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News: Ein wahrer Glücksfall

Die geheimnisumwitterte Hochkultur der Maya fasziniert Menschen auf der ganzen Welt. Aus dem Dunkel der Geschichte tauchte sie plötzlich auf, beherrschte jahrhundertelang Mittelamerika und verschwand dann fast ebenso unerklärlich wieder von der Bildfläche. Hinterlassen hat sie uns gewaltige Tempel, die in den unzugänglichen Regenwäldern der schmalen Landbrücke aber nur schwer aufzuspüren sind. Da müssen Archäologen schon regelrecht über - oder eher in - diese Bauwerke fallen, um sie überhaupt zu finden. Manchmal haben sie das Glück und stoßen auf unwahrscheinlich gut erhaltene Zeugen der Vergangenheit.
Stellen Sie sich vor, Sie machen einen Spaziergang – und fallen plötzlich in ein Loch. Dann können Sie nur froh sein, wenn der Sturz glimpflich abläuft, vor allem, wenn Sie gerade im undurchdringlichen tropischen Regenwald unterwegs sind. Arthur Demarest von der Vanderbilt University dürfte den Schreck und die Kratzer aber schnell vergessen haben, als ihm aufging, was sich da unter seinen Füßen auftat: Auf seinem Erkundungsgang im Norden Guatemalas fiel er durch die Decke eines dreistöckigen Maya-Tempels aus dem 8. Jahrhundert, den Wissenschaftler seit fast hundert Jahren übersehen haben, weil er dicht mit Regenwald überwuchert ist.

Der verhältnismäßig unspektakuläre Sturz scheint aber ein regelrechter Glücksfall für Archäologen zu sein. Denn der Tempel ist unglaublich gut erhalten. "Seit der Jahrhundertwende hat niemand mehr etwas Vergleichbares gefunden", schwärmt Demarest. Mit über 170 Zimmern, die um elf Innenhöfe angeordnet sind, hat der Palast etwa dieselbe Größe wie der berühmte Tempelkomplex in Tikal. Wahrscheinlich ist die 25 Hektar große Anlage so gut erhalten, weil sie nicht – wie viele andere Maya-Tempel – aus Lehm und Mörtel gebaut wurde, sondern aus festem Kalkstein, der nicht zusammenbrach. Außerdem hatte ein früherer Herrscher etwa zwei Quadratkilometer des Umlandes mit Steinen pflastern lassen, was die ansässigen Bauern davon abhielt, dort Felder anzulegen. So verschwand das Gelände im Laufe der Zeit unter einen dichten Pflanzendecke, die es vor neugierigen Augen verbarg.

Dabei ist der Fundort unter Archäologen sehr wohl bekannt. Schon 1905 besuchten die ersten Wissenschaftler die entlegene Regenwaldregion und registrierten dort die Ruinen der ehemaligen Maya-Stadt Cancuén, was soviel bedeutet wie "Ort der Schlangen". Aus den Funden schlossen die Forscher jedoch, dass es sich um eine eher kleine Siedlung gehandelt hat – und spazierten dabei nur hundert Meter an der unter Erde und Pflanzen verborgenen Tempelanlage vorbei. Das weckte kein großes Interesse in der Fachwelt, und so nahmen erst in den 60er Jahren Studenten der Harvard University das Gelände noch einmal kurz genauer unter die Lupe. Damals entdeckten sie auch die ersten Anzeichen des Palastes, doch ihre Aufzeichnungen unterschätzten die Größe der Anlage weit und erfassten auch nur einen Ausschnitt des gesamten Komplexes.

Kein Wunder, sagt Demarest. Für ungeschulte Augen sieht der ganze Palast aus wie ein großer, mit Urwald bedeckter Hügel. Selbst Archäologen hielten die Strukturen vor allem für feste Plattformen, und auch Demarests Team entging die wahren Ausmaße in den ersten zwei Wochen ihres Aufenthaltes. Wie konnten sie auch ahnen, dass sich darunter dreistöckige Gebäude verbergen? Schließlich sind Maya-Tempel in dem Gebiet eher selten. Der Forscher vermutet, dass die Menschen damals die natürlichen Höhlen als Begräbnis- und Kultstätten nutzten.

Der Palast schlägt die Brücke zu einer anderen Ausgrabungsstätte in Guatemala, den Dos Pilas. Dort entdeckten Archäologen reichhaltige Überreste eines stark militärisch ausgerichteten Stadtstaat namens Petexbatum. In den gefundenen Schriften fanden sie Hinweise auf eine Hochzeit zwischen einem Prinzen der damaligen Herrscher und einer Prinzessin aus Cancuén. Ihr kleiner Palast in der Anlage von Dos Pilas gehörte zu den erlesensten Wohnstätten, dessen Kunstfertigkeit des Mauerwerkes anderen Gebäuden der Gegend weit überlegen war.

Diesselbe Handwerkskunst findet sich aber in Cancuén wieder. Und die erste Einschätzung, dass es sich um ein unbedeutendes Zentrum handeln würde, konnten die Ausgrabungen inzwischen deutlich widerlegen. In den besten Zeiten müssen dort Tausende von Menschen in einem Königtum gelebt haben, das vorwiegend vom Handel mit wertvollen Dingen wie Jadeschmuck, Obsidian für Klingen oder Pyrit für Spiegel lebte. Dementsprechend ist der Palast von den Hütten und Werkstätten der Kunsthandwerker umgeben. "Sogar den Arbeitern in Cancuén ging es sehr gut", berichtet Demarest. "Sie hatten Jadefüllungen in den Zähnen und wurden mit feinen Keramikfiguren mit wunderschönem Kopfschmuck beerdigt."

Das Herrschergeschlecht der Cancuén gehört zu den ältesten Dynastien der Maya, denn es bestand schon 300 v. Chr. Die Lage am Beginn des schiffbaren Abschnitts des Rio La Pasion ermöglichte es ihm, eine reiche Handelsmacht zu werden und im gesamten Einflussbereich Bündnisse mit anderen Kulturen einzugehen. Die Forscher nehmen daher an, dass die große Anzahl der Zimmer in dem Palast dazu diente, die sicherlich zahlreichen Gäste unterzubringen.

Demarest hofft, dass nicht nur die Wissenschaft von seinem spektakulären Fund profitiert, sondern auch die heutigen Einwohner der Gegend. Im Rahmen eines ökologischen verträglichen Tourismus könnten sie beispielsweise Führungen zu der Ausgrabungsstätte anbieten. Außerdem gehören die dortigen Waldbestände zu den letzten Tieflandregenwäldern in der südlichen Region des Péten, und sie bieten einen ungewöhnlichen Reichtum an gefährdeten tropischen Arten.

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