News: Bruch im Rhythmus
Die passende Form für derlei Lyrik bildet dabei seit jeher der Hexameter, ein sechshebiges Versmaß, das vor den römischen Dichtern schon die Griechen über die Jahrhunderte hinweg verwendeten. Dabei handelt es sich im strengsten Fall bei allen sechs Versfüßen um so genannte Daktylen – lange betonte Silben, gefolgt von zwei kurzen, unbetonten. Nach gewissen Regeln ersetzten die Dichter jedoch Daktylen auch durch Spondeen – zwei lange, betonte Silben hintereinander. Auch besondere Betonungen für das Ende eines Verses und Zäsuren waren möglich.
Trotz all dieser Möglichkeiten befolgten die griechischen Dichter streng gewisse Regeln der Betonung. Die Römer hingegen variierten stets ein wenig, aber immer nur im für das Ohr noch gefälligen Maße – kurzum, die Werke von Vergil und seinen Kollegen waren vom Rhythmus her deutlich komplexer als beispielsweise die Ilias des Griechen Homer.
Vernachlässigt man einmal den Inhalt der antiken Werke, so bleibt lediglich ein Muster aus betonten und unbetonten Silben, die dann und wann von kurzen Pause durchsetzt sind. Ein derart abstrakte Aneinanderreihung ist wie geschaffen, um sie mit mathematischen Methoden der Informationstheorie zu untersuchen. Das dachten sich wohl auch Ricardo Mansilla und sein Kollege Edward Bush von der Universidad Nacional Autónoma de México in Mexico City, jedenfalls übersetzten die Forscher die ersten hundert Verse von Werken griechischer und römischer Dichter in ein trinäres System.
Aus einer langen Silbe wurde dabei eine Null, eine kurze wurde zur Eins und eine Zäsur kürzten die Forscher mit einer Zwei ab. So bleibt von dem eingangs zitierten ersten Vers der Aeneis nur noch die wenig ausdrucksstarke aber trotz allem aussagekräftige Zahlenreihe "0110110200101101" übrig. Mit Methoden der Informationstheorie lässt sich an ihr sehr gut ablesen, wann und in welchem Rhythmus Wiederholungen auftreten – etwa wie groß die durchschnittliche Entfernung zwischen zwei Zäsuren ist. So konnten Mansilla und Bush erstmals quantitativ die Unterschiede zwischen den Jahrhunderte alten Dichtungen erfassen, ohne dabei deren Inhalt zu berücksichtigen.
Wie sich zeigte, ergibt auch die mathematische Analyse ein komplexeres Rhythmus-Muster bei römischer Dichtung im Vergleich zu der griechischen. Und noch mehr ist möglich, so nähren die Ergebnisse auch die Diskussion um die Urheberschaft manch antiker Werke. Denn einige Gelehrte fragen sich, ob der Dichter Homer überhaupt lebte und wenn, ob er denn tatsächlich der Urheber der Ilias und Odyssee ist. Die Analyse von Mansilla und Bush zeigt zumindest, dass die Odyssee in einem freieren Rhythmus geschrieben ist, als die Ilias und damit eher den Werken des späteren Dichters Lukrez nahe steht.
Aus wessen Feder die Ilias und die Odyssee auch immer stammt, auch eine mathematische Methode wird dies nicht mit letzter Sicherheit klären können. Es stellt sich aber die Frage, warum sich die Dichtung von Griechen und Römern generell im Rhythmus derart unterscheidet. Dazu muss man wissen, dass die griechische Lyrik zunächst eher für den mündlichen Vortrag gedacht war und auch so überliefert wurde. Dank der strikten Einhaltung bestimmter Regeln ließen sich die Epen viel leichter im Gedächtnis behalten.
Noch haben Mansilla und Bush erst die ersten hundert Verse der alten Werke verglichen, in einer weiterführenden Arbeit möchten die Forscher aber jeweils die kompletten Dichtungen vergleichen. Wer weiß, welche Geheimnisse diese Analyse noch preisgibt?
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