Umwelt: Das Jahr ohne Winter
Wo ist eigentlich der Winter geblieben? Diese Frage, vielleicht gepaart mit einer gewissen Sehnsucht, werden sich derzeit viele Menschen stellen. Bislang jedenfalls ist der Kalender das einzig verlässliche Anzeichen dafür, dass draußen wirklich diese Jahreszeit herrscht. Sonst erinnert nichts an den Winter, wie man ihn kannte: kaum Schnee, kaum Frost, kaum Frösteln – höchstens in den Bergen. Und vielleicht ist dies der richtige Zeitpunkt, um in dieser vernunftgeleiteten Wissenschaftswelt einmal persönlich zu werden: Winter, du fehlst.
Und auch die Fakten lassen keinen Zweifel: Dieser Winter 2019/20 ist bisher in ganz Europa ein Totalausfall. Der wärmste Januar seit Messbeginn liegt hinter uns, teilt der Copernicus-Klimadienst der Europäischen Union mit, und zwar um satte drei Grad im Vergleich zum langjährigen Mittelwert. In manchen Regionen betrug die Abweichung sogar mehr als sechs Grad. Hotspot der außergewöhnlichen Temperaturen sind ausgerechnet die Gebiete, die zu dieser Jahreszeit normalerweise tief verschneit sind.
Von Norwegen bis weit nach Russland herrschte im Januar wochenlang vorfrühlingshaftes Wetter. In Stockholm, Helsinki, Berlin und Kopenhagen schneite es nicht ein einziges Mal, in Moskau stieg die Durchschnittstemperatur des Januars erstmals über den Gefrierpunkt – und selbst östlich des Urals fiel der Januar ungewöhnlich warm aus. Doch nicht nur die Russen tauen auf, auch in Japan und Nordamerika muss man Schnee und Frost suchen; der einzig verlässliche Kältepol in diesem Winter ist Alaska.
Es bleibt mild
Die Frage, die viele Menschen außerhalb Alaskas bewegt, lautet nun: Kommt er vielleicht doch noch, dieser Winter? Und was richtet die Wärme in der Natur an?
Die erste Frage lässt sich überraschend leicht beantworten, die zweite Frage ist kniffliger. Was richtiges Winterwetter betrifft, wird man sich in Mitteleuropa weiter gedulden müssen; die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass richtige Kälte diesen Monat noch nach Deutschland weht. Die Wetterlage hat sich zu Februarbeginn zwar umgestellt, statt sonnig-trockenem Vorfrühlingswetter regnet es hin und wieder. Allerdings ist es mild geblieben, mit fast 20 Grad Anfang der Woche im Süden. Und mild geht es auch weiter – wahrscheinlich sogar bis Monatsende. Die nun anstehende Sturmwoche setzt den Warmlufttransport auf den Kontinent zunächst weiter fort. »Für nachhaltiges Winterwetter gibt es nur wenig Chancen«, sagt DWD-Meteorologe Adrian Leyser. Und dann ist ja auch bald schon März.
Für die Landwirtschaft sind diese unwinterlichen Aussichten zunächst kein Problem, versichert Agrarmeteorologe Falk Böttcher vom Deutschen Wetterdienst. »Trotz der milden Witterung sorgen doch die teilweise frostigen Nächte noch für weitgehende Vegetationsruhe, so dass derzeit keine negativen Folgen erwartet werden müssen«, sagt er. Dies könnte sich allerdings ändern, wenn die Natur erwacht. Schadpilze und tierische Schädlinge könnten dann rascher gedeihen als sonst, sagt Böttcher, deshalb sollten die Bauern frühzeitig und möglicherweise früher als üblich Pflanzenschutzmittel einsetzen.
Die große Gefahr für die Landwirtschaft sehen die Fachleute aber weniger in milden Wintern, sondern in knackigen Spätfrösten. Ein heftiger Kälterückfall verwandelte im April 2017 viele Triebe in Matsch. Scheinbar nichts Ungewöhnliches eigentlich – mit solchen Wetterkapriolen schlagen sich die Bauern seit Jahrhunderten herum. Jetzt verschlimmert aber ausgerechnet die Erderwärmung das Problem noch: Der Frühling wird wärmer, die Bäume schlagen zeitiger aus. Doch da späte Frostperioden auch in Zeiten des Klimawandels nicht ausbleiben, steigt das Risiko eines großflächigen Blütenmassakers. Falk Böttcher sieht allerdings nicht nur Obstbäume bedroht, auch der Ackerbau ist von Spätfrösten betroffen, vor allem der Winterraps. Ob in diesem Frühjahr allerdings knackige Minusgrade auftreten, kann bislang wirklich niemand sagen.
Erderwärmung macht Fröste schlimmer
Dass Spätfröste zu den größten Gefahren für Kulturpflanzen gehören, dieser Ansicht ist auch Stefanie Hahn. Dennoch möchte sich die Pressesprecherin vom Julius-Kühn-Institut in Braunschweig, dem Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen, mit pauschalen Aussagen über milde Winter zurückhalten. Die Entwicklung der Pflanzen sei von zu vielen Einflüssen abhängig, als dass man sie bereits alle absehen könnte, erörtert sie. Dafür gebe es einfach zu große regionale Unterschiede, zu verschiedene Fruchtfolgen, zu unterschiedliche Pflanzenschutzmittel und zu individuelle Handlungsmuster der Bauern. Außerdem kämen noch die Launen des Wetters hinzu, die den Blick in die Zukunft unmöglich machten, meint sie.
