Wissenschaftsgeschichte: Ein schwarzer Tag
Ein großer Stapel aus pechschwarzen Graphitblöcken in einer verrußten Sporthalle, davor auf einem Balkon eine Gruppe Wissenschaftler: Wer sich als Uneingeweihter dem ersten Kernreaktor der Geschichte genähert hätte, hätte wohl kaum etwas Geschichtsträchtiges vermutet. Die scharfen Sicherheitskontrollen auf dem Gelände und die Namen der Beteiligten – unter ihnen die angesehenen Physiker Enrico Fermi, Leó Szilárd und Eugene Wigner – hätten wohl schon eher den Verdacht kriegswichtiger Anstrengungen geweckt.
Unter der Zuschauertribüne des Football-Stadions der Universität Chicago hatten Arbeiter im Herbst 1942 auf einem Squash-Feld einen schwarzen Kasten errichtet und insgesamt 360 Tonnen Graphit in vielen Lagen gestapelt. Eine dicke, schwarze Staubschicht überdeckte die gesamte Halle und ließ den Boden rutschig werden. Die Arbeiter hatten schwarze Hände und Gesichter wie Kumpel unter Tage. Holzlatten stabilisierten die ganze Konstruktion.
In Bohrungen der Graphitblöcke befanden sich 5,4 Tonnen reines Uranmetall und nochmals 45 Tonnen Uranoxid – genug Uran zur Erzeugung einer Kettenreaktion. Das Ganze war von einem riesigen Ballon umgeben, um die Luft im Reaktor durch Kohlendioxid ersetzen zu können. Die Goodyear Tire and Rubber Company hatte den ungewöhnlichen Ballon geliefert, ohne weitere Fragen zu stellen.
Der Name für die staubige Apparatur war denkbar schlicht: Chicago Pile-1, kurz CP-1. Pile bedeutet so viel wie Stapel oder Haufen. Seit die Konstruktion behutsam abgeschlossen worden war, galt es, erstmals eine nukleare Kettenreaktion anzuwerfen, indem man ganz langsam Kontrollstäbe aus Kadmium aus dem Reaktor zog. Kadmium ist ein hervorragender Neutronenfänger und unterbindet dadurch jegliche Kettenreaktion.
Hahn, Straßmann und Meitner
Die Idee von der Kettenreaktion und der Möglichkeit immenser Energiefreisetzung geisterte spätestens seit Anfang 1939 durch die weltweiten Physikerkreise. Der Radiochemiker Otto Hahn und sein Assistent Fritz Straßmann hatten am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin Uran mit Neutronen beschossen und dabei im Dezember 1938 Elemente entdeckt, die nur ungefähr halb so schwer waren. Hahns frühere Mitarbeiterin Lise Meitner war zu diesem Zeitpunkt bereits vor den Nazis nach Schweden geflohen. Dort gelang ihr zusammen mit ihrem Neffen Otto Frisch die theoretische Deutung des Spaltungsprozesses.
Die Versuche, Stoffe mit Teilchen zu beschießen, waren gar nicht so neu. Die Kernphysiker hatten seit Anfang der 1930er Jahre Erfahrungen damit, Alphateilchen (die Atomkerne des Heliums) oder auch Neutronen auf verschiedene Elemente zu feuern. Dabei gelangen ihnen verschiedene Stoffumwandlungen – der Traum der alten Alchemisten. Zur Energiefreisetzung taugte allerdings keine der Reaktionen von ihnen. Schießt man geladene Teilchen auf Atomkerne, zerplatzt zwar hin und wieder einer. Man benötigt aber eine Menge hochenergetischer Teilchen, um ab und zu einen Treffer zu erzielen.
Atomkerne sind winzig klein und positiv geladen, ebenso wie Alphateilchen. Die beiden stoßen sich enorm stark ab, so dass es nur selten zu Treffern kommt. Noch 1933 hielt Rutherford die Hoffnung, auf diese Weise Energie gewinnen zu können, für einen Irrglauben. Einstein verglich die Versuche gar damit, in einer dunklen Nacht auf seltene Vögel zu schießen.
Neutronen hingegen sind elektrisch neutral und können dadurch wesentlich leichter mit Atomkernen wechselwirken. Man ging jedoch davon aus, dass Neutronen sich an Atomkerne zwar anlagern, sie aber nicht spalten können. Bereits 1934 hatten Fermi und seine Mitarbeiter an der Universität La Sapienza in Rom hierzu wichtige Versuche durchgeführt und vermutlich auch Uranspaltungen ausgelöst, sie aber nicht als solche identifizieren können.
