Nachthimmel: Fahndung nach den Lichtverschmutzern
Aus dem Weltraum sind die Spuren menschlicher Zivilisation gar nicht so einfach zu sehen – zumindest nicht auf der Tagseite unseres Planeten. Ganz anders bei Nacht: Da wirkt die Erde mit ihren hell erleuchten Städten, Dörfern und Straßen wie ein Ausflugsdampfer bei abendlicher Ausfahrt. Um intelligentes Leben auf einem anderen Planeten nachzuweisen, spekulierten Astronomen schon, könnte es genügen, mit leistungsfähigen Teleskopen nach deren nächtlichem Lichtermeer Ausschau zu halten. Vorausgesetzt, Aliens gehen mit Kunstlicht so verschwenderisch um wie wir.
Bei uns ist die tiefschwarze Nacht in Städten schon lange einem ständigen Dämmerlicht gewichen. Seit einigen Jahren gibt es auch handfeste Zahlen dazu: Ein 2016 unter Federführung von Fabio Falchi und Pierantonio Cinzano vom Istituto di Scienza e Tecnologia dell’Inquinamento Luminoso in Italien veröffentlichter »Weltatlas der Lichtverschmutzung« belegt, dass 80 Prozent der Weltbevölkerung unter einem künstlich aufgehellten Nachthimmel leben, in Europa und den USA sind es sogar 99 Prozent.
Wissenschaftler sehen darin ein Problem mit potenziell weitreichenden Folgen: »Die Nutzung des künstlichen Lichts ist einer der drastischsten Eingriffe in die Natur, die der Mensch je gemacht hat,« findet etwa Christopher Kyba vom Geoforschungszentrum Potsdam. »Wir fangen gerade erst an, die Auswirkungen von nächtlichem Kunstlicht auf Ökosysteme zu verstehen.«
Biorhythmus in Gefahr
Studien haben beispielsweise gezeigt, dass Licht das Verhalten nachtaktiver Insekten und Tiere verändern kann. Demnach unterdrückt die 24-Stunden-Beleuchtung die Produktion des Hormons Melatonin, das im menschlichen Körper als Antioxidant viele nützliche Funktionen übernimmt. In manchen Untersuchungen fanden Forscher sogar Hinweise auf einen möglichen Zusammenhang zwischen nächtlicher Lichtexposition und dem Auftraten bestimmter Krebsarten.
Doch schlecht installierte Lampen erzeugen nicht nur Lichtverschmutzung, die möglicherweise gesundheitliche Folgen hat. »Oft stört das Licht auch eher, als dass es nützt«, sagt Kyba. Entweder blenden Lampen, leuchten in die falsche Richtung, zur Seite oder nach oben, oder sind schlicht zu hell. Eine enorme Verschwendung von Ressourcen, findet der Physiker.
Auch Astronomen beschäftigt das Thema schon lange, sie bangen vor allem um den dunklen Himmel über ihren Observatorien. Sie fordern deshalb Maßnahmen gegen die Lichterflut. Diese wären an sich einfach umzusetzen: Licht nur dort, wo nötig, nur so viel, wie nötig, und wenn man es überhaupt nicht braucht: abschalten. Bisher finden die Himmelsbeobachter nur mancherorts Gehör. In vielen Ländern und Städten scheinen Lampen nach wie vor die ganze Nacht und sind obendrein meist zu hell.
Welche Quellen von Kunstlicht dabei das Gros der Verschmutzung absetzen, war lange unklar. Zusammen mit einem internationalen Team ist Kyba daher nun der Frage nachgegangen, mit einem bislang einzigartigen Experiment: Über zehn Nächte, vom 29. März bis zum 7. April 2019, ließen die Wissenschaftler die Straßenlampen in der Stadt Tucson im US-Bundesstaat Arizona gezielt heller und dunkler leuchten, um mit Hilfe eines Satelliten aus dem All ihren Anteil an den Lichtemissionen zu messen.
Eine US-Stadt als Modell
Tucson ist aus Sicht der Forscher ideal dafür: Der Himmel im Südwesten der USA ist oft klar, auch während der Messungen waren vier der zehn Nächte wolkenfrei. Vor allem aber hat die Stadt im Jahr 2017 ihre öffentliche Straßenbeleuchtung auf LED-Technologie umgestellt und mit einem »Smart-City«-Kontrollsystem kombiniert. Das erlaubt es, jede der über 19 000 Straßenlampen individuell zu dimmen, wovon die Stadt nachts auch Gebrauch macht. Das verleiht ihr Modellcharakter.
Schon länger ist klar, dass Straßenlampen einen wichtigen Anteil an den Kunstlichtemissionen tragen. Seit etwa zwei Jahrzehnten ist hier in vielen Ländern ein Technologieumbruch im Gange: Weg von Gasentladungslampen, hin zu energieeffizienten, weißen LEDs. Die Stromsparer sind bei Gegnern der Lichtverschmutzung allerdings nicht gerade beliebt, denn sie emittieren auch kurzwelliges, also blaues Licht. Es ist besonders schädlich für den Biorhythmus von Mensch und Natur und wird in der Atmosphäre stärker gestreut als kürzere Wellenlängen.
