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Fluiddynamik: Geheimnisvolle Turbulenz

Ob Wirbelstürme, der Blutfluss in Arterien oder Wasserfälle: Wir sind von Turbulenzen umgeben. Und dennoch sind Forscher noch weit davon entfernt, das rätselhafte Phänomen zu verstehen. Jetzt könnte ein neues Laborverfahren den Durchbruch bringen.
Turbulenzen sind sowohl rechnerisch als auch experimentell schwer zu untersuchen.

Es ist Zeit, den Blob zu füttern. Schäumend und gefräßig saugt er alle paar Sekunden acht tellergroße Portionen auf. Was wir hier als Blob bezeichnen, ist ein stabiler turbulenter Fleck in einem riesigen Wassertank im Labor des Physikers William Irvine von der University of Chicago.

Anders als alle bisher beobachteten Turbulenzen ist es keine diffus umherwirbelnde Strömung, die sich mit der Zeit vergrößert oder verkleinert. Stattdessen gleicht der Blob einer in sich geschlossenen, brodelnden Kugel, die das Wasser um sich herum unbewegt lässt. Um das ungewöhnliche Phänomen zu erzeugen und insbesondere aufrechtzuerhalten, müssen Irvine und sein Doktorand Takumi Matsuzawa es immer wieder mit acht ringförmigen Wirbeln, dem flüssigen Gegenstück zu Rauchringen, beschießen. »So bauen wir die Turbulenz Stück für Stück auf«, erklärt Matsuzawa.

Weil die beiden Forscher die ringförmigen Wirbel sehr genau kontrollieren, können sie die daraus entstehende Turbulenz aus nächster Nähe untersuchen. Der Blob könnte damit Einblicke in eine chaotische Welt geben, denen Physiker seit mehr als zwei Jahrhunderten nachjagen. Die mühsame Suche veranlasste Richard Feynman dazu, die Turbulenz als das wichtigste ungelöste Problem der klassischen Physik zu bezeichnen. Sie spielt eine entscheidende Rolle bei der Erforschung von Sternen, der Luftfahrt, der Kernfusion, beim Wetter, bei Veränderungen im Erdkern, in Windturbinen und sogar für die menschliche Gesundheit – denn auch der Blutfluss in Arterien kann turbulent werden, was äußerst gefährlich ist.

Eine-Million-Dollar-Problem

Obwohl Turbulenzen so allgegenwärtig sind, ist es extrem schwierig, sie zu untersuchen. Die zu Grunde liegenden Formeln, um Fluide theoretisch zu beschreiben, sind die so genannten Navier-Stokes-Gleichungen. Sie sind allerdings nur für Spezialfälle exakt lösbar, etwa für ideale Flüssigkeiten, die keine Reibung besitzen. Im Allgemeinen ist nicht einmal bekannt, ob überhaupt eine Lösung existiert: Tatsächlich ist die Frage eines der sieben Millennium-Probleme, deren Beantwortung mit einer Million US-Dollar belohnt wird. Glücklicherweise können Computer die Navier-Stokes-Gleichungen zumindest näherungsweise lösen, wodurch eine theoretische Beschreibung von Fluiden häufig gelingt. Doch Turbulenzen sind chaotische Effekte, das heißt, sie hängen stark von den äußeren Bedingungen ab. Wenn diese nur ein wenig variieren, kann das Ergebnis plötzlich völlig anders aussehen. Das macht eine experimentelle Untersuchung unerlässlich.

Bisher erzielten Irvine und seine Studenten schon eine ganze Reihe überraschender Durchbrüche beim Studium von Systemen, die aus wirbelnden Objekten, Flüssigkeiten oder sogar Feldern bestehen. Besonders viel Aufsehen erregten ihre Ergebnisse im Bereich der Fluiddynamik, der eigentlich für extrem langsame Fortschritte berüchtigt ist. Sie konnten eine Gesetzmäßigkeit nachweisen, die trichterförmige, tornadoähnliche Strömungen – Vortizes genannt – befolgen. Die Arbeit der Forscher beleuchtet, wie die Phänomene entstehen, miteinander wechselwirken, sich zeitlich entwickeln und schließlich zerfallen.

