Teilchenphysik: Zerfall mit Fragezeichen
Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Kernphysik glauben Anzeichen für den neutrinolosen doppelten Betazerfall gefunden zu haben. Wenn sich dies bestätigen würde, wäre es ein sensationeller Durchbruch in der Teilchenphysik.
Vielleicht hätten die Autoren die Überschrift ihres wissenschaftlichen Berichts mit einem Fragezeichen versehen sollen: "Hinweis auf den doppelten neutrinolosen Betazerfall?" Ohne diesen Vorbehalt entfachte die Arbeit einen heftigen Disput unter Wissenschaftlern und in den Medien, ob die zentrale Aussage wirklich gerechtfertigt ist.
Immerhin geht es um bedeutende Dinge. Zunächst um die Natur des Neutrinos. Seit Wolfgang Pauli es vor siebzig Jahren postuliert hat, um die Energiebilanz beim Betazerfall eines Neutrons in ein Proton und ein Elektron auszugleichen, ist es eines der geheimnisvollsten und interessantesten Teilchen in der Physik geblieben. Das liegt daran, dass es nur äußerst schwer nachweisbar ist, weil es keine Ladung trägt, eine verschwindend kleine Masse hat und von den vier Grundkräften nur der so genannten schwachen Wechselwirkung und der noch viel schwächeren Gravitation unterliegt. Deshalb sind einige grundlegende Fragen über das Neutrino bis heute unbeantwortet – und das, obwohl es zu den häufigsten Teilchen im Universum überhaupt gehört.
Die wohl wichtigste ist die nach seiner Masse. Diese sollte laut Standardtheorie der Teilchenphysik gleich null sein, aber mittlerweile gibt es überzeugende Hinweise, dass dem nicht so ist. Ein Neutrino mit Masse aber hat je nach deren Wert womöglich große kosmologische Bedeutung, weil es die Geometrie des Universums beeinflussen könnte.
Eine weitere ungeklärte Frage lautet, ob das Neutrino sein eigenes Antiteilchen ist. Der italienische Physiker Ettore Majorana hatte dies schon 1937 postuliert. Träfe die Vermutung zu, dann nähme das Neutrino eine einzigartige Position im Zoo der kleinsten Bestandteile unserer Welt ein; denn mit Ausnahme der Bosonen, welche die Wechselwirkungen vermitteln, sind alle anderen elementaren Partikel so genannte Dirac-Teilchen: Sie haben halbzahligen Spin (Eigendrehimpuls), unterscheiden sich von ihren Anti-Teilchen und zerstrahlen bei der Verschmelzung mit ihnen.
Diese Frage würde der neutrinolose doppelte Betazerfall unmittelbar beantworten; denn er kann überhaupt nur stattfinden, wenn das Neutrino ein Majorana-Teilchen ist und eine von null verschiedene Ruhemasse hat. Mehr noch: Bei einer Messung des neutrinolosen Zerfalls ließe sich die Neutrinomasse viel genauer bestimmen, als dies bisher aus dem (einfachen) Betazerfall von Tritium (überschwerem Wasserstoff) möglich war.
So liefert die jetzt veröffentlichte Analyse der Max-Planck-Forscher eine untere Grenze für die Masse des Neutrinos, sofern dieses ein Majorana-Teilchen ist, im Bereich zwischen 0,05 und 0,2 Elektronenvolt. Dagegen ergeben die Tritium-Experimente derzeit eine obere Massengrenze von 2,2 Elektronenvolt – ohne die Frage nach der Dirac- oder Majorana-Natur des Neutrinos zu beantworten. Beide Aussagen haben jeweils eine Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent.
Schließlich verletzt der neutrinolose doppelte Betazerfall eine fundamentale Regel, wonach bei jeder Teilchenreaktion immer gleich viele Leptonen (Elektronen, Neutrinos) wie Anti-Leptonen entstehen: beim normalen Betazerfall zum Beispiel ein Elektron und ein Antineutrino. Bei der doppelten neutrinolosen Variante senden Kerne mit gerader Massenzahl dagegen lediglich gleichzeitig zwei Elektronen aus; die Kompensation durch zwei Antineutrinos unterbleibt.
Die Frage, ob es den neutrinolosen doppelten Betazerfall gibt, ist demnach von erheblicher Bedeutung für die Teilchenphysik. Daher begann im Jahre 1990 ein deutsch-russisches Team im Rahmen eines groß angelegten Experiments im Gran-Sasso-Untergrundlabor bei Rom mit der Suche danach (Spektrum der Wissenschaft 10/91, S. 20). Der Detektor aus fünf zusammen 11,5 Kilogramm schweren Germanium-Einkristallen, die auf 86 Prozent mit dem Isotop der Masse 76 angereichert sind, befindet sich dabei unter einem 1400 Meter dicken Felsmassiv und innerhalb einer weiteren Abschirmung aus Elektrolytkupfer und Blei. Damit soll störende Hintergrundstrahlung weitestgehend ausgeschaltet werden.
