreitung der Zivilisation in ihrer hochtechnisierten Form sich zu Lasten der Vielfalt in der Natur vollzieht; aber deren Erforschung steht, obwohl auch dies ein wichtiger Grund dafür wäre, weltweit und besonders in Deutschland nicht hoch im Kurs. Vor allem um den Einsatz für die Fauna ist es schlecht bestellt.
Warum soll man erforschen, was ohnehin ausstirbt?
Keiner weiß, wie viele Tierarten es überhaupt gibt. Als der schwedische Naturforscher Carl von Linné (1707 bis 1778) erstmals ein klar definiertes System der Organismen entwickelte, hatte er es mit einer überschaubaren Zahl – 4162 – zu tun. Noch vor wenigen Jahrzehnten nahm man an, es seien insgesamt auf der Erde zwei bis drei Millionen. Inzwischen konnten dank des technischen Fortschritts und neuer logistischer Möglichkeiten früher fast unzugängliche Lebensräume und geographische Regionen wie die Tiefsee, die Polargebiete und das Meereis, mit dem Meer verbundene Höhlen oder auch die Kronenregion der Regenwälder zumindest inspiziert werden, wodurch die Schätzwerte geradezu explodiert sind.
Allein die Artenzahl der Gliederfüßer in den Baumkronen tropischer Waldgürtel soll irgendwo zwischen zehn und achtzig Millionen liegen. Auch die Annahmen über die Zahl der tierischen Organismen der Tiefsee haben sich beträchtlich erhöht, neuerdings auf fünf bis zehn Millionen.
Wenn das stimmt, sind erst knapp 5 Prozent der Tierarten wissenschaftlich erfaßt (und nur ein Prozent der bekannten Arten sind Gegenstand der Forschung). Wir sind weiter denn je davon entfernt, eine Übersicht zu gewinnen, zumal auch Indizien für bislang unbekannte Gattungen, Familien, ja Ordnungen und Klassen hinzukommen.
Viele Spezies sterben natürlicherweise aus; doch eine vermutlich weit höhere, wenn auch unbekannte Anzahl wird Opfer der menschlichen Expansion. Die meisten könnten auch künftige Generationen nicht einmal als Fossilien kennenlernen. Bei Insekten schätzt man die Verluste – hauptsächlich durch Vernichtung ihrer Habitate – auf 100 bis 400 Arten täglich. Diese Arten verschwinden, ohne daß die Wissenschaft sie registriert, geschweige denn ihre Rolle im Ökosystem Erde erkannt und ohne daß man sie ganz pragmatisch auf ihren Nutzen etwa für Medizin oder Landwirtschaft überprüft hätte – denn vor den Arten sind die Spezialisten ausgestorben, die sie erforschen könnten.
Biodiversität interessiert in der Biologie offenbar nicht mehr. Bei einer Auswertung der Themen aller in den Jahren 1985 bis 1990 in den biologischen Fächern an den Universitäten der alten Bundesländer abgeschlossenen Promotionen hat sich als Zwischenergebnis für 29 dieser Hochschulen herausgestellt, daß zellbiologische, physiologische, genetische und molekularbiologische Arbeiten mit 82 Prozent ein erdrückendes Übergewicht haben. Nur 15 Prozent der Dissertationen hatten etwas mit Ökologie zu tun. Systematik, die Wissenschaft von der Vielfalt der Arten, ist auf einen Anteil von 3 Prozent abgesunken.
Das heißt, wir rotten Tiere in Massen aus und schaffen die Wissenschaft ab, die den Reichtum der Fauna erkunden und den Raubbau daran dokumentieren könnte. Es scheint, als folge man dem zynischen Prinzip: Warum soll man erforschen, was ohnehin ausstirbt?
Tatsächlich erforderlich ist,
- gezielte Sammelexpeditionen zu organisieren und zu finanzieren,
- die naturforschenden Museen im Lande zu erweitern und
- Probensortierzentren einzurichten.
Sammlungen sind das Arbeitsfeld der Systematiker, der Pioniere unter den Biologen. Richtig genutzt, können sie wahre Schatzkammern sein, Stätten lebendiger Forschung und noch nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten Fundgruben der Wissenschaft, weil viele Dokumente nicht gleich nach ihrem Zusammentragen für aktuelle, sondern erst später für dann auftauchende Fragen und Probleme von Belang sind. Ein Herbarium aus dem 18. Jahrhundert, so haben es englische Kuratoren in der Öffentlichkeitskampagne "Our decaying natural heritage" ("Unser verrottendes Naturerbe") gesagt, ist so unersetzlich wie eine Stradivari-Geige. Auch lebende Arten sind historische Dokumente, deren Körperbau und Lebensweise im Vergleich mit anderen Arten Rückschlüsse auf die Entfaltung biologischer Vielfalt auf der Erde gestatten.
