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Boltzmann-Verteilung : Der negative Kelvin

Kann es Temperaturen geben, die unter dem absoluten Nullpunkt liegen? Zumindest in der Quantenwelt scheint dies möglich, auch wenn darüber heiß diskutiert wird - eine Nachbetrachtung.
Symbolbild für die umgekehrte Boltztmann-Verteilung

"Was ist Temperatur?", fragen nicht nur Kinder unbedarft neugierig ihre Eltern. Auch gestandene Journalisten und selbst Physiker kommen beim Versuch einer einfachen Erklärung schnell ins Stottern – vor allem wenn es um Temperaturen geht, die negativ sind und scheinbar unter dem absoluten Nullpunkt liegen. Vor wenigen Wochen machte eine Meldung die Runde, laut der genau dies einigen Münchner Forschern gelungen sei: Sie brachten so genannte ultrakalte Quantengase dazu, ein Verhalten zu zeigen, das negativen Temperaturen entspricht – was entsprechend kritische Reaktionen und Nachfragen nach sich zog. Vieles davon hängt auch mit der Definition von "Temperatur" zusammen.

Eine Möglichkeit, die Temperatur eines Körpers zu deuten, ist die Beschreibung, wie sich dessen Gesamtenergie auf seine Atome oder Moleküle verteilt. Im so genannten thermischen Gleichgewicht, bei dem es keinen effektiven Wärmefluss mehr zwischen dem Körper und seiner Umgebung gibt und zwischen beiden über die Zeit gemittelt also kein Energieaustausch mehr stattfindet, haben die meisten Atome oder Moleküle dann eine genau definierte Energie: Grob gesagt hat dann jedes Atom oder jedes Molekül die gleiche Dynamik. Die Wirklichkeit sieht aber anders aus. Die Energie eines Körpers verteilt sich nie exakt gleich auf seine Bestandteile. Einige Teilchen bekommen etwas mehr ab, andere weniger: Die Anzahl der Teilchen mit höherer Energie sinkt dabei exponentiell. Beschrieben wird dieses Phänomen durch die Maxwell-Boltzmann-Verteilung respektive durch die Boltzmann-Statistik, die sich in Reinform jedoch nur bei einem idealen Gas ausbildet.

Temperatur als Murmelspiel | Die Boltzmann-Verteilung gibt an, wie viele Teilchen welche Energie besitzen, und lässt sich mit Kugeln veranschaulichen, die in einer hügeligen Landschaft verteilt sind. Bei niedriger positiver Temperatur (linkes Bild), wie sie in unserem Alltag üblich ist, liegen die meisten Kugeln im Tal bei minimaler potenzieller Energie und bewegen sich kaum, haben also auch minimale Bewegungsenergie. Zustände mit niedriger Gesamtenergie sind also wahrscheinlicher als solche mit hoher Gesamtenergie – die übliche Boltzmann-Verteilung. Bei unendlicher Temperatur (mittleres Bild) verteilen sich die Kugeln in einer identischen Landschaft gleichmäßig über niedrige und hohe Energien. Alle Energiezustände sind hier gleich wahrscheinlich. Bei negativer Temperatur aber (rechtes Bild) bewegen sich die meisten Kugeln auf dem Hügel, an der oberen Grenze der potenziellen Energie. Auch ihre Bewegungsenergie ist maximal. Energiezustände mit hoher Gesamtenergie kommen also häufiger vor als solche mit niedriger Gesamtenergie – die Boltzmann-Verteilung ist umgekehrt.

