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Antidepressiva: Jede sechste Person hat Absetz-Symptome

Beim Absetzen eines Antidepressivums können Probleme wie Schwindel oder Kopfschmerzen auftreten. Wie häufig das vorkommt, war bislang unklar. Eine aktuelle Metastudie bringt nun Licht ins Dunkel.
Verschiedene bunte Pillen
Antidepressiva regulieren den Stoffwechsel der Botenstoffe Noradrenalin und Serotonin im Gehirn. Ein abruptes Absetzen kann zu Symptomen wie Kopfschmerzen oder Übelkeit führen.

In Deutschland erkranken jährlich mehrere Millionen Menschen an einer Depression. Im Deutschland-Barometer Depression gaben 62 Prozent der Betroffenen an, dagegen Antidepressiva einzunehmen. Solche Mittel greifen unter anderem in den Stoffwechsel der Botenstoffe Noradrenalin und Serotonin im Gehirn ein und sorgen dafür, dass die Nervenzellen wieder normal miteinander kommunizieren können. Sie wirken dämpfend, stimmungsaufhellend und verhelfen zu mehr Energie, um im Alltag besser zurechtzukommen.

»Antidepressiva werden leitliniengemäß in Abhängigkeit von Schwere, Dauer und Anzahl der depressiven Episoden individuell lang verabreicht«, sagt Katharina Domschke, ärztliche Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Freiburg. Dies könne von wenigen Wochen über zwölf Monate bis zu zwei Jahren reichen. Setzt man das Mittel jedoch abrupt ab, treten mitunter Begleiterscheinungen auf, so genannte Absetz-Symptome. »Bei fachärztlich behandelten Patienten und Patientinnen wird daher in der Regel ein schnelles Absetzen vermieden«, sagt Erich Seifritz, Direktor und Chefarzt für Erwachsenenpsychiatrie und Psychotherapie an der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Es könne aber sein, dass Betroffene ihr Medikament selbst absetzen oder schneller ausschleichen als besprochen.

Gerade dann kann es zu Schwindel, Kopfschmerzen oder Übelkeit kommen. Auch das mentale Befinden verschlechtert sich mitunter; Betroffene können sich abgeschlagen fühlen oder leichter reizbar sein. Die Symptome äußern sich nach einigen Tagen und bleiben zum Teil über mehrere Wochen bestehen. »Wir entscheiden dann individuell, wie wir weiter vorgehen, wenn wir unerwünschte Symptome beobachten«, erklärt Seifritz. »Insgesamt sehen wir diese Fälle in der Klinik aber wirklich kaum.«

Dass solche Anpassungsprobleme existieren, darüber besteht wissenschaftlicher Konsens. Wie häufig sie jedoch sind und wie schwer sie ausfallen, darüber gab es bislang keine Klarheit – zahlreiche Studien kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Ein deutsches Forschungsteam der Universität zu Köln und der Charité Berlin hat nun eine erste Metastudie, also eine zusammenfassende Analyse dazu durchgeführt. Ihre Ergebnisse publizierten sie in der Fachzeitschrift »The Lancet Psychiatry«.

Die Forschenden um Christopher Baethge trafen hierfür eine Vorauswahl aus mehr als 6000 Einzelstudien und überprüften diese auf Vergleichbarkeit. 79 der Arbeiten waren sich bezüglich der Fragestellung und des Studiendesigns hinreichend ähnlich, so dass sie in die Analyse eingeschlossen werden konnten. Diese finale Auswahl beinhaltete die Daten von mehr als 21 000 Personen. Bei 44 der Studien handelte es sich um so genannte RCTs (randomised controlled trials), hier wurden die Teilnehmenden also in zwei Gruppen eingeteilt: Ein Teil der Probanden erhielt ein Antidepressivum, die restlichen bildeten die Vergleichsgruppe. Sie bekamen ein Placebo verabreicht, wussten das aber nicht.

