News: Auf die Zahl gefühlt
Für Zahlen verwendet das Gehirn offenbar eine Art Zahlenstrahl – eine Linie, auf der die einzelnen Ziffern der Größe nach – wahrscheinlich von links nach rechts – fortlaufend angeordnet sind. Diese bildhafte Vorstellung legten Untersuchungen an Menschen und anderen Primaten nahe, wonach diese die größere von zwei Zahlen schneller und akkurater bestimmen konnten, je weiter deren numerische Distanz ist. Zudem reagierten die Versuchsteilnehmer auf kleinere Ziffern schneller mit der linken Hand, auf größere hingegen mit der rechten.
Marco Zorzi und seine Kollegen von der Università di Padova enthüllten jedoch nun, dass es sich bei diesem Vergleich um mehr als eine reine Metapher handelt. Die Forscher wählten neben vier gesunden Kontrollpersonen acht Teilnehmer mit einer rechtsseitigen Hirnverletzung aus, von denen wiederum vier am so genannten Neglect-Syndrom erkrankt waren. Dieses Krankheitsbild tritt oftmals bei Patienten auf, deren Scheitellappen in der rechten Gehirnhälfte infolge eines Schlaganfalls, eines Tumors oder einer Blutung geschädigt ist.
Basierend auf der Verletzung dieses Gehirnbereiches, der für die Raumwahrnehmung zuständig ist, leben die Betroffenen in einer Welt, in der die linke Hälfte, sogar die ihres eigenen Körpers, nicht länger existiert. Schon seit längerem ist bekannt, dass die Patienten auch Schwierigkeiten haben, den genauen Mittelpunkt einer Linie zu bestimmen, den sie meist zu weit rechts platzieren, bei sehr kurzen Linien hingegen nach links verrutschen. Die Forscher stellten sich nun die Frage, ob eine ähnliche Verzerrung bei den Erkrankten auftritt, wenn es gilt, eine Zahlenfolge zu halbieren.
Also präsentierten sie den Versuchspersonen jeweils zwei Zahlen, die ein bestimmtes Intervall markierten, wobei die Größe des Zahlenraumes variierte: Sie betrug entweder drei, fünf, sieben oder neun und umfasste nicht nur einstellige Ziffern, sondern auch Zahlen aus dem Zehner- und Zwanzigerbereich, beispielsweise 1-5; 11-15 oder 21-25. Die Teilnehmer sollten nun die Mitte dieses Intervalls bestimmen, ohne sie aber zu berechnen.
Bei zwei Patienten mit Neglect-Syndrom sowie allen Kontrollpersonen wiederholten die Wissenschaftler das Experiment, wobei sie dieselben Nummernpaare nun in umgekehrter Reihenfolge präsentierten, etwa 9-1. Und die Versuche fielen eindeutig aus: Während den Teilnehmern aus der Kontrollgruppe unabhängig von der Intervallgröße kaum Fehler unterliefen, zeigten die Patienten mit Neglect eine hohe Fehlerquote von bis zu 40 Prozent. Dabei beeinflusste die Größe des Zahlenintervalls entscheidend, welchen Mittelpunkt die Betroffenen wählten.
War der Ziffernraum klein, so verschoben sie die Mitte der Zahlenreihe nach links, beispielsweise war 10 das vermutete Zentrum im Intervall 11-13. Bei größeren Abständen, zum Beispiel 11-19, verlegten jene Personen den Mittelpunkt gewöhnlich nach rechts, indem sie ihn bei der Zahl 17 vermuteten. Dieses Phänomen verstärkte sich in Abhängigkeit von der Intervallgröße. Dasselbe Muster beobachteten die Forscher auch bei der Nennung der Zahlenwerte in umgekehrter Abfolge. Demzufolge ist die geistige Nummernfolge offenbar tatsächlich von links nach rechts aufsteigend orientiert.
Und tatsächlich war das Neglect-Syndrom ausschlaggebend für das schlechte Abschneiden dieser Teilnehmer, wie die Versuchsergebnisse einer gesunden Person enthüllten: Ihre Fehlerquote war zwar vergleichbar hoch, variierte jedoch unabhängig von der Intervallgröße, und die Verschiebungen waren nahezu gleichmäßig nach links und rechts verteilt. Offensichtlich fällt es den Patienten mit Neglect-Syndrom nicht nur schwer, eine physikalische Linie zu zerteilen, sondern auch eine Nummernfolge zu halbieren. Diese Parallele legt den Schluss nahe, dass die geistige Ziffernfolge nicht nur ein bildhafter Vergleich ist, sondern ihr tatsächlich eine räumliche Natur innewohnt.
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