Eines allerdings kann sie mit Sicherheit sagen: Das Verbot von immer mehr Pflanzenschutzmitteln in den vergangenen 20 Jahren mache es den Landwirten immer schwerer, sich auf neue Probleme einzustellen. »Die Bauern stoßen an ihre Grenzen«, sagt sie. Ihre Unzufriedenheit haben sie in den vergangenen Monaten jedenfalls gleich mehrfach zur Schau gestellt. So dürfen bestimmte Neonicotinoide seit einiger Zeit gegen Schädlinge nicht mehr eingesetzt werden. Sie sind hochwirksam, aber genauso umstritten.
Und dann kommen weitere Probleme hinzu: Bei den Pyrethroiden, einem synthetischen Insektizid, das in der Schädlingsbekämpfung eingesetzt wird, tauchten immer mehr Resistenzen auf, sagt Stefanie Hahn. Problematisch sei das vor allem beim Raps, bei dem diese Mittel unter anderem eingesetzt werden. Zudem zeige auch das ökologische Vorbild der Pyrethrine, die aus Chrysanthemenarten gewonnen werden, nicht immer die gewünschte Wirkung.
Zwei mögliche Probleme des milden Winters lassen aber auch Stefanie Hahn nicht kalt. Gartenverbände befürchten eine Blattlausplage, weil die erwachsenen Tiere den milden Winter überleben könnten. Es bräuchte eine längere Frostperiode, damit die Läuse absterben. Den hat es in vielen Regionen bislang aber nicht gegeben.
Ebenfalls von einer Plage spricht der niedersächsische Landesbauernverband Landvolk. Im Fokus stehen aber nicht Läuse, sondern Feldmäuse. 150 000 Hektar Grünland seien in Niedersachsen bereits betroffen, teilt Pressesprecherin Gabi von der Brelie mit, auf jeder zweiten Wiese oder Weide seien Tausende von Mäusen. Auf diesen Flächen hätte die zu den Wühlmäusen gehörende Art bereits ein Totalschaden verursacht.
Gibt es keinen Regen, tanzen die Mäuse auf dem Tisch
Gras und Wurzeln seien vollständig abgefressen, eine solche Plage hätte es seit den 1980er Jahren nicht mehr gegeben, klagt der Bauernverband. »Es sieht auf diesen Standorten aus wie in einer Steppenlandschaft«, sagt von der Brelie. Gegen Massenvermehrungen helfen vor allem nasse Winter, wenn die Löcher mit Wasser volllaufen. Doch die Folgen des milden Winters spüren nach Auskunft von Landvolk auch die Ackerbauern. Wintergetreide und Winterraps seien ihrer Entwicklung aktuell bereits weit voraus, eine Wachstumsruhe durch Kältereize gab es in diesem Winter kaum. Die große Furcht der Bauern lautet daher: Kahlfrost, also strenger Frost ohne schützende Schneedecke.
Zur Plage der Mäuse beigetragen hat vor allem die Trockenheit der vergangenen beiden Jahre, davon ist Landvolk überzeugt. Die Dürre beschäftigt Landwirte, Forstwirte und Forschung bis heute, in vielen Landesteilen herrscht nach wie vor eine außergewöhnliche Dürre im Boden. »Trockenheit ist der größte Risikofaktor in der europäischen Landwirtschaft«, so das Ergebnis einer Studie von Heidi Webber vom Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF).
Akut ist die Situation weiterhin, in den Dürregebieten im Osten und Süden konnten daran auch die Starkregenfälle zu Wochenbeginn nichts ändern. »Die Pflanzen können nicht auf Bodenwasser in tieferen Schichten zurückgreifen, weil dort noch nicht wieder etwas oder nur sehr wenig ist«, sagt DWD-Agrarmeteorologe Falk Böttcher. Ändert sich daran nichts, wird die Lage noch kritischer als in den Vorjahren.
Ähnlich sieht das Markus Kautz von der Forstlichen Versuchsanstalt in Baden-Württemberg. Wie genau die Wasserversorgung der Bäume zu Beginn der Vegetationsperiode aussieht, könne man noch nicht abschließend sagen, da der Winter ja noch etwas andauere, sagt er. Allerdings rechnet der Experte für Waldumbau damit, dass die bereits in den Vorjahren trockengestressten Bäume auch weiterhin unter Trockenstress leiden werden. »Sollten Frühjahr und Sommer ebenso zu trocken werden, dann hätte das auf Grund der Mehrjährigkeit ein nochmals stark erhöhtes Schadpotenzial im Wald zur Folge«, sagt Kautz. Die Folgen wären fatal: Entweder sterben die Bäume in diesem Fall direkt ab – oder wären noch anfälliger für Schädlinge wie den Borkenkäfer.
Für das Insekt ist jedenfalls beides von Vorteil: Wärme und Trockenheit. Je milder der Winter verläuft, desto exponentieller der Anstieg der Population von Schadinsekten. So lautet jedenfalls die Theorie. Ein Aber gibt es jedoch, schränkt Kuntz ein: »Die Frage, ob milde und trockene Winter den Borkenkäfern eher nützen oder schaden, ist noch nicht hinreichend untersucht.«
Am Ende entscheiden Frühjahr und Sommer, ob sich Wald und Feld von den Wetterkapriolen der vergangenen beiden Jahre erholen können. Und dafür bräuchte es vor allem eines: anhaltenden und gleichmäßigen Regen.
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