Mittelalter: Friedliche Berserker
»Der sehr duldsame König Karl will dir dieses Land nahe der Küste, das von Astignus und von dir über alle Maßen verwüstet wurde, zu Lehen erteilen; auch wird er dir seine Tochter Gisela zur Frau geben.« Diese Worte soll der westfränkische König Karl III. an den Wikingerfürsten Hrolf gerichtet haben, so berichtete es der Chronist Dudo von St. Quentin, der im 10. Jahrhundert eine Geschichte der Normannen verfasste.
841 wurde die Stadt Rouen noch von Wikingern gebrandschatzt, und das passte zum Feindbild der wilden Berserker, als die sich die skandinavischen Krieger seit dem Überfall auf das britische Kloster Lindisfarne 793 immer wieder gebärdet hatten. Doch im Jahr 911 sprach Karl der Einfältige einem ihrer Anführer im Vertrag von Saint-Clair-sur-Epte ein stattliches Lehen an der Seinemündung zu. Natürlich nicht ohne Gegenleistung: Mit seinen Kriegern sollte Hrolf die fränkische Küste fortan schützen. Das Abkommen hatte Bestand, Einheimische und Nordmänner verschmolzen zum Volksstamm der Normannen, aus der Wikingerkolonie entwickelte sich die Normandie.
Man würde nun erwarten, dass die neuen Herren dem Land ihren Stempel aufdrückten. Tatsächlich aber brachten wissenschaftliche Grabungen kaum Zeugnisse einer skandinavischen Eroberung ans Licht. Überspitzt gesagt wäre aus archäologischer Sicht zu fragen: Hat diese Landnahme überhaupt stattgefunden?
So gilt die etwa 15 Kilometer vor der Seinemündung im Atlantik gelegene Insel Oissel als Operationsbasis der Nordmänner. Doch förderten Ausgrabungen dort typische Überreste einer karolingischen Siedlung aus der fraglichen Zeit zu Tage. Weder die Bauweise der Häuser noch ihr Inventar weisen skandinavische Charakteristika auf; zudem fehlen Kampfspuren oder Hinweise auf die den Wikingern nachgesagte Brutalität.
Was für Oissel gilt, lässt sich auf die gesamte Normandie übertragen: Gerade eine Hand voll Streitäxte, Schwerter und Speerspitzen wurden meist bei Baggerarbeiten in der Seine rund um Rouen, Elbeuf, Pîtres und eben auch Oissel gefunden. Etwa die Hälfte davon ist nordischen Ursprungs und stammt vom Übergang des 9. zum 10. Jahrhundert, also aus der Epoche der großen Wikingereinfälle in Rouen und Paris. Die übrigen Waffen wurden andernorts in Europa geschmiedet, doch lässt sich nicht ausschließen, dass Nordmänner sie mit sich führten.
Dann wären da noch vereinzelte Metallobjekte mit mutmaßlich skandinavischem Ursprung zu nennen: ein Bronzearmreif, wahrscheinlich aus dem 10. Jahrhundert; einige Amulette in Form eines Thorhammers, die leider schwer zu datieren sind. Dazu noch eine Ansammlung von Münzen und Schmuckstücken, die den Stämmen der Britischen Inseln beziehungsweise allgemein den Nordseeländern zugeordnet werden. Diese geringe Ausbeute ist wirklich verblüffend, waren der Hafen von Rouen und die Gestade der Normandie doch schon seit prähistorischen Zeiten in den Seehandel eingebunden.
Wenn Schriftquellen wie die Chronik Dudos stimmen, wonach ein Wikingerfürst namens Hrolf, latinisiert Rollo, von Karl dem Einfältigen um das Jahr 911 die Herrschaft über die Grafschaft Rouen erhielt, müssten sich zumindest Gräber ausmachen lassen, in denen die fremden Krieger beziehungsweise ihre Angehörigen zur letzten Ruhe gebettet wurden. Doch ein 1865 entdecktes Frauengrab in Pîtres, unweit von Oissel, ist derzeit das einzige seiner Art. Ein Paar Bronzefibeln im skandinavischen Stil gehörten zweifellos zum Gewandschmuck einer dort in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts bestatteten Angehörigen der nordischen Aristokratie.
