Merkwürdiger Meereswirbel: Doppelte »Zeitbombe« vor Alaska
Seit Jahren beobachten Fachleute die Beaufortsee, ein arktisches Meeresgebiet vor Alaska, mit Argwohn. In diesem abgelegenen Gebiet des Nordozeans schwellen, aufgepumpt durch den Klimawandel, zwei übereinander gestapelte Wasserkörper, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Der eine kalt und leicht, der andere warm und salzig. Ihre Wassermassen könnten nicht nur die Arktis schnell und dramatisch verändern, sondern sogar das Wetter in Deutschland.
Der Beaufort-Wirbel ist ein enormes Strömungssystem, das sich vor Alaska im Uhrzeigersinn im Kreis dreht. Seit man ihn beobachtet, zeigt er ein meist vorhersagbares Verhalten, dessen Auswirkungen bis vor die Küsten Europas reichen: Im Normalzustand sammelt sich dort eine kalte, leichte Wasserlinse an der Oberfläche, die Meereis über Jahre im Wirbel festhält, so dass es dicker und stabiler wird als Eis anderswo. Der Beaufort-Wirbel ist ein Reservoir für mehrjähriges, dickeres Eis. Die Linse deckt außerdem das wärmere Wasser darunter ab, weshalb die Arktis in diesem Zustand kalt und trocken ist. Gleichzeitig ist der Nordatlantik warm.
Alle fünf bis sieben Jahre jedoch kehrt sich der Zyklus um, und das im Beaufort-Wirbel gespeicherte kalte, leichte Wasser fließt in den Nordatlantik, verlangsamt den Zustrom warmen Wassers aus dem Golfstrom und kühlt so Europa ab. Gleichzeitig steigt das warme Tiefenwasser auf, und die Arktis wird wärmer und feuchter. Doch seit fast 15 Jahren verhält sich der Beaufort-Wirbel seltsam: Er dreht sich schneller und sammelt immer mehr salzarmes Wasser an. Schmelzendes Meereis und arktische Flüsse pumpten mehr als 8000 Kubikkilometer Süßwasser in die kalte Blase. Sie enthält, so berechneten Fachleute um den Ozeanografen Andrej Proschutinski von der Woods Hole Oceanic Institution vor einigen Jahren, mit etwa 23 000 Kubikkilometern so viel Wasser wie der Baikalsee.
Oben kalt, unten warm
Gleichzeitig sammelt sich unter der Kappe aus leichtem Wasser ungewöhnlich viel Wärme, wie sich jüngst bei Messungen erwies. Eine Arbeitsgruppe um Proschutinskis Kollegin Mary-Louise Timmermans berichtet in »Science Advances«, dass sich der Wärmegehalt des tiefen Wassers in den letzten Jahrzehnten verdoppelt hat. Die Messung stammt aus der benachbarten Tschuktschensee, dem Meeresgebiet nördlich der Beringstraße zwischen Alaska und Sibirien. Dieses Randmeer ist wegen des wärmeren Klimas im Sommer immer länger eisfrei und heizt sich, weil es sehr flach ist, durch die Sonne besonders stark auf – bis zu fünfmal so stark wie noch vor 30 Jahren. Das warme, salzige Wasser sinkt unter die Süßwasserkappe der Beaufortsee und pumpt das tiefe Wasser mit Wärmeenergie voll. Die zusätzliche Wärme würde, so sie denn an die Oberfläche gelangt, nach Angaben der Forscherin ausreichen, um das gesamte Meeresgebiet für die meiste Zeit des Jahres eisfrei zu halten – mit vermutlich dauerhaften Folgen für die gesamte Arktis.
Auch das kalte Wasser darüber hat, so vermutet Proschutinski, das Potenzial für reichlich Unruhe, allerdings nicht in der Arktis, sondern einige tausend Kilometer entfernt, im Nordatlantik. Dort nämlich floss das leichte, kalte Wasser aus der Beaufortsee hin, wenn sich die Strömung in der Vergangenheit umkehrte; und vermutlich wird das Wasser auch in Zukunft diesen Weg nehmen. Die derzeit im Beaufort-Wirbel gespeicherten Mengen süßen Wassers allerdings sind vermutlich ungleich größer als jemals im 20. Jahrhundert.
Kalte Winter in Europa?
Damit, so der Wissenschaftler, hätte ein solches Ereignis ganz erhebliche Folgen für das Wetter hier bei uns. Entlädt sich die Süßwasserlinse in den Nordatlantik, schneide sie Europa für einige Jahre von der tropischen Wärme des Golfstromsystems ab; eine Periode sehr kalter Winter wäre die Folge. Ein solches Ereignis habe es schon einmal gegeben, nämlich in den 1970er Jahren, als der Salzgehalt im Nordatlantik dramatisch absank. Fast die Hälfte aller extrem kalten Winter zwischen 1950 und 2010 seien in die Zeit dieser Anomalie gefallen. Die enorme Menge Süßwasser, die sich in den letzten anderthalb Jahrzehnten in der Beaufort-See angesammelt hat, sei deswegen »eine tickende Zeitbombe« für das Klima Europas, so Proschutinski 2014 auf einer Konferenz.
Das Gleiche sagt Mary-Louise Timmermans von jenen aufgeheizten Wassermassen, die direkt unter der Süßwasserlinse lauern – nur dass hier die Arktis im Fadenkreuz ist. Die beiden Fachleute sind sich sicher: Die beiden Wasserbomben werden früher oder später platzen. Die Wärme des tiefen Wassers gehe nicht weg und gelange zwangsläufig irgendwann an die Oberfläche, schreiben die Forscherin und ihr Team. Und Proschutinski zweifelt nicht daran, dass sich die bislang stabile Strömung in der Beaufortsee eines Tages wieder umkehren und einen Schwall Süßwasser in den Nordatlantik entlassen wird.
Was in der Arktis und den Anrainerstaaten des Nordatlantiks passiert, wenn die beiden ungleichen, angeschwollenen Blasen ihr angesammeltes Potenzial schließlich entladen, ist völlig unklar. Die Folgen in Europa würden zwar nicht aussehen wie der Katastrophenfilm »The Day After Tomorrow«, zitiert das Magazin »Yale Environment 360« der Yale University den NASA-Wissenschaftler Alek Petty, »aber Tatsache ist, dass wir es einfach nicht wissen.«
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