Die Boltzmann-Statistik enthält einen negativen Exponenten, bei dem die Temperatur gemessen in Kelvin im Nenner eines Quotienten steht. Das hat zur Folge, dass sich bei zunehmender Temperatur die Maxwell-Boltzmann-Verteilung immer weiter verbreitert und – rein hypothetisch – bei unendlich hoher Temperatur die Wahrscheinlichkeit konstant ist, Teilchen einer gewissen Energie zu finden: Überall im Raum haben die Teilchen dann die gleiche Energie. Bei unendlich hoher Temperatur ist zudem gleichzeitig die Entropie des Körpers maximal. Diese physikalische Größe ist bildlich gesprochen ein Maß für die Ordnung – oder besser gesagt Unordnung – eines Systems: Führt man diesem Energie zu, erhöht sich in der Regel dessen Entropie und damit seine Temperatur.

Spiegelung der Energieverteilung

Das ist die "normale" Welt, so wie wir sie kennen. Deswegen hat man die Definition der Temperatur in Anlehnung an die Entropie respektive an die Energieverteilung der Atome oder Moleküle nach der Boltzmann-Statistik vorgenommen. "Was aber, wenn ich die Energieverteilung nun spiegele und sozusagen auf den Kopf stelle?", fragten sich Physiker vom Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching und der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Um ein System zu erzeugen, bei dem die meisten Teilchen eine maximale Energie besitzen und die Wahrscheinlichkeit, Teilchen mit geringerer Energie zu finden, gemäß der Boltzmann-Statistik abnimmt, müssten die Forscher nach klassischer Logik die Temperatur des Systems bildlich gesprochen aber "über unendlich" hinaus steigern.

Um ihre Idee zu verwirklichen, mussten die Experimentatoren den Teilchen deswegen eine Obergrenze für deren Maximalenergie vorgeben. Dazu haben die bayerischen Physiker mit ultrakalten Atomen experimentiert und sie mit Lasern und Elektromagneten traktiert: In einem Ultrahochvakuum hielten die Experimentatoren dazu rund 100 000 Kaliumatome in einer Atomfalle gefangen und kühlten sie auf eine Temperatur von wenige milliardstel Kelvin. So entstand ein so genanntes Bose-Einstein-Kondensat. Das ist eine Art gasförmiger, quantenmechanisch erklärbarer Materiezustand, bei dem alle Teilchen, aus dem es besteht, genau die gleichen physikalischen Eigenschaften besitzen.

Dieses Wölkchen würde normalerweise mit der Zeit auseinanderdriften, denn die Kaliumatome stoßen sich von Natur aus ab. Das verhinderten die Experimentatoren mit einer Kombination aus Magneten, elektrischen Feldern sowie einem dreidimensionalen optischen Gitter aus gekreuzten Laserstrahlen. Die elektromagnetischen Felder der Laser erzeugen eine regelmäßige Struktur, deren Periodizität und Tiefe die Forscher nach Wunsch variieren konnten. Mit den elektrischen Feldern der Atomfalle konnten die Wissenschaftler diese Struktur zudem nach "unten" oder "oben" verbiegen, so dass über das gesamte Raumgebiet entweder ein großes "Tal" entstand, was eine anziehende Wechselwirkung bedeutet, oder ein "Berg", was einer abstoßenden Wechselwirkung entspräche. Mit dem Magnetfeld konnten die Forscher um Ulrich Schneider ferner einstellen, ob sich die Kaliumatome ganz natürlich abstoßen oder doch anziehen. Dass sich die Wechselwirkung zwischen Atomen in einem optischen Gitter mit Hilfe eines Magnetfelds einstellen lässt, ist eine Besonderheit quantenmechanischer Objekte, die österreichische Physiker bereits vor einigen Jahren herausgefunden haben.

Die bayerischen Wissenschaftler justierten die Laser nun so, dass sich in der Atomfalle zwei Energieniveaus ausbilden, ähnlich wie in einem Halbleiter. Zudem brachten die Forscher die Atome dazu, sich vorzugsweise im höherenergetischen Band zu sammeln. Damit war deren kinetische Energie maximal. Die potenzielle Energie der Atome "drehten" die Wissenschaftler hoch, indem sie das elektrische Feld der Atomfalle zu einem Potenzialberg formten. Um zu verhindern, dass die Teilchen dabei auseinanderlaufen, stellten die Forscher das externe Magnetfeld nun so ein, dass sich die Kaliumatome anzogen. Die Kaliumatome erhielten so maximal hohe Energien, wobei die Energieverteilung im oberen "Leitungsband" einer gespiegelten Boltzmann-Kurve entsprach. Das System lässt sich daher so beschreiben, als hätte es eine negative Temperatur, wenngleich auch nur von einigen wenigen milliardstel Kelvin.