Wikingerhäuptlinge ließen sich unter einem Erdhügel bestatten, häufig in einem hölzernen Grabboot, mitunter wurde auch nur mit Steinen der Umriss eines Boots gelegt. Das bislang einzige solche »Wikinger-Schiffsgrab« in Frankreich wurde 1906 auf der Insel Groix vor der bretonischen Küste entdeckt und frei gelegt. Zwei weitere Kandidaten, inmitten einer vermutlich hochmittelalterlichen Nekropole bei Réville auf der Halbinsel Cotentin nahe Cherbourg entdeckt, hatte man voreilig diesem Typus zugeordnet: Statt der Schiffsform bildeten die Steine lediglich Kreise, ein auf dem Gebiet der Normandie von der späten Bronzezeit bis in die frühe Eisenzeit – also mehr als 2000 Jahre vor der fraglichen Zeit – verbreiteter Bestattungsbrauch. Inzwischen wurde diese Datierung der Fundstätte bestätigt.
Eine Vase, die in einem der beiden Gräber gefunden wurde, verweisen Archäologen mittlerweile ebenfalls in die Bronzezeit, nachdem sie ihr zuvor eine nordische Machart zugeschrieben hatten. Gleiches gilt für die vermeintliche »Wikingerfestung« Hague-Dike – ein vier Kilometer langer Erdwall am Cap de la Hague. Auch wenn sein im Hochmittelalter geprägter Name nordische Wortelemente aufweist: Die ältesten Abschnitte ließen sich mit der Radiokohlenstoffmethode ebenfalls auf die Bronzezeit datieren.
Aus Sicht eines Archäologen gehören Berichte über die normannische Eroberung also eigentlich in den Bereich der Mythen und Legenden. Tatsächlich entdecken aber andere Disziplinen der Altertumsforschung reichlich nichtmaterielle Spuren der Nordmänner – vor allem sprachliche.
Da wären natürlich etliche mittelalterliche Texte zu nennen, insbesondere von normannischen Chronisten wie dem eingangs erwähnten Dudo. Hinzu kommen altnordische Sagensammlungen und Chroniken wie die »Heimskringla«, die um 1225 auf Island entstand. Vor allem aber gibt es zahlreiche »linguistische Fossilien«, also aus dem Altnordischen oder aus dem Angelsächsischen stammende Hinterlassenschaften, die in Dialekte, Orts- und Personennamen der Normandie eingegangen sind. Bezeichnungen wie »Robert der Däne« sprechen für sich. So genannte Vaternamen (Patronyme), die angeben, wie der Vater des Namensträgers mit Vornamen hieß, bezeugen Mischehen zwischen Wikingern und Einheimischen: Der Vater des Anquetil war wohl ein Skandinavier namens Asketill, der des Osmont hieß Osmund. So wurde aus dem gegen Ende des 9. Jahrhunderts dort gesprochenen Franco-Picard, einer Variante des Altfranzösischen, im Lauf weniger Generationen ein Frankonormannisch.
Linguistische Fossilien nahe der Küste
Skandinavisch geprägte geografische Bezeichnungen (Toponyme) sind in manchen Gebieten der Normandie sehr häufig zu finden. Etliche Wasserläufe und Hafenflecken tragen beispielsweise Namen, die auf »bec« oder »fleur« enden (etwa die Gemeinden Caudebec-en-Caux oder die Hafenstadt Honfleur), abgeleitet vom altnordischen »bekkr«, zu Deutsch »Bach«, beziehungsweise »floi«, »Bucht«. Die Bezeichnung »toft« für Wohnung und »both« für Hütte haben sich in Ortsnamen erhalten, die mit »tot« und »beuf« abschließen wie im Fall der Gemeinden Yvetot und Elbeuf. Andere Toponyme enthalten ein »le-Homme« oder ein »la-Hogue«, was sich auf Besonderheiten der einstigen Landschaft zurückführen lässt: Als »holmr« bezeichneten die Wikinger eine grasbewachsene Insel, als »haugr« eine kleine Anhöhe.