»Bei fachärztlich behandelten Patienten und Patientinnen wird in der Regel ein schnelles Absetzen vermieden«Erich Seifritz, Psychiater

Bei den restlichen 35 Untersuchungen handelte es sich um Beobachtungsstudien. Hier gab es keine Vergleichsgruppe. Die 79 Studien unterschieden sich zudem in weiteren methodischen Aspekten: Es wurden unterschiedliche Antidepressiva verabreicht, zum anderen variierte die Behandlungsdauer stark. Die kürzeste Einnahme betrug eine Woche, die längste drei Jahre. Auch die Art und Weise des Absetzens variierte. Bei einigen Arbeiten ließen die Patienten das Medikament abrupt weg, in anderen wurde es über Wochen hinweg ausgeschlichen.

Um zu quantifizieren, wie häufig Absetz-Symptome vorkommen, mussten Christopher Baethge und seine Arbeitsgruppe nun über all diese Unterschiede mitteln. Kein einfaches Unterfangen und letztendlich die Krux jeder Metaanalyse. »Die Qualität der eingeschlossenen Studien ist heterogen, das ist den Autoren bewusst. Viele hatten Absetz-Symptome außerdem gar nicht als primäres Studienziel«, sagt Katharina Domschke. Dies könne in Summe sogar zu einer Überschätzung der berichteten Effekte geführt haben.

31 Prozent gaben an, dass sie nach dem Absetzen deutlich beeinträchtigt waren. Knapp drei Prozent berichteten sogar über schwere Symptome. Überraschenderweise gab es hier keinen Unterschied zwischen jenen Versuchspersonen, die das Präparat abrupt abgesetzt hatten und jenen, die es langsam reduzierten. Jonathan Henssler, Erstautor der Metaanalyse räumt aber ein: »Die erhebliche Heterogenität der Studiendesigns lässt keine eindeutigen Schlussfolgerungen zu.« Auch Teilnehmende, die zur Vergleichsgruppe gehörten und ein Placebo erhalten hatten, verspürten Beschwerden. Das war bei insgesamt 17 Prozent der Fall, wobei 0,6 Prozent über schwere Probleme klagten.

»Das Positive ist: Die meisten können Antidepressiva problemlos absetzen und schwere Begleiterscheinungen sind sehr, sehr selten«Katharina Domschke, Psychiaterin

Wie kann das sein – sie hatten doch gar kein wirksames Arzneimittel erhalten? Eine Antwort auf diese Frage liefert der so genannte Nocebo-Effekt. Er ist das negative Pendant zum Placeboeffekt und beschreibt unerwünschte Nebenwirkungen einer Scheinbehandlung. Patienten rechnen mit Symptomen oder haben gar Angst davor. Dass sie überhaupt keinen Wirkstoff bekommen hatten, können sie nicht wissen, oft wissen das in Studien nicht einmal die Behandelnden. In Erwartung der Symptome treffen diese in einigen Fällen dann auch tatsächlich ein. Dabei ist der verspürte Schwindel oder die Übelkeit keinesfalls Einbildung, die Betroffenen erleben das tatsächlich. Nur ist die Ursache eben nicht das Absetzen eines Arzneimittels.

Die Autorinnen und Autoren schlussfolgern daraus, dass etwa 15 Prozent tatsächlich unter Absetz-Symptomen von Antidepressiva leiden, also jeder sechste bis siebte. »Man muss sich aber fragen: Ist das ein Absetz-Symptom oder tritt die depressive Grundsymptomatik wieder auf. Das ist ein wichtiger Unterschied«, betont Erich Seifritz von der Universitätsklinik Zürich. Darauf kann die Studie von Baethge und seinem Team keine Antwort geben. Trotzdem ist sie für Behandelnde wichtig. »Die Studie hilft uns sehr«, sagt Katharina Domschke. »Zum einen bestätigt sie unsere langjährigen klinischen Erfahrungen. Zum anderen hilft sie uns bei der Aufklärung der Patientinnen und Patienten. Denn das Positive ist: Die meisten können Antidepressiva problemlos absetzen und schwere Begleiterscheinungen sind sehr, sehr selten.«

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