»In der naturwissenschaftlichen Forschung geht es oft darum, eine kleine Lücke in dem, was bereits getan wurde, zu füllen«, so der Physiker Daniel Lathrop von der University of Maryland, der mit Irvines Arbeit vertraut ist. »William sucht dagegen nach Möglichkeiten, etwas völlig anders anzugehen als bisher.« Da er es nun geschafft hat, Wirbel so präzise zu kontrollieren, dass der Blob entsteht, verschreibt sich Irvine immer mehr der Erforschung von Fluiden. »Wegen der fehlenden Daten und Theorien sieht man Turbulenz als etwas an, an dem Karrieren scheitern«, sagt er. »Dennoch lasse ich mich immer stärker darauf ein.«

2006 hatte der damals 26-jährige Irvine bereits zwei unterschiedliche Promotionen in Quantenoptik durchlaufen, eine in Experimentalphysik an der University of Oxford und eine andere an der University of California in Santa Barbara, die zusätzlich theoretische Studien umfasste. Am Ende hatte er genug davon, winzige Fortschritte in abstrakten physikalischen Bereichen zu machen, und beschloss, auf dem weiter gefassten Gebiet der Neurowissenschaften an der Princeton University weiterzuforschen. Doch kurz bevor er dort anfing, erwähnte ein Freund von ihm eine Arbeit des Physikers Paul Chaikin von der New York University, die mit weicher Materie wie Schäumen, Gelen oder Flüssigkristallen zusammenhängt.

Chaikin und seine Kollegen wiesen in solchen Materialien ungeahnte Eigenschaften nach: Die Systeme können sich selbst ordnen, erstaunliche Muster ausbilden und sogar Kopien von sich selbst erzeugen. Im Gegensatz zur gewöhnlichen Physik der kondensierten Materie finden die Prozesse bei Raumtemperatur direkt vor den Augen der Forscher statt – ohne die sonst notwendigen aufwändigen Aufbauten nahe am absoluten Temperaturnullpunkt.

Das Gebiet der weichen Materie überzeugte Irvine vor allem, weil es noch viel zu entdecken gab. »Dort führt man nicht ein Experiment durch, um eine theoretische Vorhersage zu bestätigen«, erklärt er, »sondern weil niemand weiß, wie es überhaupt ausgehen wird.« Kurzerhand verwarf Irvine seine Pläne, sich den Neurowissenschaften zu widmen, und begann stattdessen als Postdoc in Chaikins Labor. Dort untersuchte er Kolloide, das heißt Partikel, die fein in einer Flüssigkeit verteilt sind.

Als Irvine eines Tages während eines Spaziergangs in Manhattan beobachtete, wie ein Raucher Ringe ausblies, eilte er sofort zurück ins Labor, um eine Vorrichtung zu bauen, die solche komplexen Strukturen aus Rauch erzeugt. Allerdings kam er nicht weit und legte das Projekt beiseite, um an seinem eigentlichen Forschungsthema weiterzuarbeiten. Doch der Gedanke ließ ihn über die Jahre nicht mehr los.

Als er 2011 eine Stelle an der University of Chicago antrat, begann er, ringförmige Wirbel – ähnlich denen, die er in Manhattan beobachtet hatte – in Wasser zu untersuchen. Die Forschung begeisterte ihn, denn er wusste zu dem Zeitpunkt kaum etwas über das Thema. »Ich hatte noch nicht einmal einen Kurs in Strömungsmechanik belegt«, gibt er zu. »Ich habe es mir beigebracht, als ich es unterrichten musste.«

Vortex in den Wolken | Die Enden von Tragflächen an Flugzeugen erzeugen Wirbel in der Luft.