Kein Perpetuum mobile

Bei Systemen mit diskreten Energieniveaus sprechen Fachleute in diesem Zusammenhang übrigens von einer so genannten Besetzungsinversion. Die findet sich in jedem Laser. "Im Unterschied zum Laser ist unser System aber von sich aus stabil, während man beim Laser kontinuierlich Energie ins Medium pumpen muss", erläutert Ulrich Schneider vom Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching und der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

Heiße Minusgrade | Bei einer negativen absoluten Temperatur (rote Kugeln) kehrt sich die Energieverteilung von Teilchen im Vergleich zur positiven Temperatur (blaue Kugeln) um. Dann weisen viele Teilchen eine hohe und wenige eine niedrige Energie auf. Das entspricht einer Temperatur, die heißer ist als eine unendlich hohe Temperatur, bei der sich die Teilchen über alle Energien gleich verteilen. Experimentell ist eine negative Kelvin-Temperatur nur zu erreichen, wenn der Energie eine obere Grenze gesetzt wird, so wie stillstehende Teilchen eine untere Grenze für die Bewegungsenergie bei positiver Temperatur bilden – das haben Physiker der LMU sowie des Max-Planck-Instituts für Quantenoptik nun geschafft.

Weiter führen die Wissenschaftler aus, dass ein System negativer Temperatur bei thermischem Kontakt mit einem Stück "natürlicher" Materie mit positiven Kelvin-Temperaturen Wärme abgäbe. Nach thermodynamischer Definition gälte das System negativer Temperatur damit als "heißer" als jeder natürliche Stoff. Dass klingt zunächst paradox, ist aber ebenso eine Folge der historischen Definition der Temperatur. Und Schneider und Co beschreiben eine weitere verblüffende Konsequenz von Materie bei negativer absoluter Temperatur: Mit ihrer Hilfe könnte man Wärmekraftmaschinen bauen, deren Effizienz über 100 Prozent läge. Die Maschine könnte im Unterschied zum üblichen Fall nicht nur Energie aus einem heißen Medium ziehen und damit Arbeit verrichten, sondern auch aus einem kalten.

Damit ließe sich aber kein Perpetuum mobile bauen, versichert Schneider. "Das System kann selbstverständlich nur so viel Energie zur Verfügung stellen, wie in der kleinen Atomwolke steckt", sagt Schneider. Und die ist sehr begrenzt. Zudem mussten die Forscher zunächst sehr viel Energie dafür aufwenden, die verhältnismäßig wenigen Atome zu kühlen und gefangen zu halten. Und nach einigen hundert Millisekunden war der ganze Spuk ohnehin vorbei – wenngleich diese für quantenmechanische Phänomene verhältnismäßig lange Zeit die Wissenschaftler eher verwunderte. Eigentlich sollte die Atomwolke relativ schnell kollabieren. Die Forscher erklären deren Beständigkeit mit einer Art "negativem" Druck. Der könnte von ähnlicher Art sein wie jener im Weltall, spekulieren die Physiker. Dort sorgt er dafür, dass sich die Ausdehnung des Universums beschleunigt, obgleich die Schwerkraft genau das Gegenteil bewirken müsse.

Ob sich das Universum nun aber als ein zusammenhängendes Quantensystem mit negativer Temperatur beschreiben ließe, darüber ließen sich die Physiker nicht aus. Dazu bräuchte es wahrscheinlich noch weitere Experimente. In der Wunderwelt der Quantenteilchen scheint aber vieles möglich zu sein.

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