Affirmationen: Die Macht der Selbstbestätigung
Selbsthilfebücher stehen seit Jahren hoch im Kurs. Mit Mantras wie »Ich bin gut so, wie ich bin« und »Ich bin liebenswert« fordern sie die Leser und Leserinnen dazu auf, positiv zu denken und sich selbst mit allen Stärken und Schwächen anzunehmen. In den sozialen Medien kommen solche Appelle ebenfalls gut an: »Wir können JETZT entscheiden, genug zu sein!«, schreibt etwa eine junge Frau auf Instagram, deren linkes Bein 2021 amputiert werden musste, und erhält dafür nicht nur zahlreiche Beifallklatscher, sondern auch mehr als 4000 Likes.
Diese Technik des Sich-selbst-gut-Zuredens wird als positive Affirmation oder Selbstaffirmation bezeichnet. In der Psychologie sind damit ganz allgemein positive Aussagen, Selbstbekräftigungen oder Überzeugungen gemeint, die die eigene Person betreffen, erklärt die Verhaltenstherapeutin Yesim Demiran: »Sie sollen das Selbstwertgefühl steigern, negative Gedanken abbauen und Selbstvertrauen fördern.« Zum Einsatz kommen sie in Lebensratgebern sowie im Coaching und in der Psychotherapie. Demiran wendet die Methode ebenfalls mit manchen ihrer Patientinnen und Patienten an.
Dass gute Gedanken das eigene Denken und die Selbstwahrnehmung positiv beeinflussen können, klingt erst einmal nachvollziehbar. Tatsächlich gibt es mittlerweile eine Reihe von Studien, die den Effekt der Selbstbestärkung belegen. So können sich Affirmationen etwa förderlich auf das Selbstwertgefühl und die Zufriedenheit auswirken. Mitunter stärken sie auch die Selbstkontrolle und helfen dabei, das eigene Verhalten zu verändern. Besonders deutlich wird das in einer Übersichtsarbeit von Geoffrey Cohen von der Stanford University und David Sherman von der University of California in Santa Barbara aus dem Jahr 2014. Darin berichten die beiden Psychologen unter anderem von einer Untersuchung, bei der Raucherinnen und Raucher eine Antiraucherwerbung zu sehen bekamen. Ein Teil der Probanden hatte zuvor einige Eigenschaften aufgelistet, die sie an sich selbst wertschätzten. Je nachdem, welcher Gruppe die Teilnehmer angehörten, fiel die Reaktion auf die Werbung unterschiedlich aus: Die Personen, die die Selbstbestätigungsübung durchgeführt hatten, empfanden die Bilder im Schnitt zwar als belastender, äußerten anschließend aber auch ein größeres Vertrauen in ihre Fähigkeit, mit dem Rauchen aufzuhören.
»Wenn Menschen in ihren positiven Eigenschaften bekräftigt werden, sind sie eher bereit, die ersten Schritte hin zu einer Verhaltensänderung zu unternehmen«, schlussfolgern Cohen und Sherman in ihrer Arbeit. Ähnliches zeigte sich bei Frauen, die abnehmen wollten: Diejenigen, die zuvor ihre guten Eigenschaften auflisten sollten, verloren innerhalb von zweieinhalb Monaten mehr Gewicht und wiesen anschließend einen niedrigeren Body-Mass-Index (BMI) sowie einen geringeren Taillenumfang auf als Teilnehmerinnen einer Kontrollgruppe, die ihre Diät ohne Selbstaffirmation begonnen hatten.
Affirmationen schützen das Selbstbild
Selbst bei schweren Krankheiten scheint es sich mitunter förderlich auszuwirken, wenn man sich aktiv die eigenen Stärken und den eigenen Wert vor Augen führt. Darauf deutet eine Studie an Frauen mit Brustkrebs im Frühstadium hin. Die Fachleute entdeckten, dass Betroffene, die ihre Gedanken und Gefühle in Bezug auf ihre Krebserkrankung schriftlich ausdrückten, bei einer Nachuntersuchung drei Monate später subjektiv von weniger Krankheitssymptomen berichteten. Eine genauere Analyse zeigte, dass sie offenbar vor allem dann profitieren, wenn sie sich mit Werten beschäftigten, die für sie wichtig waren, beispielsweise Religion oder Beziehungen – und wenn sie jene Eigenschaften hervorhoben, die sie an sich selbst besonders schätzten. »Selbstaffirmation ermöglichte es mir, die Kraft und das Selbstbewusstsein zu finden, um immer wieder aufzustehen«, schrieb eine Teilnehmerin im Anschluss an die Studie.
