Wasserstoff: Auf der Jagd nach dem Supermetall
Auf den ersten Blick ist Wasserstoff geradezu langweilig: Ein Proton, ein Elektron – das war's. Hinter der Einfachheit verbirgt sich jedoch beispiellose Vielfalt. Die Nummer eins im Periodensystem bildet Sterne, interstellare Gaswolken und Riesenplaneten, seine Atome stecken in fast allen wichtigen Verbindungen, von Wasser bis hin zu DNA.
Seinen vielleicht größten Trick aber hat Wasserstoff bisher nur auf dem Papier vollbracht. Drückt man ein Gas aus H-Molekülen stark genug zusammen, ordnen sich die Atome früher oder später in einem starren 3-D-Gitter an und bilden dadurch einen festen Körper. Durch diesen könnten sich Elektronen ungestört bewegen. Aus dem unscheinbaren Gas wäre damit ein elektrischer Leiter geworden.
So prestigereich wie die Kernfusion
So besagt es zumindest eine theoretische Arbeit aus dem Jahr 1935. Doch kann Wasserstoff auch in der Realität zum Metall werden? Manche Forscher halten die Frage für nobelpreiswürdig und sehen in ihr eines der wichtigsten Ziele der modernen Physik, gleich neben Jahrhundertprojekten wie der Kernfusion.
Kein Wunder: Vorhersagen zufolge könnte metallischer Wasserstoff Strom völlig verlustfrei übertragen (Physiker sprechen von Supraleitung), eventuell sogar bei Plusgraden, also weit oberhalb der bisherigen Temperaturgrenze. Dabei steht sogar die Möglichkeit im Raum, dass ein Metall aus purem Wasserstoff seine Form behalten könnte, wenn man die Atome einmal in die kompakte Anordnung gebracht hat. Finden Forscher also eine technische Möglichkeit, das Allerweltselement stark genug zusammenzudrücken, erschaffen sie damit unter Umständen eine Art Wundermaterial.
Da überrascht es wenig, dass mehrere Forschergruppen seit Jahren mit großem Eifer auf das prestigereiche Ziel hinarbeiten. Mehr als einmal verkündeten Teams dabei einen Durchbruch, so etwa 2012 und 2017. Doch bis heute hat keine dieser Behauptungen den kritischen Blick von Fachkollegen überstanden, im Gegenteil: Die sehr kompetitive Forscherszene steht seit längerem im Ruf, extrem kritisch mit den Ergebnissen konkurrierender Teams umzugehen.
Einem neuen Ergebnis eines Forschertrios um Paul Loubeyre vom französischen Kernforschungszentrum CEA könnte es nun anders ergehen. Die Fachleute zählen zu den führenden Gruppen auf dem Gebiet und präsentieren in der aktuellen Ausgabe von »Nature« neue Indizien für den heiß gesuchten Phasenzustand des Wasserstoffs. Nach Ansicht unbeteiligter Experten sind ihre Belege deutlich stichhaltiger als frühere Veröffentlichungen.
Selbst Diamant zersplittert bei den Experimenten
Um Wasserstoff in ein Metall zu verwandeln, ist großer technischer Aufwand nötig. Berechnungen zufolge muss man das Gas dazu mit hunderten Gigapascal zusammendrücken. Klingt beschaulich, entspricht aber dem Millionenfachen des auf der Erdoberfläche üblichen Luftdrucks und übersteigt selbst den Druck im Erdkern.
Einzig Diamantpressen können ein Material so stark komprimieren. Sie klemmen Proben zwischen zwei Stempeln ein und drücken diese anschließend mit mechanischer Kraft zusammen. Doch selbst Diamant stößt bei der Jagd nach metallischem Wasserstoff an seine Grenze: Oft zersplittert das ultraharte Material bei den Messungen.
