News: Brudermord
Ein Schlaganfall unterbricht in einem Teil des Gehirns vorübergehend die Blutversorgung. Zellen, die deshalb nicht mehr mit Sauerstoff versorgt werden können, sterben rasch ab. Aber noch mehrere Stunden nach dem Schlaganfall kann sich der geschädigte Bereich weiter vergrößern und dabei Gehirnzellen abtöten, die weit außerhalb des Gebietes liegen, in dem die Blutversorgung ursprünglich unterbrochen war. Jetzt entdeckten Wissenschaftler, daß sterbende Zellen anscheinend ein Signal an ihre Nachbarn weitergeben, das den Zelltod auslöst. Dadurch gehen auch Zellen zugrunde, die von der ursprünglichen Schädigung verschont blieben.
Der Bereich des Gehirns, der letzten Endes von dem Schlaganfall betroffen ist, wird häufig nicht von Neuronen umgeben, sondern von Stützzellen, den Glia-Zellen oder Astrozyten. Das hat zu der Vermutung geführt, daß diese für die Ausbreitung der Schädigung verantwortlich sind. Allerdings sind Glia-Zellen weit weniger empfindlich gegenüber Sauerstoffmangel (Ischämie) als Neuronen – es blieb rätselhaft, wie sich die Verletzung ausbreitet.
Astrozyten sind unter anderem durch gap junctions miteinander verknüpft. Jede Zelle hat bis zu 30 000 dieser Proteinstrukturen, die das Innere einer Zelle direkt mit dem ihrer Nachbarn verbinden. Jane Lin vom New York Medical College und ihre Kollegen vermuteten, daß sich die Schädigung über diese Kontaktzonen ausbreitet. Jetzt haben die Wissenschaftler gezeigt, daß gap junctions ein "Todessignal" von sterbenden Zellen an benachbarte, unbeschädigte Zellen übertragen – ein Mechanismus, den sie bystander cell death nannten (Nature Neuroscience).
Die Forscher benutzten isolierte menschliche Glia-Zellen für ihre Laborversuche, in die sie das bcl2-Gen eingebracht hatten. Bc12 macht die Zellen resistent gegenüber dem Tod durch Stoffwechselschäden oder Sauerstoffmangel – wie auch die Astrozyten ursprünglich vor ischämischen Verletzungen nach einem Schlaganfall sicher sind. Als sie diese verletzungsresistenten Zellen jedoch befähigten, gap junctions mit ihren Nachbarn einzugehen und dann Zellen hinzufügten, die für Verletzungen durch Schlaganfälle empfänglicher waren (im Modellsystem jene ohne das bcl2- Gen), begannen die gesunden Zellen abzusterben.
Ihr Sterben wies alle Merkmale eines Prozesses auf, den man unter dem Begriff Apoptose kennt. Diese wird gewöhnlich als Selbstmordprogramm einer Zelle angesehen – das würdevolle Ableben einer einzelnen Zelle, die stirbt, um ihre Nachbarn zu schützen. In diesem Fall jedoch scheint Apoptose ansteckend zu sein, wobei jede sterbende Zelle ein "Todessignal" an ihre Nachbarn weitergibt.
Nach einem Schlaganfall könnte derselbe Prozeß von sterbenden Neuronen ausgelöst werden, die durch Sauerstoffmangel geschädigt wurden. "Erstickte" Neuronen sterben meist durch Nekrose – das Ergebnis irreversibler äußerer Beschädigung. Der nekrotische Tod breitet sich so weit aus, aber wenn die Neuronen absterben, könnten sie den Apoptose-signalisierenden Prozeß in den benachbarten Astrozyten auslösen.
Das Todessignal ist anscheinend Calcium. Astrozyten kommunizieren normalerweise untereinander und mit Neuronen, indem sie Calciumionen durch ihre gap junctions weiterleiten. Hohe Calciumkonzentrationen sind charakteristisch für apoptotische Zellen. Um den Prozeß zu starten, setzen sterbende Neuronen wahrscheinlich ebenfalls Calcium frei.
Der gliale "Brudermord" könnte für die sekundäre Ausbreitung der Gehirnschädigung bei einer cerebralen Ischämie verantwortlich sein, erklären die Forscher. Sie vermuten, daß es eine wertvolle Strategie zur Vermeidung dieser sekundären Ausbreitung sein könnte, die Kommunikation der Glia-Zellen untereinander durch eine Blockade ihrer gap junctions zu verhindern.
Siehe auch
- Spektrum Ticker vom 15.9.1998
"Tödliches Calcium"
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