2016 prognostizierten Falchi und Cinzano in ihrem Lichtatlas eine drastische Zunahme der Himmelshelligkeit, wenn sämtliche Straßenlampen von orangefarbenen Natrium-Hochdruckdampfleuchten auf Weißlicht-LEDs umgerüstet würden. Doch wie groß ist der Anteil der Straßenbeleuchtung wirklich? Lange Zeit konnten sich Wissenschaftler hierzu lediglich auf eine ungenaue Studienlage berufen. Ältere Untersuchungen fanden Anteile zwischen 50 Prozent und 33 Prozent, andere lieferten so unterschiedliche Resultate wie mehr als 80 oder gerade einmal zwölf Prozent, Letzteres in der Stadt Flagstaff in Arizona.
Luftbildaufnahmen von Berlin ergaben derweil im Jahr 2012, dass 32 Prozent des Lichts, das direkt nach oben abgestrahlt wird, von Straßen und öffentlichen Plätzen stammt. Allerdings konnten die Forscher damals nicht zwischen Straßenlampen und beleuchteten Fassaden oder Autolichtern unterscheiden. Auch fanden viele der genannten Studien vor dem Umbau auf LED-Leuchten statt.
Sparbetrieb nach Mitternacht
Das Tucson-Experiment hatte diese Probleme nicht, was seine Resultate aus Sicht der Experten sehr bedeutsam macht. Normalerweise leuchten die meisten Straßenlampen der Stadt nach Einbruch der Dunkelheit mit 90 Prozent ihrer Maximalleistung und werden nach Mitternacht auf 60 Prozent gedimmt. Während des Experiments reduzierte die Stadt ihre Lichter stattdessen in einigen Nächten bis auf 30 Prozent, um sie in anderen mit der vollen Leuchtkraft strahlen zu lassen. Der Satellit fotografierte die Stadt jeweils einmal während dieser Nächte sowie während zweier weiterer, in denen die Stadt ihr normales Beleuchtungsschema fuhr. Aus der Differenz der gemessenen Helligkeiten ließ sich der Anteil der Straßenlampen abschätzen.
Sie steuern demnach während einer normalen Nacht nur ein Fünftel der Gesamthelligkeit bei. Rund 80 Prozent der gesamten im Weltraum messbaren Lichtemissionen stammen dagegen nicht von den Straßenlaternen, sondern von privaten Beleuchtungsanlagen: Beispielsweise Industrie- und Geschäftszentren, Fassadenbeleuchtungen, Parkplatzbeleuchtungen und Autolichtern. Aus Sicht des Forschungsteams zeigt das, dass eine gezielt gesteuerte LED-Beleuchtung wie Tucson die Lichtverschmutzung verringern kann.
Andererseits machen die vielen weiteren Quellen die Aufgabe, unnötige und schädliche Emissionen zu reduzieren, zu einer enormen Herausforderung. »Damit Maßnahmen effektiv und effizient sind, muss man zunächst herausfinden, wie groß der Beitrag jedes einzelnen Akteurs an der Gesamtemission ist,« sagt Kyba.
Werbereklame im Visier
Der Potsdamer Physiker vermutet, dass Werbebeleuchtung eine wichtige Rolle spielt. Beleuchtete Reklameschilder emittieren den Großteil ihres Lichts Richtung Horizont. »Leider ist das die problematischste Emissionsrichtung, weil dieses Licht zu fast 100 Prozent in der Atmosphäre gestreut wird und besonders stark zur Himmelsaufhellung beiträgt.«
Das wiederum führt zu einem Problem bei der Erforschung der Lichtverschmutzung vom Weltraum aus: Satelliten messen ausschließlich die Emissionen, die direkt nach oben gerichtet sind, im Falle der Straßenbeleuchtung also vor allem das vom Erdboden reflektierte Licht. Die Wissenschaftler um Kyba maßen daher zusätzlich zu den Satellitenbeobachtungen über Tucson auch vom Erdboden aus die Himmelshelligkeit über Tucson.
Die Ergebnisse bestätigen im Wesentlichen den Trend vergangener Studien. Bleibt die Frage, ob sie auf andere Städte übertragbar sind. In kleineren Orten und Dörfern, die weniger Nachtleben haben, dürfte der Anteil der Straßenbeleuchtung höher sein, vermutet Kyba. Das deckt sich mit Ergebnissen aus einem Zusatzexperiment, in dem die Forscher Satellitenbilder einiger Ortschaften um das thüringische Königsee auswerteten. Hier lag der Straßenlampenanteil an der Gesamtemission bei 28 bis 42 Prozent.
Ein vollständiges Bild wird man daher nur durch eine Bestandsaufnahme der installierten Beleuchtung am Erdboden erlangen – für eine Hand voll Wissenschaftler eine schier unlösbare Aufgabe. Deshalb arbeiten sie mit den DLR-Instituten für Planetenforschung und Datenwissenschaft sowie dem Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) zusammen, »Nachtlicht-BüHNE« heißt das Projekt. Darin will man eine App entwickeln, mit der Bürgerwissenschaftler erstmals eine Art Kataster der öffentlichen und privaten Beleuchtungsanlagen erstellen sollen.
Diese Information könnte helfen, die von den Satelliten beobachteten Lichtemissionen genauer zu verstehen – und zweifelsfrei zu ermitteln, wer die schlimmsten Lichtverschmutzer sind. Die Umrüstung der Straßenbeleuchtung auf Energie sparende LEDs, das zeigt die Tucson-Studie jedenfalls deutlich, löst das Problem der Lichtverschmutzung alleine nicht.
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