Paul Loubeyre und seine beiden Kollegen haben die Technik daher nun verfeinert. Sie haben die Oberflächen der Pressen im Vorfeld der Experimente mit einem Hochleistungsstrahl aus Atomkernen ausgefräst und so eine tellerförmige Vertiefung geschaffen. Sie kann ein Gaswölkchen von der Größe eines Staubkorns einschließen und mit bis zu 600 Gigapascal zusammendrücken.
Daneben haben die Forscher einen neuen Weg ausgetüftelt, um während des Experiments die Probe zu beobachten. In früheren Versuchen setzten Forscher hierzu auf Laser, die sichtbares Licht aussenden. Das Kalkül dahinter: Als Gas und Flüssigkeit ist Wasserstoff durchsichtig. Sobald er jedoch fest wird, lässt er keine Strahlung mehr hindurch. Kann Licht bei einem bestimmten Druck die Probe nicht mehr durchdringen, ist der Wasserstoff also zu einem Festkörper erstarrt.
Vom festen Körper zum leitenden Metall
Nun ist fester Wasserstoff allerdings noch nicht gleichbedeutend mit metallischem Wasserstoff. Schon länger ist bekannt, dass das Element mehrere feste Formen annehmen kann, die keinerlei Strom leiten. Den einfachsten dieser Zustände erhält man, wenn man Wasserstoff bei Atmosphärendruck auf minus 259 Grad Celsius abkühlt. Ein Metall bildet sich dagegen erst, wenn der äußere Druck 400 Gigapascal deutlich übersteigt.
»Wir werden von nun an immer überzeugendere Veröffentlichungen sehen, an deren Ende die ›Entdeckung‹ von metallischem Wasserstoff steht«
Graeme Ackland, University of Edinburgh
Bei so hohen Drücken versagt jedoch Licht als Analysewerkzeug: Oberhalb von 310 Gigapascal kann es wegen der Gesetze der Quantenphysik nicht mehr in die Probe eindringen. Auf Bildern erscheint diese dadurch als schwarzer Fleck. Folglich weiß man nicht mehr, was bei höheren Drücken im Inneren vor sich geht. Loubeyre und seine Kollegen nutzten daher nun das Infrarotlicht eines Synchrotron-Teilchenbeschleunigers bei Paris für ihre Tests. Diese Strahlung kann auch jenseits von 310 Gigapascal in festen Wasserstoff eindringen – nicht jedoch in ein Metall.
Und siehe da: Bis zu einem Druck von 425 Gigapascal blieb die stark abgekühlte Probe transparent, dann machte sie dicht. Das lasse sich am besten mit dem Einsetzen der metallischen Phase erklären, argumentieren die Wissenschaftler: Die Elektronen seien nur noch so lose an ihre Atomkerne gebunden, dass sie leicht zu Nachbarn springen können und dabei die Infrarotstrahlung abfangen. Spätestens ab 447 Gigapascal müssten die Elektronen demnach völlige Freiheit erlangen und den Wasserstoff in ein Metall verwandeln, schreibt das Team in seiner Veröffentlichung.
Die vielen Gesichter des Wasserstoffs
Ihre Ergebnisse haben die drei Franzosen bereits im Sommer 2019 auf einer Fachkonferenz vorgestellt, eine noch nicht begutachtete Version ihres Papers steht seitdem im Internet. Andere Arbeitsgruppen hatten also bereits viel Zeit, sich mit den Messungen zu beschäftigen – und fällen insgesamt ein positives Urteil. Serge Desgreniers von der University of Ottawa spricht in einem von »Nature« veröffentlichten Begleit-Kommentar etwa von einem »beinahe endgültigen« Beweis für die Existenz des besonderen Materials.
