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Zeitlose Formen in Bernstein

Fossieles Harz aus den Schlierseer Bergen bringt die bislang ältesten nicht-marinen Mikroorganismen, die mit ihren zarten Zellstrukturen überliefert sind.


An der Leitnernase in der Nähe des Schliersees in Bayern treten Sandsteine aus der Karnischen Stufe der oberen Trias zutage, der Zeit also, in der die Dinosaurier sich zu entwickeln begannen. Durch Zufall stieß ich dort vor zehn Jahren auf Platten, die mich als Sammler von Versteinerungen neugierig machten – denn ihre Oberfläche zeigte inkohlte Reste von Pflanzen.

Als ich zu Hause einige sorgfältig gereinigte Stücke unter dem Erzmikroskop betrachtete, fielen mir winzige gelbe und rote Einlagerungen auf, die wie Bernstein anmuteten. Mitarbeiter der Bayerischen Staatssammlung für Allgemeine und Angewandte Geologie verwiesen mich, da sie keine genauere Untersuchung vornehmen konnten, an Dieter Schlee vom Staatlichen Naturkundemuseum in Stuttgart. Er und später auch Wolfgang Weitschat vom Geologisch-Paläontologischen Insdtut der Universität Hamburg bestätigten, daß es sich um Bernstein handelte.

Die Sandsteine gehören zu den Raiblerschichten, so benannt nach dem Ort Raibl in Kärnten (Österreich). Das heißt, der darin enthaltene Bernstein hat ein Alter von etwa 222 bis 230 Millionen Jahren. Allein das macht ihn wertvoll; denn aus der Trias ist fossiles Harz nur äußerst selten überliefert.

Erstaunlich ist auch der Farbreichtum der inzwischen mehr als 2000 geborgenen Stücke – außer Gelb- und Braunschattierungen kommen granat- bis dunkelrote Tönungen vor. Ihre Größe variiert zwischen einem Millimeter und etwa zwei Zentimetern; relativ häufig haben sie Tropfenform.

Die besterhaltenen Bernsteine fanden sich in dem zusammengeschwemmten fossilen Pflanzenhäcksel, das an einigen Stellen der Sandsteinplatten schwarze Häufchen gebildet hat. In vielen Platten habe ich solches Material entdeckt und inzwischen als Überreste von Pterophyllum jaegeris, einem palmfarnartigen Gewächs, identifiziert. Es könnte der Harzlieferant gewesen sein.

Spektroskopische Untersuchungen verschiedener Wissenschaftler vermochten die Herkunftspflanze des fossilen Harzes allerdings nicht genauer einzugrenzen. Ihre Infrarot-Spektrogramme zeigten in dem dafür aufschlußreichen Bereich keine diagnostisch nützlichen Absorptionen, und die Kernresonanz-Spektren stimmen nicht mit denen der anderen bekannten fossilen Harze überein. Jedoch belegten beide Verfahren den pflanzlichen Ursprung. Norbert Vávra vom Institut für Paläontologie der Universität Wien wies 1991 nach, daß die Schlierseer Proben Bernsteinsäure sowie Dehydroabietinsäure enthalten (Abietinsäure ist eine zu den Diterpenen gehörende Harzsäure). Bei beiden Stoffen handelt es sich wohl um die ältesten ihrer Art, die bisher nachgewiesen wurden.

Die erstaunlichste Entdeckung machte indes Vávras Kollege Reinhard Zetter an einem etwa zwei Zentimeter großen, außen bräunlichen Stück: Es enthielt einzelne Fäden, sogenannte Hyphen, eines Pilzgeflechts. Eine Auswahl vielversprechenden Materials ging daraufhin an George O. Poinar von der Universität von Kalifornien in Berkeley; der Paläontologe ist für seine Untersuchungen an Insekten und anderen Organismen bekannt, die eingeschlossen im Bernstein erhalten geblieben sind. Im vergangenen Jahr hat er mit anderen Wissenschaftlern winzige Abschnitte von Erbsubstanz-Molekülen aus einem 40 Millionen Jahre alten Insekt isoliert.

Poinar und sein Mitarbeiter Benjamin M. Waggoner brachen kleine Stücke des Schlierseer Bernsteins auf und untersuchten den Inhalt mikroskopisch ("Science", Band 259, Seiten 222 bis 224, 8. Januar 1993). Zutage kamen Einzeller, Bakterien und Algen, die teilweise heutigen Gattungen ähneln (Bild). Einige davon lebten vermutlich auf Laub und Rinde der harzproduzierenden Pflanze. Kleine Regenwasseransammlungen in Spalten und Rissen der Borke oder in astgabelartigen Vertiefungen könnten den gefundenen aquatischen und halbaquatischen Formen – wie Wimperntierchen (Ciliaten), Amöben und Scheidenbakterien – Lebensraum gegeben haben.

Plötzlich hineinlaufendes Harz hat eine regelrechte Momentaufnahme dieser Mikrowelt überliefert: Einer der Ciliaten war gerade dabei, einen Blaualgenfaden zu verschlingen – genau wie es heutige Vertreter seiner Gattung tun. Ebenfalls entdeckte mutmaßliche Pilzsporen und keimende Pollenkörner könnten in solche Miniaturtümpel gefallen oder gegen das klebrige Harz geweht worden sein.

Daß die vorzeitlichen Wimperntierchen und Amöben sich aufgrund ihres Aussehens gegenwärtigen Gruppen zuordnen lassen spricht für einen sehr langsamen morphologischen Wandel, wenn nicht gar für Stagnation ihrer Evolution.

Molekulare Vergleiche zwischen praktisch identischen rezenten Arten und Stämmen von Einzellern hatten einen solchen Verdacht bereits aufgeworfen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1993, Seite 24
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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