Ein Wirbel (oder Vortex) ist eine röhrenförmige, sich drehende Strömung in einem Gas, einer Flüssigkeit oder einem anderen Medium. Eines der bekanntesten Beispiele dafür stellt ein Tornado dar, doch man kann auch Wirbel in kleinerer Form beobachten, wenn man etwa Wasser in einem Spülbecken ablaufen lässt. Einige Vortizes sind dabei erstaunlich stabil und tauchen in einer Vielzahl von Varianten auf. Wie bei einem Rauchring können sich ihre Enden zu einer Schleife zusammenfügen, zudem lassen sich mehrere ringförmige Wirbel miteinander verbinden und sogar verknoten.

Weil Vortizes in allerlei physikalischen Systemen auftauchen, von Flüssigkeiten und Gasen bis hin zu elektrischen und magnetischen Feldern, sind sie für Wissenschaftler besonders interessant. Ein Strom, der durch einen dünnen Leiter fließt, erzeugt beispielsweise rundherum einen Magnetfeldwirbel – eine Art magnetischen Tornado, der einen hypothetischen magnetischen Monopol (falls so etwas existieren sollte) dazu veranlassen würde, den Leiter zu umkreisen.

Ringförmige Wirbel im Wasser

Irvine widmete sich zusammen mit einem Doktoranden zunächst elektromagnetischen Feldern, doch das Hauptinteresse des Forschers blieb das Wasser. Einen tornadoähnlichen Wirbel in einer Flüssigkeit zu erzeugen, ist einfach – jeder kann es mit einer Wasserflasche tun. Aber wie kann man kompliziertere Formen wie Ringe oder Kombinationen von Wirbeln, einschließlich Knoten, herstellen? Mit solchen Strukturen könnte man etliche Rätsel über die Eigenschaften von Turbulenzen klären, unter anderem die Frage nach der Helizitätserhaltung. Die Helizität entspricht der Anzahl der Verschlingungen und Knoten eines oder mehrerer Wirbel. Verschlingungen und Knoten sind so genannte topologische Merkmale, das bedeutet, sie verändern sich nicht, wenn man einen Wirbel dehnt, staucht oder anderweitig verformt – und sind somit sehr robust.

Wie Wissenschaftler vor etwa 50 Jahren herausgefunden haben, bleibt die Helizität von Wirbeln in einer idealen Flüssigkeit erhalten. Eine solche Flüssigkeit besitzt keine Viskosität, das heißt, sie bringt einem Objekt, das sich durch sie hindurchbewegt, keinen Widerstand entgegen. Für den Spezialfall eines solchen Fluids reduzieren sich die Navier-Stokes-Gleichungen zu den Euler-Gleichungen, die sich in einigen Situationen besser (beziehungsweise überhaupt) lösen lassen – etwa wenn es um die Erhaltung der Helizität geht. In einer idealen Flüssigkeit bleibt die Anzahl der Verschlingungen und Knoten von Wirbeln also stets gleich, unabhängig davon, wie sich das Fluid und die darin auftretenden Vortizes mit der Zeit verändern.

Doch wie der Name schon nahelegt, entsprechen ideale Flüssigkeiten nicht den Fluiden, denen man in der realen Welt begegnet. Ob die Helizität von Wirbeln dort bestehen bleibt, ließ sich trotz etlicher Analysen und Experimente jahrelang nicht beantworten. Ein solcher Erhaltungssatz wäre für Meteorologen und alle anderen Wissenschaftler, die sich mit Wirbeln befassen, jedoch extrem nützlich.

Zudem hängt die Helizitätserhaltung mit einer weiteren grundlegenden Frage zusammen: Was passiert mit den Verdrehungen der Wirbel, wenn sie zerfallen (was sie zwangsläufig immer tun)? Die Physik lehrt uns, dass die Rotationsenergie und der Drehimpuls eines Systems stets erhalten bleiben. Aber lange wusste man nicht, wie die makroskopischen Drehungen eines Wirbels auf immer kleinere Skalen übergehen, bis sie sich schließlich auf molekularer Ebene auflösen. Könnte man diesen Mechanismus verstehen, würde man wahrscheinlich mehr über die zeitliche Entwicklung von Helizität in Flüssigkeiten erfahren und umgekehrt.