Etwas zurückhaltender äußern sich Experten auf Anfrage von »Spektrum.de«, beispielsweise Graeme Ackland von der University of Edinburgh. Er sieht die neue Messung als wichtigen Schritt, aber noch nicht als endgültigen Beleg: »Ich denke, wir werden von nun an immer überzeugendere Veröffentlichungen sehen, an deren Ende die ›Entdeckung‹ von metallischem Wasserstoff steht.«
Ackland überzeugt unter anderem, dass seine französischen Kollegen einen wichtigen Test durchgeführt haben: Zeitweise senkten sie den auf die Probe ausgeübten Druck etwas, woraufhin der Wasserstoff wieder transparent wurde. Insbesondere bei der Arbeit von Ranga Dias und Isaac Silvera aus dem Jahr 2017 habe dieser Schritt gefehlt, findet Ackland.
Dias und Silvera, die an der Harvard University forschen, hatten mit ihrem Ergebnis damals weltweit für Schlagzeilen gesorgt, auch dank geschickter Pressearbeit. Sie mussten aber im Nachgang harsche Kritik einstecken und ihr Paper an einigen Stellen korrigieren. Ob der nun erschienenen Veröffentlichung von Loubeyre und seinen Kollegen solch ein Schicksal erspart bleiben wird?
»Ich halte das Ergebnis für deutlich überzeugender als das 2017er Paper von Dias und Silvera«, findet Alexander Goncharov von der Carnegie Institution for Science. Gänzlich überzeugt ist er jedoch ebenfalls nicht: Er vermisse unter anderem weitere Messungen, aus denen klar hervorgeht, dass sich das stark zusammengedrückte Material wirklich wie ein Metall verhalte. So erwarte man unter anderem, dass die Probe Strahlung nicht nur absorbiere, sondern auch reflektiere, was die bisherigen Daten nicht hergäben.
Das ist nicht der einzige Test, der aus Sicht von Experten noch aussteht. Ein anderer betrifft die tatsächliche elektrische Leitfähigkeit der Probe, die nochmals schwerer zu messen ist. Diese Untersuchung sei aber definitiv nötig, um von einer Entdeckung zu reden, sagt Mikhail Eremets vom Mainzer Max-Planck-Institut für Chemie. Er und sein Team haben vergleichbare Messungen bereits 2019 veröffentlicht, kamen mit ihrer Diamantpresse dabei jedoch nur bis 360 Gigapascal.
Wasserstoff als Supraleiter?
Den Messdaten zufolge bildete sich dabei ein Gitter aus H-Molekülen und leitete Strom immerhin schon so gut wie ein Halbmetall. Letztlich könnte Wasserstoff bei den richtigen Bedingungen auch in dieser molekularen Form zu einem vollwertigen Metall und sogar einem Supraleiter werden, sagt Eremets. Das ultimative Ziel der meisten Forscher ist aber ein »atomares« Wasserstoffmetall, in dem sich die Moleküle aufgelöst haben – und nur noch einzelne Atome auf den Gitterplätzen sitzen.
Wie genau eine Messung aussehen muss, deren Daten alle skeptischen Konkurrenten überzeugt, ist derweil noch offen. Isaac Silvera und Ranga Dias, die Stars des Jahres 2017, halten zum Beispiel wenig von den nun veröffentlichen Ergebnissen. Das Aufsehen darum sei »viel Lärm um nichts«, beschwerten sich die Harvard-Forscher bereits im Sommer 2019 in einem Onlineaufsatz. Die spektakulären Daten ließen sich am ehesten mit einer Verunreinigung der Probe erklären. Ihre eigenen Messungen hätten selbstredend nicht mit solchen Problemen zu kämpfen.
Paul Loubeyre, der Autor der aktuellen »Nature«-Studie, gibt sich gegenüber »Spektrum.de« dagegen eher bescheiden: Nein, er und seine Kollegen hätten noch keinen definitiven Nachweis für metallischen Wasserstoff erbracht, sondern lediglich ein starkes Indiz. »Andere Gruppen, die Experten für die Messung der elektrischen Leitfähigkeit sind, werden nun mit Diamantpressen unseres Designs sicherlich weitere Tests durchführen.«
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