Auch bilden Personennamen mitunter das Stammwort in Ortsnamen, die auf »ville« enden wie Mondeville: Einem mittelalterlichen Text zufolge befand sich in dieser Gegend das Landgut – lateinisch »villa« – eines skandinavischen Edelmanns namens Amundi.
Viele Toponyme enthalten nicht nur altnordische, sondern auch altsächsische Begriffe oder Namen. Sprachforscher schließen daraus, dass mit dem Häuptling Hrolf eine bunte Mischung aus Skandinaviern, Sachsen und Angloskandinaviern im Frankenreich an Land ging – Letztere waren aus der früheren Kolonisierung der Britischen Inseln durch die Wikinger hervorgegangen. Beispielsweise findet sich das altenglische, also angelsächsische Wort »aeppel« (deutsch »Apfel«) in dem Namen des Dorfs Auppegard im französischen Departement Seine-Maritime wieder. Der Ort hieß um 1160 noch »Appelgart«, was nichts anderes als »Apfelgarten« oder »Apfelhof« auf Altsächsisch bedeutete. Bemerkenswerterweise entsprach dem in Yorkshire, dem Siedlungsschwerpunkt der englischen Wikingerkolonie, ein Ort Applegarth. Im Namen der Gemeinde Flottemanville im Departement La Manche verbirgt sich der Floteman (wörtlich »Fährmann«) – die altenglische Bezeichnung für Wikinger.
Bezeichnenderweise finden sich zahlreiche linguistische Spuren in der Terminologie der Seefahrt: In der französischen »équipage« (zu Deutsch: »Schiffsbesatzung«) findet sich das altnordische »skipa« wieder, was »ein Schiff ausstatten« bedeutete; der Schiffsrumpf »carlingue« wurde in den skandinavischen Ländern als »kerling« bezeichnet; dem Verb »cingler« für »einen Kurs steuern« entsprach dort das »sigla« (das sich auch im deutschen Begriff »Segel« findet); der Achtersteven »étambot« leitete sich von »stafnbord« her; das Oberdeck »tillac« von »thilja«, dem Wort für »Planke« (das in das deutsche »Diele« einging).
Fischer standen mit den »Invasoren« im Austausch, wie das Krabbennetz »haveneau« zeigt: Es basiert auf der altnordischen Kombination »hâfr-net«, zusammengesetzt aus »Angelgerät« und »Netz«. Der Dialektforscher René Lepelley von der Université de Caen Basse-Normandie wies überdies nach, dass die Namen etlicher Landmarken, die den Wikingern vermutlich einst als Orientierungspunkte entlang der Küste dienten, häufig skandinavische Einflüsse aufweisen.
Altnordische und altenglische Elemente hielten ab dem 11. Jahrhundert auch in der Schriftsprache Einzug, und zwar in latinisierter Form. Dazu mussten sie bereits allgemein gebräuchlich und für jeden verständlich gewesen sein. Beim so genannten Normanno-Picard handelte sich also nicht um das Idiom einer fremdländischen Elite, die sich durch ihre Sprache von der einheimischen Aristokratie abzugrenzen suchte, sondern vielmehr um ein Patchwork aus Neuem und Altem – wobei sich das Alte aus der Sprache der alteingesessenen gallorömischen Bevölkerung und den ab dem 5. Jahrhundert n. Chr. herrschenden Franken gebildet hatte.
Importiertes Vokabular entdecken Sprachforscher dementsprechend auch im Rechtswesen jener Zeit. So regelte die Institution des »warec« (das sich im deutschen »Wrack« wiederfindet) die Verwertungsrechte auf Treibgut. Demzufolge stand dem Grundherrn alles zu, was das Meer an seinen Küsten anspülte. Darin eingeschlossen waren Schiffswracks (altnordisch »hvrac« oder »hvrec«) und gestrandete Wale. Was Letztere anbetraf, war alles bis ins Kleinste geregelt.