Irvine suchte nach einer Möglichkeit, um diesen Fragen in Laborversuchen nachzugehen. Dabei ließ er sich von einem seiner vielen Hobbys inspirieren: Er spricht vier Sprachen, spielt Cello (und hat drei weitere Instrumente gelernt), er klettert und segelt gerne, zudem ist er Pilot, der an Kunstflügen teilnimmt.

Der letzte der genannten Zeitvertreibe führte ihn zu einer Möglichkeit, ringförmige Wasserwirbel zu erzeugen. Denn an den Spitzen der Tragflächen von Flugzeugen bilden sich beim Beschleunigungsvorgang heftige Verwirbelungen der Luft aus, die sich anschließend vom Flügel lösen. Das veranlasste ihn dazu, Tragflügel zu verwenden, um Vortizes in Wasser herzustellen.

Wirbelmuster | Indem Irvine und seine Kollegen Tragflächen aus Kunststoff ins Wasser stellen, können sie dort unterschiedliche Wirbel erzeugen.

Irvine nutzte einen 3-D-Drucker, der innerhalb von acht Stunden Tragflächen beliebiger Form produzierte, und probierte mit seinem damaligen Postdoc Dustin Kleckner und später mit seinen Doktoranden Martin Scheeler und Robert Morton hunderte verschiedene Formen aus. Um die Wirbel zu schaffen, mussten die Forscher die Tragflächen mit der 100-fachen Schwerkraft beschleunigen. Dazu wählten sie etliche Methoden, von Sprengstoff bis hin zu Railguns, und landeten schließlich bei dem, was Irvine als »Kartoffelkanone« bezeichnet: einem mächtigen Kolben, der von komprimiertem Gas angetrieben wird.

Für seine Versuche in dem riesigen Wassertank benötigte Irvine vor allem viel Platz. Der Wissenschaftler nahm in einem Laborgebäude der University of Chicago einen großen Raum in Beschlag, der sich drei Stockwerke unter der Erde befindet. Anschließend ließ er die vier Meter hohe Decke und das gesamte Gebäudeinnere darüber herausschlagen, wodurch ein zehn Meter hoher Saal entstand, in dem er einen kleinen Kran einbauen konnte.

Der Aufwand sollte sich lohnen. Schließlich fanden Irvine und seine Kollegen geeignete Tragflächen, die saubere, ringförmige Wirbel mit einer Breite von etwa 30 Zentimetern produzierten. Es gelang ihnen sogar, mehrere verbundene Ringe und knotenartige Wirbel zu konstruieren. Um diese zu visualisieren, verkleideten Kleckner und Scheeler den Wassertank mit Hochgeschwindigkeitslaser-Messgeräten und Videokameras. Sie schossen winzige Gasblasen und markierte Partikel in den Tank, damit diese sich in den wirbelnden Strömungen verfingen und man ihre Bewegung und dadurch auch die Entwicklung der Vortizes nachvollziehen konnte.

Schließlich fanden die Forscher durch Zufall eine noch einfachere Methode, um die Strömungen zu beobachten: Sie hatten die Tragflügel mit einem Stift beschriftet, um sie leichter auseinanderzuhalten. Die Farbe erwies sich aber als nicht vollkommen unlöslich, wodurch etwas davon ins Wasser gelangte und den Wirbeln folgte. Im Laserlicht begann die Tinte zu fluoreszieren, was zu einem extrem klaren Bild führte. Daraufhin bemalten die Forscher die entscheidenden Stellen der Tragflächen mit einer eigens entwickelten Farbe, wodurch sie jedes beliebige Merkmal der Strömung hervorheben konnten, etwa die Mittellinie eines Wirbels, die sonst schwer zu identifizieren ist.

Dank der zahlreichen Experimente konnten Irvine und seine Kollegen 2017 schließlich das Geheimnis um die Helizität in realen Fluiden lüften: Anders als in idealen Flüssigkeiten bleibt die Anzahl der Verschlingungen und Knoten über die Zeit nicht immer erhalten.