Für eine vorausschauende Wissenschaftsförderung wäre es darum geboten, durch Sammelexpeditionen so viele dieser einzigartigen Dokumente wie möglich für künftige Forschung zu sichern; denn es ist eine Illusion anzunehmen, dem Artensterben könnte Einhalt geboten werden. Dafür fehlt es an Unterstützung, obwohl absehbar ist, daß jetzt angelegte biologische Sammlungen binnen kurzem so kostbar sein werden wie Kollektionen bibliophiler Raritäten und daß Museen, die sie beherbergen, zu Weltzentren der evolutionsbiologischen Grundlagenarbeit avancieren werden.
Um solche Sammlungen anlegen und bearbeiten zu können, müssen die naturforschenden Museen in Deutschland räumlich und personell stark erweitert werden. Was für literarische Dokumente die Bibliotheken und für historische Dokumente die Archive, sind für biologische Dokumente diese Museen, doch im Ausbaustand liegen sie weit zurück.
Es gibt sogar Fälle, daß schon gesammeltes Material verkommt, weil sein Verbleib nicht geregelt ist. Beispielsweise schwärmen deutsche Forschungsschiffe in alle Weltmeere aus und kommen mit Unmengen von Tieren zurück. Genommen werden die Proben von Spezialisten, die aus ihnen nur Vertreter der Gruppe heraussuchen lassen, an der sie selbst interessiert sind. Der meist erhebliche und wissenschaftlich nicht minder wertvolle sogenannte Beifang wird in der Regel auf ein Regal gestellt und gerät dort in Vergessenheit. Es besteht dann keine Chance mehr, daß er je bearbeitet wird, weil er nirgendwo registriert worden ist.
Ein Probensortierzentrum könnte diese Aufgabe übernehmen: Es müßte Buch über alle auf Expeditionen genommenen Proben führen, den Beifang sortieren, seine Bearbeitung durch Spezialisten betreiben und dafür sorgen, daß das bearbeitete wie auch das unbearbeitete Material in Museen deponiert wird.
Warum soll man schützen, was keiner mehr kennt?
Politiker befassen sich mit Roten Listen, verordnen Umweltverträglichkeitsprüfungen, geben Landschaftsrahmenpläne in Auftrag. Aber die Umsetzung dieser Maßnahmen hängt in der Luft. Man vergißt, daß dafür Artenkenntnisse unerläßlich sind. Ökologische Gutachten haben Konjunktur, doch mangelt es dafür zunehmend an Kompetenz. Weil geschulte Kräfte fehlen, melden sich immer häufiger Interessenten, die aufgrund ihrer Ausbildung in den biochemisch-molekularbiologischen Teildisziplinen der Biologie für diese Aufgabe nicht gerade prädestiniert sind.
Um sich fundierte Artenkenntnis anzueignen, braucht man ohne Zweifel Interesse, Fleiß und Geduld. Aber man braucht dafür auch Lehrer, und an den Universitäten sind diese kaum noch vorhanden. Die Schwerpunkte der akademischen Ausbildung in der Biologie haben sich parallel zu denen der Forschung verlagert.
Einer vom Verband Deutscher Biologen herausgegebenen Zusammenstellung ("Die biologischen und biologienahen staatlichen Forschungsstätten in der Bundesrepublik Deutschland" von Nora Fischer-Kochems und Erwin Beck, Stuttgart 1989) ist zu entnehmen, daß nur 8 Prozent der darin aufgeführten Zoologieprofessoren das Fachgebiet Systematik vertreten. Ihre Verteilung auf die Universitäten der alten Bundesländer ist zudem so ungleichgewichtig, daß nur noch an 30 Prozent von ihnen die Biologiestudenten einem solchen Experten begegnen können. Und einer Auswertung von Vorlesungsverzeichnissen zufolge sind lediglich 20 Prozent der Dozenten, die ein Lehrangebot in Morphologie und Systematik machen, in dieser Sparte auch forschend tätig; das heißt, daß 80 Prozent von ihnen den Stoff fachfremd unterrichten.