Reaktionsfreudige Neutronen verändern alles
Als 1939 die Nachricht von der Uranspaltung durch Otto Hahn um die Welt ging, horchten nun weltweit die Experten auf. Einem führenden deutschen Wissenschaftler – der nun ganz und gar kein Freund der Nazis war – war etwas gelungen, über dessen Möglichkeit vorher nur spekuliert werden konnte. Reaktionsfreudige Neutronen konnten Urankerne spalten und dabei enorme Energiemengen freisetzen.
Die Atombombe war nun zumindest denkbar – ebenso wie Kernreaktoren. Denn sowohl Atombomben als auch Kernreaktoren basieren auf demselben kernphysikalischen Prinzip, der Kettenreaktion. Bei der Spaltung eines Uran-Atomkerns werden einige Neutronen frei, die wiederum andere Urankerne spalten können. Dabei werden noch mehr Neutronen ausgestoßen, die noch mehr Urankerne spalten. Bei solchen Kernspaltungen wird über viele Größenordnungen mehr Energie frei als bei allen bekannten chemischen Prozessen.
Die Kunst beim Reaktorbau ist es nun, die Neutronenzahl auf einem gewissen Niveau konstant zu halten, so dass einerseits genügend Kernreaktionen stattfinden und andererseits der Reaktor nicht "durchgeht". Bei einer Atombombe hingegen muss die Kettenreaktion so schnell und vollständig wie möglich ablaufen, damit die Bombe sich nicht durch Überhitzung zerlegt, bevor sie ihre eigentliche Sprengkraft entfaltet.
Ein Brief schreibt Weltgeschichte
Die Furcht vor Hitler und seinen Schergen war nun nicht allein unter den jüdischen Emigranten in England und den USA so groß, dass sie ihre Regierungen zu geheimen Atomforschungsprogrammen drängten. Anfangs fanden sie noch wenig Gehör. Deshalb ergriff Leó Szilárd die Initiative und überzeugte Albert Einstein davon, im August 1939 einen Brief an den US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt zu verfassen, in dem sie ihn auf die Gefahren einer Atombombe und den – vermuteten – deutschen Vorsprung auf diesem Gebiet hinwiesen.
Szilárd war nicht nur ein brillanter Theoretiker, sondern besaß auch einen erstaunlichen politisch-gesellschaftlichen Weitblick: Es heißt, er habe beide Weltkriege und ihren Ausgang klar vorhergesagt. Er stammte aus einer jüdischen Familie aus Budapest und hatte in Berlin promoviert, wobei er Einsteins höchstes Lob erwarb, der damals dort lehrte.
Nach der Machtergreifung durch Hitler war Szilárd zunächst nach Wien, dann nach England und schließlich in die USA gegangen. Er hatte schon 1933 die Idee von einer nuklearen Kettenreaktion – und er begriff auch als Erster die harte Realität: Wer immer als Erster über die Bombe verfügte, hätte den Krieg gewonnen. Sollte dies Hitlers Mörderbande sein, würde kein Albtraum die kommenden Schrecken gebührend widerspiegeln.
Nachdem Einstein und Szilárd Roosevelt von der Notwendigkeit eines Atomprogramms überzeugen konnten, spielten Kosten keine Rolle mehr. General Leslie Groves erhielt die militärisch-organisatorische, der Kernphysiker Robert Oppenheimer die wissenschaftliche Führung über das Manhattan Project, wie das US-Atombombenprogramm getauft wurde.
27 Milliarden Dollar für die Atombombe
Innerhalb kürzester Zeit konzentrierten Groves und Oppenheimer sämtliche physikalische und chemische Forschung in zentralen Projekten und stampften für damals immense zwei Milliarden Dollar (27 Milliarden Dollar in heutiger Kaufkraft) insgeheim eine Atomindustrie aus dem Boden, die ähnlich groß war wie die Automobilindustrie zu dieser Zeit. Wie sich erst gegen Ende des Kriegs herausstellen sollte, lagen sowohl die deutschen als auch die japanischen Bemühungen um die Atombombe hoffnungslos zurück. Beide Kriegsgegner der USA schafften es nicht einmal, eine Kettenreaktion in einem kleinen Reaktor zum Laufen zu bringen.
