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News: Auf der Spur des Originals

Lehrer kennen das Problem: Nach jeder Klassenarbeit stehen sie vor der Frage, wer da eigentlich von wem abgeschrieben hat. Sie lösen das Rätsel häufig durch eine manchmal recht willkürliche Einschätzung der Leistungen ihrer Schüler. Dieses Verfahren steht Literaturwissenschaftlern im allgemeinen nicht zur Verfügung. Vor allem dann nicht, wenn sie wissen wollen, welche der vielen Abschriften eines alten Textes dem Original am nächsten kommt. In ihrer Not erhalten sie Hilfe von gänzlich unerwarteter Seite: Biologen haben ähnliche Schwierigkeiten beim Erstellen von Stammbäumen überwunden.
Die Canterbury Tales sind ein Klassiker der frühen modernen englischen Literatur. Geschrieben hat sie im 14. Jahrhundert der Dichter Geoffrey Chaucer, der in ihnen die Abenteuer einer Gruppe von Pilgern auf dem Weg nach Canterbury beschreibt. Man möchte annehmen, der Ursprung eines so bedeutenden Werkes sei seit Jahrhunderten geklärt, doch das ist keineswegs so: Ein Bericht in Nature vom 27. August 1998 zeigt, wie 600 Jahre nach Niederlegung der Erzählungen die Computer des 20. Jahrhunderts den Weg zu einer radikalen Neubewertung von Chaucers Werk bereiten.

Bis zur Erfindung des Buchdruckes wurden Manuskripte per Hand kopiert, eines nach dem anderen. Natürlich unterliefen den Schreibern Fehler, und diese schrieben andere Kopisten dann später ab. Dadurch sehen sich die Gelehrten später nicht etwa einem einzigen Text gegenüber, sondern Dutzenden verschiedener Manuskripte, die sich mehr oder weniger voneinander unterscheiden. Bei dieser Auswahl müssen die Wissenschaftler entscheiden, welche Version dem Originalkonzept des Autors am nächsten kommt, wobei eine unbekannte Anzahl von Varianten und vielleicht sogar das Original selbst verloren sein können.

Von den Canterbury Tales haben annähernd 80 verschiedene Manuskriptversionen überlebt. Alleine von einem einzelnen Teil der Erzählungen, dem sogenannten Wife of Bath's Prologue existieren 58 unterschiedliche Fassungen. Christopher J. Howe von der University of Cambridge in Großbritannien und seine Kollegen haben diese Varianten des Prologs studiert.

Die Forscher verwandten herkömmliche Techniken der Textanalyse, die sie mit leistungsstarken Computerprogrammen kombinierten, welche Evolutionsbiologen normalerweise routinemäßig zur Rekonstruktion von Stammbäumen benutzen. DIe Software vergleicht die Ähnlichkeiten und Unterschiede der heute lebenden Organismen. Diese Computerprogramme werden benutzt, um die Evolutionsgeschichte nahezu aller Lebewesen zu erforschen – von Vögeln bis zu Bakterien, von BSE-Prionen bis hin zu den Formen des HIV-1. Die Evolution des Lebens und die von Texten haben vieles gemein. In beiden Fällen geht es um geschichtliche Wechselbeziehungen, die auf den Abfolgen von Vor- und Nachfahren beruhen. Prinzipiell müßte man eigentlich die bei der Textanalyse genutzten Methoden auch beim Studium der Evolution anwenden können und umgekehrt. Literatur- und Biologiestudenten treffen sich jedoch kaum, und noch seltener vergleichen sie ihre Aufzeichnungen. Daher haben sich die beiden wissenschaftlichen Traditionen isoliert voneinander entwickelt.

Bei der Textanalyse verwendet man eine als 'Stemmatik' bezeichnete Methode, um das Muster gleicher Fehler in verschiedenen Varianten ein und desselben Textes zu untersuchen. Dabei entsteht eine Art 'Familienstammbaum' von Texten, die man als Stemmata [Singular: Stemma] bezeichnet. Anhand dieses Verästelungsmusters läßt sich zum Beispiel herausfinden, welche Variante von zwei möglichen Fassungen mit einer dritten Variante enger 'verwandt' ist. Durch diese Art Untersuchung können die Forscher schließlich die "Abschreib-Geschichte" einer jeden Variante erfahren. Sie können sogar viele Schlüsse über das Original ziehen, den 'gemeinsamen Vorfahren' aller Varianten, und das sogar, wenn das Original verloren ist. Die tabellarische Erfassung der jeweiligen Veränderungen wird manuell durchgeführt. Dies ist natürlich eine arbeitsintensive Aufgabe, die zudem schwer zu erledigen ist, sobald die Textlänge über einige Dutzend Zeilen hinausgeht oder wenn es viele unterschiedliche Varianten gibt.

