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Experimente: Forschung im Schatten von Higgs II

Die Suche nach dem Higgs-Boson strahlt im Scheinwerferlicht der Medien. Doch es gibt noch weitere große Herausforderungen der Grundlagenforschung - die leider etwas im Schatten stehen, obwohl Forscher schon seit vielen Jahren und Jahrzehnten versuchen, diese Fragen zu klären. "Nature" widmet diesen Helden fünf Kapitel, die wir in zwei Teilen präsentieren.
Gravitationswellen

Eine Gravitationswelle einfangen

Scott Ransom besitzt eine jungenhafte Energie, die im Gegensatz zu seinem Forschungsobjekt zu stehen scheint: Sein Projekt könnte gut ein Jahrzehnt benötigen, um erste Ergebnisse zu erzielen. Der am National Radio Astronomy Observatory in Charlottesville im US-Bundesstaat Virginia tätige Astronom verwendet ständig Worte wie "stark" und "cool", wenn er über Pulsare redet, die genauesten natürlichen "Uhren" der Milchstraße. Sie könnten ihm und anderen Forschern erlauben, eine der fundamentalsten Vorhersagen von Einsteines allgemeiner Relativitätstheorie zu entdecken: Gravitationswellen. "Es wird uns ein völlig neues Fenster zum Universum öffnen!", ruft er aus. "Wir werden in der Lage sein, mit Masse statt mit Licht zu sehen."

Gemäß Einstein, erklärt Ransom, sind Gravitationswellen Kräuselungen im Gewebe der Raumzeit, die durch Bewegungen von Massen verursacht werden, beispielsweise durch ein Paar sich gegenseitig umkreisender Neutronensterne. Es ist ganz ähnlich, wie ein sich hin und her bewegendes Elektron Kräuselungen in den umgebenden elektrischen und magnetischen Feldern verursacht, die wir als Licht und andere Formen von Strahlung wahrnehmen. "Wenn man etwas Massives hin und her bewegt", so Ransom, "dann erzeugt man dementsprechend Gravitationswellen."

Doch unglücklicherweise würde selbst eine große Gravitationswelle, die über die Erde hinwegrollt, den Durchmesser unseres Planeten nur um zehn Nanometer oder noch weniger verkleinern und vergrößern. Experimente auf der Erde, die versuchen, solche kleinen Störungen aufzuspüren, versuchen ständig echte Signale aus dem Hintergrundrauschen herauszufiltern, das von vorbeifahrenden Lastwagen, Gewittern und sogar Hunderte von Kilometern entfernt ans Ufer brandenden Wellen erzeugt wird. Eine derartige Detektoranlage bildet zum Beispiel das Laser Interferometer Gravitational Wave Observatory (LIGO), das gemeinsam vom California Institute of Technology in Pasadena und dem Massachusetts Institute of Technology in Cambridge betrieben wird.

Ransom und seine enthusiastischen Gefolgsleute haben daher einen – wie sie hoffen billigeren – Weg eingeschlagen: Sie beobachten Pulsare. Einige dieser extrem dichten Sterne rotieren mehrere tausend Mal pro Sekunde, wobei sie regelmäßig bei jeder Umdrehung einen Strahlungsblitz aussenden, dessen Eintreffzeit auf der Erde die Astronomen mit einer Genauigkeit von 100 Nanosekunden messen können. Das Team hofft, 20 über den ganzen Himmel verteilte Pulsare überwachen zu können: Sie wollen dabei nach zeitlichen Abweichungen bei den Strahlungspulsen suchen, die durch extrem niederfrequente Gravitationswellen verursacht werden, die den Raum zwischen dem Pulsar und der Erde expandieren und kontrahieren lassen. Die Forscher erwarten, dass massereiche Schwarze Löcher, die sich in weit entfernten kollidierenden Galaxien mit jahrelangen Umlaufzeiten gegenseitig umkreisen, zu den stärksten Quellen solcher Wellen zählen.

Gravitationswellen um Schwarze Löcher | 3-D-Visualisierung von Gravitationswellen, die von zwei Schwarzen Löchern erzeugt werden.

Ransom ist einer von rund einem Dutzend Forschern, die sich dieser vom International Pulsar Timing Array Consortium koordinierten Aufgabe verschrieben haben. Dafür müssen die Astronomen nicht einmal neue Instrumente erfinden: Einrichtungen wie das Arecibo-Radioteleskop in Puerto Rico können die Aufgabe übernehmen. Die schlechte Nachricht ist, dass die Pulsare etwa zehn Jahre lang überwacht werden müssen, um die Gravitationswellen der sich umkreisenden Schwarzen Löcher einzufangen. Bislang haben die Wissenschaftler akkurate Zeitmessungen für gerade einmal sechs Pulsare über einen Zeitraum von fünf Jahren vorliegen.

Ransom gibt sich dennoch euphorisch. "Die coole Sache dabei ist, dass unsere Chance, etwas zu entdecken, mit der Zeit dramatisch zunimmt. Wenn wir Geduld haben, werden wir irgendwann Gravitationswellen sehen."

Neudefinition des Kilogramms

Die Masse eines Kilogramms sollte eine unveränderliche Konstante sein. Doch in Wirklichkeit verändert sie sich, weil sie auf höchst altmodische Art als Masse eines über 120 Jahre alten Zylinders aus Platin und Iridium definiert ist, der sich in einem Tresor am Stadtrand von Paris befindet. Niemand weiß, ob "Le Grand K" schwerer wird, weil sich Atome an seiner Oberfläche anlagern – oder leichter, weil Atome von der Oberfläche abgetragen werden. Aber seine Masse verändert sich mit Sicherheit: Kopien, die einst exakt das gleiche Gewicht besaßen, haben nun messbar davon abweichende Gewichte.