Der Nachweis, dass eine nukleare Kettenreaktion nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Realität funktioniert, war beim Manhattan Project eine der schwierigsten Aufgaben. Sie oblag dem Team um Enrico Fermi, der wegen seiner jüdischen Frau 1938 aus Italien geflohen war, nachdem Mussolini sich immer stärker an Hitler angenähert und antisemitische Rassengesetze erlassen hatte.
Fermi war ein wissenschaftliches Multitalent. Er war sowohl als Experimentator wie auch als Theoretiker ein Meister seines Fachs und versetzte seine Kollegen immer wieder in Erstaunen, da er dank seines tiefen naturwissenschaftlichen Verständnisses häufig mit einfachsten Mitteln auch komplexe Prozesse blitzschnell und erstaunlich präzise beurteilen konnte. So extrapolierte er die Sprengkraft beim ersten Atombombentest in der Wüste von New Mexico anhand von Papierschnipseln, die er beim Einsetzen der Druckwelle zu Boden fallen ließ und die ein Stück weit weggeweht wurden.
Das Experiment startet
Am 2. Dezember 1942 um 9.54 Uhr startete schließlich das Experiment in Chicago. Auf dem Balkon vor dem haushohen Graphitklotz standen Fermi, Szilárd und einige Kollegen. Unten am Reaktor befand sich nur George Weil, dessen Aufgabe es war, den zentralen Kontrollstab per Hand millimeterweise herauszuziehen. Zunächst wurden elektrisch betriebene Kontrollstäbe herausgefahren, um 10.00 Uhr dann der zentrale Notstab. Dieser hing von oben über einer Öffnung an einem Seil über dem Reaktor.
Wäre irgendetwas schiefgelaufen, hätte ein Mitarbeiter das Seil mit einer Axt gekappt. Zwar hätte es ausreichen sollen, wenn Weil den zentralen Kontrollstab zurückgeschoben hätte, aber die Forscher wollten auf Nummer sicher gehen. Laut den Berechnungen von Fermi hätte kaum etwas schiefgehen können. Aber wenn Weil etwa beim Einsetzen der Kettenreaktion ohnmächtig geworden wäre, hätte es ein automatisches Notabschaltsystem gegeben.
Die zweite Sicherheitsmaßnahme war die Axt. Und als drittes Sicherheitssystem standen Mitarbeiter auf einer Plattform, die den Reaktor mit einer Kadmiumsalzlösung fluten sollten, wenn die Reaktion außer Kontrolle geriete – in der Summe eine erstaunliche Mischung von Notfallmaßnahmen, die in ihrer Diversität aber durchaus grundlegende Sicherheitsregeln der modernen Reaktortechnik vorwegnimmt.
Und rums!
Die Aktivität im Reaktor überwachten die Forscher mit Neutronenzählern. Deren sporadisches Klicken nahm über Stunden hinweg nur langsam zu, stieg dann aber immer schneller. Auf einmal machte es "rums" – und alle schreckten auf. Nach einem ängstlichen Augenblick stellte sich heraus, dass ein automatischer Kontrollstab zu vorsichtig eingestellt und in den Reaktor geknallt war. Die Gruppe atmete tief durch und machte sich auf zum Mittagessen.
Um 14 Uhr ging es weiter. Messungen, Berechnungen und millimeterweises Herausziehen des zentralen Kontrollstabs wechselten sich ab, bis sich schließlich gegen 15.25 Uhr das Klicken der Neutronenzähler in ein dauerhaftes Summen verwandelte. Fermi machte letzte Rechnungen und verkündete mit einem Lächeln: "Die Reaktion ist jetzt selbsterhaltend." Die Kritikalität war erreicht, also der Punkt, an dem jede Kernspaltung im Schnitt zu einer weiteren Kernspaltung führt.
Nach einer halben Stunde ordnete Fermi an, den zentralen Kontrollstab wieder einzuführen. Sofort hörte die Kettenreaktion auf. Die freigesetzte Leistung war nur minimal und erreichte lediglich ein halbes Watt. Bei späteren Versuchen mit diesem Reaktor wurden nie mehr als 200 Watt erreicht. Deshalb konnte CP-1 im Gegensatz zu späteren Reaktoren noch ohne Strahlungsabschirmung und ohne Kühlung laufen.