Dafür konnte Irvine zwei andere Größen identifizieren, die in realen Fluiden eine wichtige Rolle spielen: die Windungen und Verdrehungen eines Wirbels. Stellen Sie sich dazu einen geraden Schlauch vor, der die Länge eines geraden Vortex (etwa eines Tornados) darstellt. Der Schlauch kann sich dabei um sich selbst winden – im Extremfall kann er sich sogar aufrollen. Unabhängig davon lassen sich aber auch die Enden des Schlauchs in entgegengesetzte Richtungen verdrehen, selbst wenn der Schlauch dabei gerade bleibt.

Die Helizität ist aus mathematischer Sicht ein topologisches Merkmal, was sie auf den ersten Blick sehr stabil macht. Topologen klassifizieren Objekte nach globalen Eigenschaften, die sich nicht verändern, wenn man einen Körper verformt, ohne ihn zu zerreißen. Ein Beispiel dafür ist die Anzahl der Löcher, die eine geometrische Figur besitzt, oder eben die Anzahl der Knoten und Verschlingungen von Wirbeln.

Windungen und Verdrehungen sind hingegen geometrische Merkmale. Während topologische Eigenschaften ein ganzes Objekt charakterisieren, betreffen geometrische Merkmale nur einen bestimmten Bereich des Körpers, etwa die Krümmung einer Oberfläche an einer Stelle.

Ringförmige Wirbel | Man kann einen gewöhnlichen Rauchring nutzen, um die Topologie von Wirbeln zu untersuchen – unabhängig davon, ob sie sich in Flüssigkeiten wie Wasser oder in der Luft bilden. Meist zerfallen diese Phänomene allerdings zu schnell, um sie genau zu analysieren. Anders ist es beim »Blob« in Irvines Labor.

Windungen, Verschlingungen und Knoten in Wirbeln

Vor Irvines Veröffentlichung hatten bereits andere Forscher vorgeschlagen, Windungen und Verdrehungen zusammen mit Verschlingungen und Knoten zu berücksichtigen, um ein allgemeineres Maß für die Komplexität eines Wirbels zu definieren. Sie hofften, das neue Maß könne zu einem Erhaltungssatz führen.

Genau das gelang dem Physiker: Er bewies, dass die gesamte Anzahl von Knoten, Verschlingungen und Windungen – ohne Verdrehungen – in einem viskosen Fluid erhalten bleibt. Damit schuf er eine neue Art kombinierter Helizität aus diesen drei Größen. Die Verdrehungen fallen dabei heraus, da sich eine Windung immer in eine Verdrehung umwandeln lässt: Zieht man etwa einen aufgewickelten Schlauch gerade, dann ist dieser automatisch verdreht.

Mit seiner Arbeit beantwortete Irvine nicht nur, wie sich die Helizitätserhaltung in der realen Welt darstellt, sondern auch, wie Wirbel ihre Rotationsenergie und ihr Drehmoment an ihre Umwelt abgeben. »Man muss Williams Stil als Experimentalphysiker wirklich bewundern«, lobt ihn Lathrop. »Es ist beeindruckend, einen so neuartigen Aufbau zu schaffen und ihn so zu bearbeiten, dass man tatsächlich aussagekräftige Antworten erhält.«

In Interviews präsentiert sich der inzwischen 40-jährige Forscher freundlich – selbst wenn er etwas verschroben wirkt, was durch seine turbulente Frisur verstärkt wird. »Er hat seltsame Ideen, die zunächst keinen Sinn zu machen scheinen, aber am Ende lerne ich immer etwas«, sagt sein momentaner Doktorand Ephraim Bililign. Als Beispiel führt er Irvines Vorschlag an, er solle versuchen, Seifenfilmen neue Verhaltensweisen abzugewinnen – ein Projekt, das sich als nicht realisierbar erwies. Doch es führte direkt zu Bililigns gegenwärtiger Arbeit mit wirbelnden, mikroskopischen, magnetischen Würfeln in einer Seifenfilmsuspension, die zahlreiche unerwartete Eigenschaften besitzen. Sonst ist Irvine bei der Arbeit recht in sich gekehrt, fast schon geheimnisvoll – seine Studenten wussten beispielsweise nicht, dass er Pilot ist.