Wer in einem Fachgebiet nicht forscht, wird darin auch keinen Nachwuchs hervorbringen. Ohne Nachwuchs keine Artenkenner. Ohne Artenkenner kein Natur- und Artenschutz. Denn warum soll man schützen, was keiner mehr kennt?
Also wäre erforderlich,
- neue Professuren für Systematik zu schaffen, entgegen dem Trend der jüngsten Zeit,
- ein nationales Erfassungszentrum einzurichten und
- für den Aufbau zentraler Datenbanken zu sorgen.
Während der Bildungsexpansion in den alten und bei der Reorganisation des Hochschulwesens in den neuen Bundesländern sind etliche Universitäten gegründet und bestehende ausgebaut worden. Dabei haben Sparten wie Molekularbiologie, Zellbiologie, Physiologie und Neurobiologie ihren Stellenbestand enorm ausgeweitet. Morphologie und Systematik blieben von diesem Boom ausgenommen; sie mußten sogar noch traditionsreiche Lehrstühle abtreten, weil in den Aufbaukommissionen die Vertreter der anderen Sparten dominierten und nur ihresgleichen förderten.
Infolgedessen ist zum Beispiel in Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, die eine hohe Universitätsdichte aufweisen, die Unterversorgung in Zoosystematik besonders eklatant. Wenn sich daran nichts ändert, wird das Fach Zoologie seiner gesellschaftlichen Verantwortung im Natur- und Artenschutz und bei der Erforschung der Artenvielfalt auf dieser Erde nicht kompetent nachkommen können: Wie es zum Erhalt einer Art unbedingt erforderlich ist, daß die Population eine bestimmte Größe nicht unterschreitet, scheint es auch für den lebendigen Fortbestand wissenschaftlicher Disziplinen eine kritische Masse zu geben; die Auszehrung von Morphologie und Systematik hat jedenfalls ein bedrohliches Ausmaß erreicht.
Zu der gesellschaftlichen Verantwortung gehört auch eine Bestandsaufnahme der heimischen Fauna und des Zustands der heimischen Ökosysteme. Man schätzt, daß es in Deutschland etwas mehr als 40000 Tierarten gibt. Bei speziellen Untersuchungen werden zwar immer wieder weitere beschrieben, aber die zusammenfassenden Darstellungen und Bestimmungstabellen sind zumeist veraltet. Kein Wunder, wenn dann in Gutachten immer wieder dieselben, weil überschaubaren Tiergruppen – Laufkäfer, Libellen, Heuschrecken und Wirbeltiere – genannt werden.
Ohne diese Grundlagen sind im Umweltbereich zu treffende Diagnosen und sinnvolle Entscheidungen über Maßnahmen nicht möglich. In anderen Ländern sind zu diesem Zweck nationale Erfassungszentren eingerichtet worden. In Deutschland gab es dazu auch einen Anlauf; weil aber die potentiellen Geldgeber das Projekt dann doch nicht als unbedingt notwendig ansahen, ist es in der Anfangsphase steckengeblieben.
Es gibt hierzulande auch keine zentrale Biologiedokumentation. Alle Karteien (wie solche der wissenschaftlichen Fachliteratur, der Nomenklatur und der Verbreitung von Arten), die für den Systematiker unentbehrlich sind, muß sich jeder Engagierte in jahrelanger Kleinarbeit noch immer selber aufbauen. Zentrale Datenbanken würden unproduktive, aber bislang unvermeidliche Einzelrecherchen erübrigen; Mehrfacherfassungen ließen sich leicht vermeiden und Lücken in den Datensammlungen aufzeigen. Eine beispielhafte Literaturdatenbank ist etwa die "Bibliographia Invertebratorum Aquaticorum Canadensum", das Verzeichnis aller Publikationen über die im Wasser lebenden wirbellosen Tiere Kanadas.
Verglichen mit anderen Ländern hat Deutschland für die Erforschung der heimischen und globalen Biodiversität die Infrastruktur eines Entwicklungslandes. Wenn es dabei bleibt, wird diese reiche und traditionsreiche Wissenschaftsnation – einst führend in der Biosystematik – kein ernstzunehmender Partner bei den sich abzeichnenden globalen Anstrengungen auf diesem Gebiet sein. Je länger man mit Abhilfe zögert, desto größere Defizite wird man nachträglich ausgleichen müssen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1994, Seite 114
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