Eine Erklärung für diesen positiven Effekt bietet die Selbstbestätigungstheorie, die der Psychologe Claude Steele bereits 1988 aufstellte. Demnach sind Menschen stets bestrebt, die Integrität ihres Selbst zu wahren und sich als wertvoll und in sich schlüssig wahrzunehmen. Die meisten Personen möchten im Einklang mit ihren Werten und Überzeugungen handeln und daran glauben, dass sie ihr Leben entsprechend diesen Vorstellungen gestalten können. Wird das eigene Selbstbild bedroht, löst das nicht nur Stress aus: Menschen verfallen oft in defensive Verhaltensweisen. Sie neigen dann dazu, jede Information umzuinterpretieren oder auszublenden, die nicht mit der Vorstellung von sich selbst vereinbar ist. So spielen Raucher etwa die Gesundheitsgefahren herunter, wenn sie Warnhinweise auf Zigarettenpackungen sehen, um ihr Bild von sich als einer gesundheitsbewussten Person nicht zu gefährden.
Bestätigt man nun einen anderen, ebenso wichtigen, gerade aber nicht bedrohten Aspekt des eigenen Selbst, lässt sich damit dem Stress und solchen langfristig eher ungünstigen Bewältigungsstrategien entgegenwirken. Man verlegt die Aufmerksamkeit sozusagen auf ein anderes Schlachtfeld, auf dem man leichter gewinnen kann. Was genau die Selbstbestätigung beinhaltet und worauf sie abzielt, bleibt dabei offen: »Hierbei kann es sich um persönliche Eigenschaften handeln, die eine Person an sich mag, spezielle Werte, die jemand vertritt, oder eine Art Mantra, das Hoffnung und Zuversicht gibt«, erklärt die Psychotherapeutin Demiran.
In Form einer Wertbestätigung kann Selbstaffirmation womöglich sogar die Auswirkungen sozialer Ungleichheit abmildern, die etwa auf Grund von Diskriminierung entstehen. Das zeigt eine Studie, die Cohen und Sherman gemeinsam mit ihrem Team an drei Schulen in den USA durchführten. Diese befanden sich zwar in Vierteln der Mittelschicht; ein Großteil der Schüler und Schülerinnen, die einer Minderheit angehörten, stammte jedoch aus sozioökonomisch benachteiligten Familien. Jene mit afroamerikanischem und lateinamerikanischem Hintergrund wurden per Los einer von zwei Gruppen zugeteilt: Die eine absolvierte zwei- bis fünfmal im Lauf eines Schuljahrs verschiedene Übungen zur Wertbestätigung – oft kurz vor Klassenarbeiten. Dazu sollten die Versuchspersonen beispielsweise ihre zwei oder drei wichtigsten Werte angeben und in einem Essay begründen, warum ihnen diese so viel bedeuten. Die übrigen Teilnehmer führten keine Selbstaffirmation durch und fungierten als Kontrollgruppe.
Leistungsabstände verringern
Eine anschließende Analyse der Schulnoten der Probanden offenbarte, dass sich die Mitglieder der Selbstaffirmationsgruppe in den folgenden ein bis drei Jahren besser entwickelten: So halbierte sich etwa der Prozentsatz afroamerikanischer Schülerinnen und Schüler, die im ersten Semester des Kurses, in dem die Intervention stattfand, eine Vier oder eine Sechs erhielten. Da das Programm nur mit ethnischen Minderheiten durchgeführt wurde, half es zudem, den Leistungsabstand zu den übrigen Schülern zu verringern, an einer der teilnehmenden Schulen um 30 Prozent und an einer anderen um 20 Prozent. Selbst zwei Jahre nach Abschluss der Studie war der Effekt noch messbar.
Mitglieder marginalisierter Gruppen müssen immer damit rechnen, dass ihre Mitmenschen ihnen mit negativen Stereotypen begegnen, sie womöglich sogar rassistisch abwerten. »Für einen afroamerikanischen oder lateinamerikanischen Schüler kann die Aussicht, als intellektuell beschränkt abgestempelt zu werden, das Klassenzimmer bedrohlicher wirken lassen«, erklären die Studienautoren den Effekt. Sich andere, positive Eigenschaften vor Augen zu führen, scheint die Bedrohung abzupuffern. Etwas Ähnliches lasse sich mitunter auch bei Menschen beobachten, die Erfahrungen mit Mobbing machen mussten, berichtet Demiran: »Zu verstehen, dass man trotz der erlebten Ausgrenzung oder Hänselei wertvoll ist, kann Betroffenen helfen, mit der Situation umzugehen, und dafür sorgen, dass sie die negativen Erfahrungen oder Zuschreibungen nicht in ihr Selbstbild integrieren.« Die strukturellen Probleme, auf denen Rassismus und Mobbing fußen, beseitigen Selbstaffirmationen allerdings natürlich nicht.