Wirbelnde Tropfen | Irvines Forschungsgruppe nutzt winzige, magnetische Partikel, um eine neuartige, zweidimensionale Flüssigkeit herzustellen, die Tröpfchen mit einzigartigen Eigenschaften bildet.

Seine breit gefächerten Interessen spiegeln sich in der Vielzahl der Projekte wider, die derzeit in seinem Labor stattfinden. Zusätzlich zu den Arbeiten über Wasserwirbel beschäftigt er sich mit topologischer Mechanik, bei der es darum geht, quantenähnliche Eigenschaften in klassischen Systemen herauszuarbeiten, die aus identischen rotierenden Objekten bestehen.

Zum Beispiel gelang es ihm und seinen Studenten, eines der Merkmale so genannter topologischer Isolatoren nachzustellen. Diese neuartige Materialklasse ist eine Mischung aus extrem gutem Leiter und Isolator: Während das Innere des Materials keinerlei Stromfluss zulässt, können sich die Elektronen am Rand nahezu widerstandsfrei in eine Richtung bewegen. Irvine und seine Kollegen imitierten dieses äußerst ungewöhnliche Verhalten, indem sie zahlreiche Kreiselinstrumente so anordneten, dass sie Schallwellen bestimmter Frequenzen nur am Rand des Systems und bloß in eine Richtung leiteten. Grob lässt sich das wie folgt erklären: Die rotierenden Teilchen neigen dazu, die Vibrationen, aus denen die Schallwellen bestehen, nach außen zum Rand hin und in eine bestimmte Richtung zu lenken, was das seltsame Verhalten zur Folge hat.

Der Forscher hat darüber hinaus verschiedene magnetische Teilchen mit Flüssigkeiten gemischt, wodurch Fluide entstanden, die eine ungewöhnliche Viskosität aufweisen: Es ist, als besäße die Flüssigkeit keine Reibung. Wellen können sich daher über die Oberfläche bewegen, ohne Energie zu verlieren – so wie in einigen quantenmechanischen Systemen.

Der Vorteil der Experimente von Irvine und seinem Team ist, dass die von ihnen untersuchten Materialien viel besser zu verstehen, zu erschaffen und zu untersuchen sind als die quantenmechanischen Varianten, die sie imitieren. Daher ist der Physiker davon überzeugt, derartige Experimente könnten eines Tages dabei helfen, quantenmechanische Probleme zu beleuchten. »Die originalen Versionen sind chaotisch und kompliziert«, erklärt er. »Ich möchte herausfinden, was das Minimum ist, das man braucht, um die gleichen Verhaltensweisen zu erhalten.«

Die Leitung eines großen Arbeitsbereichs hat Irvine bisher nicht davon abgehalten, seine eigenen kleinen Experimente durchzuführen. Dafür nutzt er einen winzigen Raum außerhalb des Hauptlabors, der als Lager gekennzeichnet ist. Dort sind ein paar hundert Kreisel auf dem Boden verstreut. »Sie verhalten sich wie eine Flüssigkeit«, äußert er begeistert. »Sie sind für mich die Quelle vieler guter Ideen.« Als das Labor wegen der Covid-Pandemie vorübergehend geschlossen wurde, nahm Irvine die Kreisel mit nach Hause, um in seinem Wohnzimmer weiter zu experimentieren.

Doch momentan sind es die Turbulenzen, die in seinem Labor die meiste Aufmerksamkeit beanspruchen. Nachdem es Irvine und Matsuzawa gelungen war, kontrollierte Wirbel zu schaffen, begannen sie vor vier Jahren neue Experimente mit diesen spannenden Phänomenen. Sie schossen unterschiedlich viele ringförmige Wirbel verschiedener Frequenzen in den Tank und brachten sie dazu, sich auf interessante Weise zu verbinden. Manchmal erzeugten sie dabei turbulente Bereiche, aber diese verschwanden schnell wieder.