Die Evolutionsbiologen nutzen eine ähnliche Methode, die als Kladistik bezeichnet wird und von dem Entomologen Willi Hennig bereits 1950 im früheren Ostdeutschland entwickelt wurde. Hennig wollte damals eine Möglichkeit zur Feststellung evolutionärer Stammbäume ersinnen, die streng auf jenen Eigenschaften basierten, die die Tiere aufgrund ihrer Evolutionsgeschichte – also ihrer gemeinsamen Vorfahren – hatten, und nicht auf oberflächlichen Ähnlichkeiten. Beim Hennigschen Darstellungssystem entstehen verästelte Diagramme, sogenannte 'Kladogramme', die den oben erwähnten Stemmata in vielerlei Hinsicht ähneln. Sie sind – genau wie die Stemmata – keine Ahnentafeln, sondern zusammenfassende Darstellungen der Ähnlichkeiten, mit denen man zu Schlußfolgerungen darüber gelangt, wie ein gemeinsamer Vorfahr der beiden Organismen (Texte) ausgesehen haben könnte.

Genau wie die Stemmata wurden Kladogramme ursprünglich manuell hergestellt, doch ist dies, ebenfalls wie bei den Stemmata, äußerst unpraktisch, wenn die Beziehungen vieler Organismen, die eine große Anzahl von Gemeinsamkeiten haben, untersucht werden sollen. Heute erzeugt man Kladogramme mittels Computerprogrammen, um die riesigen Zahlenmengen zu verarbeiten.

Auch Howe und seinen Kollegen nutzten Computerprogramme, die normalerweise verwendet werden, um die evolutionären Beziehungen zwischen lebenden Organismen zu erkunden. Sie haben damit allerdings die Ähnlichkeiten und Unterschiede eines aus 850 Zeilen bestehenden Segmentes aller 58 noch vorhandenen Versionen des Wife Of Bath's Prologue analysiert. "Die riesige Informationsmenge in einer Tradition von der Größe der Canterbury Erzählungen bedeutet das Aus für jedes System der manuellen Analyse", erklären die Forscher.

Ihre Untersuchung zeigt, daß 33 Versionen des Prologs in fünf klar zu unterscheidende Klassen eingeteilt werden können. Das bedeutet, daß jeder dieser 33 Texte der evolutive Nachfahre von einem der fünf Vorfahren ist. Weitere 14 Texte ließen sich partout nicht einordnen, was vermuten läßt, daß es sich bei ihnen nicht um Kopien eines einzelnen Manuskripts handelt, sondern eher um Kompendien, die auf zwei oder mehr Kopien beruhen. Die verbleibenden elf Texte passen in keine Gruppe, doch scheinen sie alle engere Abweichungen von Chaucers Original zu sein und könnten deshalb wichtige Hinweise enthalten, wie Chaucers Originalversion aussah. "Die meisten wurden jedoch von den Gelehrten einfach ignoriert", sagen die Forscher. Ihre Meinung ist eindeutig: Diese bis dato vernachlässigten Manuskripte könnten wichtige Anhaltspunkte über Chaucers eigene Konzeption seiner Arbeit darstellen.

Allerdings unterscheiden sich alle diese elf Texte voneinander. Die neue Analyse legt nahe, daß Chaucers eigener Text des Wife of Bath's Prologue an sich keine fertige Version war, sondern lediglich ein Arbeitsentwurf, der "Chaucers eigene Aufzeichnungen von zu löschenden oder hinzuzufügenden Passagen sowie alternative Entwürfe von bestimmten Abschnitten" enthält. Diese wären dann von anderen kritiklos kopiert worden. "Mit der Zeit könnten diese Kenntnisse die Herausgeber dazu veranlassen, einen völlig anderen Text der Canterbury Erzählungen herzustellen", bemerken die Wissenschaftler.

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