"Wir müssen das in Ordnung bringen", sagt deshalb Jon Pratt, ein Ingenieur des US National Institute of Standards and Technology (NIST), das sich etwas außerhalb von Washington D.C. befindet. Pratt gehört zu einer Gruppe von Metrologen, die an einer Neudefinition des Kilogramms arbeiten. Das Kilogramm ist die einzige physikalische Basiseinheit, die noch mit Hilfe eines ebenso physikalischen Objekts definierte sei, so der Ingenieur.

Die grundlegende Idee ist, das Kilogramm an eine mit hoher Genauigkeit gemessene physikalische Naturkonstante anzubinden. Auf diese Weise ist beispielsweise das Meter an die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum gekoppelt: Ein Meter ist exakt die Strecke, die das Licht in 1/299 792 458 Sekunden zurücklegt. Um etwas Ähnliches für das Kilogramm zu ermöglichen, muss das plancksche Wirkungsquantum h fixiert werden. Diese Konstante bestimmt über die Größe von Energiequanten in der Quantenmechanik und ist mit der Frequenz von Licht gekoppelt: E = hν. Kombiniert man dies mit der berühmte Formel E = mc2, so erhält man eine Definition für die Masse.

Die genaue Bestimmung des planckschen Wirkungsquantums ist jedoch eine heikle Angelegenheit. Zwei derzeit miteinander konkurrierende Methoden liefern Werte, die sich so stark voneinander unterscheiden, dass die Neudefinition des Kilogramms erst einmal in der Warteschleife ist.

Eine dieser Methoden verwendet eine so genannte Watt-Waage. Vereinfacht ausgedrückt besteht diese aus zwei Waagschalen: Auf der einen Seite liegt eine Masse von einem Kilogramm – sorgfältig mit dem Urkilogramm in Paris abgeglichen –, auf der anderen Seite eine stromdurchflossene Spule in einem Magnetfeld. Das Magnetfeld wird nun so abgestimmt, dass die Masse durch die elektromagnetische Kraft auf die Spule exakt ausgeglichen wird. Diese Kraft wiederum ist dann über eine Kette von Gleichungen mit dem planckschen Wirkungsquantum verbunden. In der Praxis ist es allerdings nicht ganz so einfach: Die Forscher müssen noch andere Dinge messen – zum Beispiel das lokale Gravitationsfeld, das die größte Fehlerquelle darstellt –, und sie müssen jede Quelle von Vibrationen vermeiden.

Im Jahr 2007 lieferte eine jetzt von Pratt verwendete Watt-Waage eine der genauesten Messungen des planckschen Wirkungsquantums: 6,62606891 × 10-34 Joule-Sekunden mit einem relativen Fehler von 36 zu 1 Milliarde. Ein anderes Instrument dieser Bauart, das am National Physical Laboratory NPL in Teddington in Großbritannien konstruiert worden war und sich nun am Institute for National Measurement Standards des kanadischen National Research Councils in Ottawa befindet, lieferte jedoch ein Ergebnis, das von jenem des NIST abweicht: Er ist zwar klein, liegt aber eben auch außerhalb der Fehlertoleranz.

Urkilogramm in einer Computersimulation | Das echte Urkilogramm in Paris verliert oder gewinnt an Gewicht – so viel steht fest, nur die Richtung ist unklar. Physiker suchen daher nach einer neuen Referenzquelle.

Die zweite Methode basiert darauf, die Anzahl der Atome in isotopisch reiner Materie zu zählen. Das liefert unmittelbar die Avogadro-Konstante – die Anzahl der Atome in zwölf Gramm Kohlenstoff-12 –, die wiederum über eine (andere) Kette von Gleichungen mit dem planckschen Wirkungsquantum verknüpft ist. 2008 nahmen Wissenschaftler der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt PTB in Braunschweig die Arbeit mit zwei nahezu perfekten, ein Kilogramm schweren Kugeln auf, die ihre Mitarbeiter aus 99,995 Prozent reinem Silizium-28 hergestellt hatten. Seither verwenden sie Röntgenbeugung zur Bestimmung ihrer Kristallstruktur sowie ultragenaue Laserinterferometrie, um das Volumen der Kugeln zu bestimmen. Damit können sie die Zahl der Atome in den Kugeln mit immer größerer Genauigkeit zählen. Derzeit liegt ihr Wert für die Avogadro-Konstante bei 6,02214082 × 1023 mit einem relativen Fehler von nur 20 zu 1 Milliarde. Die Übersetzung dieses Werts in das plancksche Wirkungsquantum stimmt mit dem NPL-Ergebnis überein, aber nicht mit der Messung am NIST.

Der 2010 empfohlene Wert für das plancksche Wirkungsquantum ist 6,62606957 × 10-34 Joule-Sekunden, mit einem Fehler von 44 zu 1 Milliarde. Manche sagen, das sei genau genug, um das Kilogramm neu zu definieren. Andere wollen lieber damit warten, bis die Messungen verschiedener Gruppen besser übereinstimmen und einen kleineren Fehler haben, der höchstens 20 zu 1 Milliarde entspricht. Das könne aber noch eine ganze Weile dauern, so Pratt. "Es ist schwierig, solche Messungen zu machen. So ist es nun einmal."

Im 1. Teil geht es um Leben im All, molekulare Spiegel und weitere Dimensionen.

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