Wie Fermis Berechnungen ergeben hatten, wurden bei den Kernspaltungen sogar etwas mehr Neutronen freigesetzt als erwartet. Für die Reaktorbauer waren das sehr gute Nachrichten, denn das machte künftige Reaktordesigns wesentlich einfacher. Um Plutonium in nennenswerten Mengen produzieren zu können, benötigte man allerdings einen sehr viel größeren und stärkeren Reaktor, der nicht ein halbes Watt Leistung hatte, sondern viele Megawatt.
Der Weg zur Bombe
Denn ursprünglich dienten Kernreaktoren nur einem einzigen Zweck: Plutonium zum Bau von Atombomben zu erzeugen. Die Verwendung als Kraftwerk zur Stromproduktion kam erst deutlich später. Die Idee beim "Erbrüten" von Plutonium: Das seltene Uran-235 wird gespalten und setzt Neutronen frei. Einige Neutronen spalten weitere Uran-235-Kerne und halten die Kettenreaktion aufrecht. Andere Neutronen lagern sich an die stabileren und häufigeren Uran-238-Kerne an und verwandeln es schließlich in Plutonium-239.
Dieses ist noch besser spaltbar als Uran-235, ein hervorragender Bombenstoff und lässt sich wesentlich leichter in großen Mengen gewinnen. Denn man kann es chemisch aus abgebrannten Brennstäben extrahieren. Um eine Bombe aus Uran-235 zu bauen, muss man es in extrem aufwändigen Verfahren von dem sehr viel häufigeren und schlecht spaltbaren Uran-238 trennen. Hierzu benötigt man eine große Menge Uran, denn nur das in geringem Anteil in Natururan vorkommende Isotop Uran-235 ist spaltbar.
Der Schritt vom CP-1 zu einem großen Reaktor war natürlich enorm, weshalb sich die technische Leitung entschloss, zunächst einen mittelgroßen Experimentalreaktor zu bauen, der für den Dauerbetrieb ausgelegt war: den X-10. Dieser erreichte seine erste Kritikalität am 4. November 1943 und besaß nach einigen Modifikationen Mitte 1944 eine Leistung von vier Megawatt – genug, um hinreichend Plutonium für erste Laboruntersuchungen an diesem noch unbekannten Element zu erzeugen. Das Bombenplutonium lieferten dann sehr viel größere Reaktoren wie der "B Reactor" in Hanford und ähnliche mit über 200 Megawatt Leistung.
Auf diese Weise gewannen die USA während des Kriegs genug Plutonium für zwei Atombomben: Die "Fat Man" genannte Bombe von Nagasaki und die erste je gezündete Atombombe beim Trinity-Test. Die Bombe von Hiroshima mit Kodenamen "Little Boy" war hingegen eine Uran-235-Bombe, deren Spaltmaterial in Zentrifugen gewonnen wurde.
Insgesamt ging das Manhattan Project als gigantische wissenschaftlich-industrielle Kraftanstrengung in die Geschichte ein, an der mehr als 150 000 Menschen – und interessanterweise mehr Chemiker als Physiker – beteiligt waren. Der wichtigste Schritt auf dem Weg zur Bombe war aber nach Ansicht von Beteiligten das Kettenreaktionsexperiment in der staubigen Halle von Chicago. Fermis Experiment in Chicago war entscheidend für den Nachweis, dass eine kontrollierte Kettenreaktion technisch durchführbar war. Und es lieferte den ersten Messwert zur Rate der Neutronenvermehrung bei einer Kettenreaktion.
Ein nachdenklicher Toast
Unmittelbar nach dem historischen Test am 2. Dezember 1942 waren die Wissenschaftler in Chicago eher nachdenklich gestimmt. Sie waren stolz auf das Erreichte und froh, diesen historischen Erfolg erzielt zu haben. Eugene Wigner holte eine Flasche Chianti hervor, den die Wissenschaftler nach einem stillen Toast aus Pappbechern tranken. Crawford Greenewalt fasste die Stimmung kurz so zusammen: "Gott sei Dank ist diese Geschichte vorbei."
Leó Szilárd hingegen, der das Konzept der Kettenreaktion entwickelt und das Manhattan Project zusammen mit Einstein durch den Brief an Roosevelt überhaupt erst angestoßen hatte, fühlte sich gar nicht wohl. Er blieb noch lange auf dem Balkon stehen, bis fast alle gegangen waren. Dann wandte er sich an Fermi, drückte seine Hand und meinte, dieser Tag würde als "schwarzer Tag in die Geschichte der Menschheit" eingehen.
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