»Affirmationen sollen das Selbstwertgefühl steigern, negative Gedanken abbauen und Selbstvertrauen fördern«Yesim Demiran, psychologische Psychotherapeutin
Manchmal kann Selbstaffirmation zudem unerwünschte Nebeneffekte haben oder genau das Gegenteil von dem bewirken, was man eigentlich mit ihr bezweckt. Hinweise darauf fand ein Team um die kanadische Psychologin Joanne Wood bereits im Jahr 2009. Wood und ihre Kollegen rekrutierten 68 Studenten, von denen die Hälfte den in Selbsthilfebüchern beliebten Satz »Ich bin ein liebenswerter Mensch« vier Minuten lang wiederholen sollte. Die anderen schrieben in der gleichen Zeit lediglich ihre Gedanken und Gefühle nieder. Anschließend erfassten die Psychologen die Stimmung der Teilnehmer. Dabei zeigte sich, dass nur Personen mit einem hohen Selbstwertgefühl in geringem Maß von der Intervention profitierten. Jene mit einem geringen Selbstwertgefühl fühlten sich nach dem Wiederholen des positiven Satzes hingegen schlechter als zuvor.
Auf den richtigen Satz kommt es an
Die Erklärung der Studienautoren: Sätze wie »Ich bin ein liebenswerter Mensch« könnten bei jemandem mit niedrigem Selbstwert dazu führen, dass er in Gedanken in Widerrede geht und sofort Gegenbeispiele dafür sucht, warum die Aussage doch nicht auf ihn zutrifft. Das erklärt vielleicht auch, weshalb einige Menschen mit Selbstaffirmation eher negative Erfahrungen machen. »Ich habe eine Menge Bücher über positives Denken gelesen. Aber jedes Mal, wenn ich versucht habe, die Methoden anzuwenden, habe ich mich nur noch unsicherer und ängstlicher gefühlt als zuvor«, schrieb zum Beispiel eine Krankenschwester aus den Niederlanden Wood, wie die Psychologin im Nachgang in einer Onlinekolumne berichtete.
Der Mutter eines Kindes mit Behinderung erging es ähnlich: »Wenn ich in Büchern nach Ratschlägen suchte, waren sie immer superpositiv und spiegelten nicht einmal ansatzweise meine Erfahrungen wider. Am Ende fühlte ich mich eher schlechter als inspiriert«, schrieb sie. Für die beiden Frauen waren Woods Experimente anscheinend eine ziemliche Erleichterung. Endlich wussten sie, was los war: Sie hatten nichts falsch gemacht; die positiven Selbstbestärkungen waren bloß nicht das Richtige für sie.
»Der Satz muss zu der Person und ihren persönlichen Überzeugungen und Werten passen«Yesim Demiran, psychologische Psychotherapeutin
»Das bedeutet allerdings nicht, dass Selbstaffirmationen generell schädlich sind«, betont Wood. So wurde nicht untersucht, wie die Wirkung ausfällt, wenn man einen etwas anderen, vielleicht ein wenig abgeschwächten Satz benutzt oder sich statt einer solchen eher allgemeinen Formulierung konkretere positive Eigenschaften vergegenwärtigt.
Wichtig sei vor allem die Erkenntnis, dass es nicht den einen Satz gebe, mit dem sich alle Menschen besser fühlen, wie Ratgeber gerne suggerierten, erklärt Demiran. »Der Satz muss zu der Person und ihren persönlichen Überzeugungen und Werten passen.« Dazu reichten meistens Formulierungen aus, die einen kleineren Bereich des Lebens oder der Persönlichkeit betreffen. Statt »Ich bin wertvoll« könnte man sich beispielsweise sagen: »Für meine Kinder bin ich wertvoll.« Oder: »Tag für Tag erkenne ich meinen Wert mehr.« Wer einen Satz gefunden hat, der zu ihm passt, sollte ihm kurz nachspüren, rät die Psychotherapeutin: »Regt sich innerlich zu viel Widerspruch, braucht es eine Umformulierung.«
Anders als viele Selbsthilferatgeber vermitteln, gehe es nicht darum, »besonders gut« oder »besonders liebenswert« zu sein, schreiben auch Cohen und Sherman in ihrer Arbeit. Um die Integrität des eigenen Selbst aufrechtzuerhalten, müssten Affirmationen einer Person nicht das Gefühl vermitteln, rundum super zu sein. Stattdessen reiche es, wenn sie in einem besonders geschätzten Bereich ein »Gefühl der Angemessenheit« fördern.
Übung zum Einstieg: Die Ressourcendusche
Menschen, denen es schwerfällt, ihrer Person überhaupt etwas Positives abzugewinnen oder zumindest Anteile ihrer selbst wertzuschätzen, empfiehlt Verhaltenstherapeutin Yesim Demiran die Ressourcendusche. Hierfür fragen die Betroffenen Freundinnen und Freunde, was sie an ihnen mögen. Besonders schön sei es, wenn diese die Charaktereigenschaften oder Eigenschaften aufschreiben, so Demiran: »Dann sind die Wertschätzungen immer griffbereit und gehen im Alltag nicht verloren.«
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