Beim neutrinolosen doppelten Betazerfall wandelt sich Germanium-76 in Selen-76 um. Die gleichzeitig ausgesandten Elektronen sollten eine scharfe Gesamtenergie von 2039 Kiloelektronenvolt haben. Anzeichen für eine entsprechende Linie im Summenenergie-Spektrum glauben nun vier Wissenschaftler um Volker Klapdor-Kleingrothaus vom Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg, dem Sprecher der deutsch-russischen Kollaboration, bei der Analyse der Daten aus dem Zeitraum zwischen August 1990 und Mai 2000 gefunden zu haben, die im vergangenen Jahr publiziert wurden.
Streit um einen Peak
Mit bloßem Auge ist an dieser Stelle zwar kein deutlicher Peak zu erkennen. Die Heidelberger Forscher analysierten das Spektrum jedoch mit verschiedenen statistischen Verfahren. Dabei erhielten sie mehr oder weniger hohe Wahrscheinlichkeiten dafür, dass an der erwarteten Position tatsächlich ein Zacken aus dem Untergrund herausragt. Die Anwendung der vorsichtigen, so genannten Bayes’-schen Statistik auf alle Daten lieferte einen Wert von 96,5 Prozent. Dieser erhöhte sich auf 97,4 Prozent, wenn die Daten von Detektor 4 weggelassen wurden (weil er die schwächste Energieauflösung und keine Abschirmung gegen Myonen hat). Dagegen ergab sich ein Wert von 96,8 Prozent, wenn nur die Messergebnisse seit 1995 (mit so genannter Pulsformanalyse) berücksichtigt wurden, die aus verschiedenen Gründen zuverlässiger erscheinen. Eine andere Analysemethode, die ebenfalls von der Particle Data Group empfohlen wird, liefert sogar 99,4 Prozent mit dem halbierten Datensatz beziehungsweise 99,8 Prozent ohne Detektor 4.
Mehr als ein mögliches Anzeichen für den illustren Zerfall wollen die Heidelberger Forscher in diesem Ergebnis dennoch nicht sehen. Immerhin bleibt danach eine Restwahrscheinlichkeit von rund drei Prozent, dass es sich bei dem Peak um eine bloße statistische Schwankung handelt. Aber selbst wenn er "echt" ist, könnte er zum Untergrund gehören. Zwar betonen die Autoren des Berichts, dass der Peak nach derzeitiger Kenntnis nicht von einer Gammastrahlungs-Emission radioaktiver Kerne stammen kann, welche die kosmische Strahlung in der Apparatur oder ihrer Umgebung erzeugt hat. Dennoch lässt sich nicht ausschließen, dass es sich um eine bislang unbekannte Gamma-Linie handelt.
Angesichts der Brisanz des Ergebnisses haben 26 Kollegen einen Kommentar ins Internet gestellt, in dem sie in insgesamt neun Punkten Einwände gegen die Ergebnisse der Analyse erheben. So weisen sie darauf hin, dass sich im Analysebereich drei weitere Maxima ungeklärter Herkunft mit größerer statistischer Signifikanz befinden. Das lässt den Verdacht aufkommen, dass der vierte Peak womöglich ähnlich ungeklärter Herkunft ist und nicht unbedingt von dem gesuchten doppelten Betazerfall stammen muss; dass er an der richtigen Position liegt, könnte Zufall sein. Die Heidelberger Forscher glauben jedoch, die meisten Einwände entkräften zu können.
Ferner haben drei italienische Physiker die Daten nochmals ausgewertet. Dabei fanden sie nur eine Wahrscheinlichkeit von 87 Prozent dafür, dass es sich tatsächlich um einen Peak handelt. Allerdings benutzten sie ein Analyseverfahren, das für sehr geringe Zählraten weniger geeignet ist.
Zwar sollte sich das Signal, falls es echt ist, mit der Zeit verstärken. Der Vertrag mit dem Moskauer Kurchatov-Institut über die deutsch-russische Kollabo-ration läuft jedoch Ende 2003 aus. Bis dahin ist keine große Verbesserung der Statistik mehr zu erwarten.
Eine Bestätigung oder Widerlegung des jetzigen Ergebnisses könnte dagegen das schon länger geplante Genius-Projekt liefern. Dabei sollen die Germanium-Detektoren in einem Tank mit flüssigem Stickstoff von zwölf bis dreizehn Metern Durchmesser untergebracht werden. Dadurch würden alle Materialien, die radioaktive Verunreinigungen enthalten könnten, aus ihrer Nähe entfernt, was den Untergrund um den Faktor tausend und mehr absenken dürfte. Außerdem ist geplant, statt der bisherigen 11,5 Kilogramm bis zu eine Tonne an hochangereichertem Germanium-76 einzusetzen. Die Empfindlichkeit des Detektors stiege dadurch erheblich. Gegenwärtig wird eine Testanlage im Gran Sasso aufgebaut, die voraussichtlich Anfang 2003 den Betrieb aufnimmt. Genius selbst könnte in etwa fünf Jahren starten.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 2002, Seite 21
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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