Eines Tages probierten Irvine und Matsuzawa eine würfelförmige Tragfläche aus, die acht ringförmige Wirbel hintereinander produzierte. Die Ringe strömten an einer einzigen Stelle zusammen, und plötzlich blieben die daraus entstehenden Turbulenzen für einige Augenblicke bestehen. Also beschossen die Forscher den turbulenten Fleck wieder mit acht Ringen – und kurz darauf noch mal. Die Turbulenzen hielten sich daraufhin noch länger. Wie die Wissenschaftler feststellten, konnten sie einen stabilen turbulenten Bereich – den eingangs erwähnten Blob – erzeugen, wenn sie ihn nur regelmäßig beschossen.

Bisher waren Turbulenzen für Experimentalphysiker zu kompliziert, um sie genau zu vermessen. Matsuzawa bezeichnet sie gern als Wirbelsuppe – sie nehmen alle Komplexitäten der einzelnen Wirbel auf und vermischen sie dann zu einem verworrenen, brodelnden Durcheinander von Strudeln ohne klare Grenzen, die sich über viele Größenordnungen erstrecken. Sie tauchen aus dem Nichts auf, verändern sich wie wild, verschmelzen, fliegen auseinander und verschwinden wieder.

Wie Lathrop betont, können sich Physiker nicht einmal auf eine klare Definition von Turbulenz einigen. Man weiß nicht, ob die Turbulenzen, die man beispielsweise in einem langen Rohr beobachtet, dasselbe Phänomen sind wie die wirbelförmigen Strömungen an der Spitze der Tragflächen von Flugzeugen. »Erstaunlicherweise hängen wir trotz der enormen Fortschritte, die wir in allen anderen Bereichen der Physik gemacht haben, immer noch an diesem Punkt«, sagt er.

Bei einem ist man sich jedoch einig: Turbulenzen sind chaotisch. Daher reicht selbst eine winzige Ungenauigkeit bei der Messung aus, um jede Prognose über den Haufen zu werfen. Nicht, dass es eine große Rolle gespielt hätte: Bisher gab es keine Möglichkeit, auch nur grob die vielen sich schnell verändernden Wirbel zu messen, die sich in bis zu 10 000-fach unterschiedlichen Größenordnungen manifestieren.

Meistens haben sich Forscher damit begnügt, die Strömungsgeschwindigkeit an mehreren Punkten innerhalb einer Turbulenz wiederholt zu messen. Um Letztere herzustellen, ließen Wissenschaftler ein Fluid durch ein Maschennetz oder andere Hindernisse laufen, die den gleichmäßigen Fluss stören sollten. Dadurch waren die Ergebnisse stets eine Kombination aus turbulenter und nichtturbulenter Aktivität, die schwer auseinanderzuhalten ist. »Ich rechne es ihnen hoch an, dass sie mit diesen Geräten überhaupt etwas über Turbulenzen herausgefunden haben«, merkt Irvine an.

Eine in sich geschlossene, stabile Turbulenz, die aus kontrollierten Wirbeln aufgebaut ist, bietet völlig neue Möglichkeiten zur Messung und Analyse. Der Blob lässt sich nicht durch umgebende Strömungen, Oberflächen und Objekte stören – er bildet ein vereinfachtes Turbulenzmodell, an dem sich Forscher austoben können. Matsuzawa und Irvine sind somit in der Lage, genau zu beobachten und zu messen, wie die Wirbelschleifen ineinander übergehen und sich zum Blob entwickeln.

Doch von all den Erkenntnissen, die Irvine dem Blob abringen möchte, ist sein Hauptziel ein altbekanntes. »Turbulenzen sind der härteste Test für die Erhaltung der Helizität«, erklärt er. »Da wir die Turbulenz Wirbel für Wirbel aufbauen, wissen wir, wie viel Helizität sie enthält. So können wir sehen, was damit wirklich im Detail passiert.«

  • Quellen

Irvine, W. T. M. et al.: Complete measurement of helicity and its dynamics in vortex tubes. Science 357, 2017

Irvine, W. T. M. et al.: Starting flow past an airfoil and its acquired lift in a superfluid. Physical Review Letters 123, 2019

Irvine, W. T. M. et al.: Tunable band topology in gyroscopic lattices. Physical Review B 98, 2019

Vitelli, V. et al.: Odd elasticity. Nature Physics 16, 2020

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