Wir können anhand dieser linguistischen Befunde annehmen, dass die skandinavische Kolonie, aus der das Herzogtum Normandie hervorging, anfangs nicht mehr als ein paar tausend Menschen zählte. Die Einwanderer stammten überwiegend aus Dänemark, wenngleich Rollo selbst den Quellen nach anscheinend ein norwegischer Adliger war, den man aus seiner Heimat verbannt hatte. Zahlreiche Gefährten kamen aus England oder dem Danelaw, dem von Dänemark kontrollierten Teil Englands. Besonders konzentriert treten skandinavische und angelsächsische Begriffe und Toponyme entlang bestimmter Abschnitte der Küsten und größeren Flüsse auf. Der fränkische Ausdruck »mansloth« basiert auf dem altnordischen »mannshlutr«, wörtlich »Anteil eines Mannes«, der schon im Danelaw als Agrarmaß verwendet wurde. Dass er in zwei Gesetzestexten der Normandie aus dem Jahr 1030 auftaucht, könnte ein Hinweis auf eine Neuordnung der Besitzverhältnisse durch den »Eroberer« Rollo sein. Des Weiteren findet man gerade am Unterlauf der Seine zahlreiche Toponyme mit einem »tuit« wie in Le-Thuit-Anger, die auf eine »Rodung« oder sonstige Urbarmachung von Land hindeuten.
Der Mangel an skandinavisch geprägten materiellen Hinterlassenschaften könnte zunächst einmal einen ganz einfachen Grund gehabt haben: Rollos Mannschaft war mit leichtem Gepäck unterwegs gewesen, besaß also bei der Landung kaum mehr als Waffen, Schiffe und das, was man am Leib trug. Dass auch Frauen an Bord fehlten, schließen Experten daraus, dass die Neuankömmlinge wenig zum Alltagswortschatz von Heim, Hof und Sozialleben beigetragen haben (zu den wenigen Beispielen gehören das Federbett »duvet«, das aus »dunn« für »Daune« hervorgegangen sein dürfte, sowie das Flanieren »flâner« mit dem Ursprung in »flana«, »ziellos herumlaufen«). Vermutlich bevorzugten es die Nordmänner, einen Haushalt mit einheimischen Frauen zu gründen.
Alles deutet darauf hin, dass sie sich rasch an Sprache und Gebräuche anpassten. Ihre Hochrangigen nahmen das Christentum der fränkischen Elite an und positionierten sich inmitten oder gar an erster Stelle der schon bestehenden Herrschaftsbereiche – Rollos Nachfahren bezeichneten sich als Herzöge. Im Übrigen erleichterten Ähnlichkeiten in den Bräuchen einen solchen Wandel. So war beispielsweise das Konkubinat den fränkischen Adligen jener Zeit keineswegs fremd. Im Unterschied zu den Christen erkannten die Normannen aber auch die mit einer Konkubine gezeugten Nachkommen als legitime Erben an.
Schon die zweite Generation war vermutlich weitgehend in die Gesellschaft des westfränkischen Reichs integriert. Mag sein, dass die Geschichte auch hätte anders verlaufen können, denn wie das Zitat Dudos darlegt, scheuten Rollos Männer keineswegs davor zurück, sich mit Gewalt zu nehmen, was sie benötigten.
Kolonisation durch Einbettung
Als Karl der Einfältige den Wikingern 911 Zugang zur fränkischen Aristokratie gewährte, machte er gefürchtete Feinde zu kampferfahrenen Verbündeten. Immer wieder rannten die auf dem Gebiet der heutigen Bretagne ansässigen keltischen Bretonen gegen die Grenzen an, immer wieder drangen marodierende Wikinger ins Land ein. Das westfränkische Königshaus, damals noch in Händen der Karolinger, hatte zu dieser Zeit bereits den Zenit überschritten (987 begann mit Hugo Capet die Zeit der Kapetinger). Rollos Krieger schützten fortan das Reichsgebiet. Dabei nutzten sie ihrerseits den Rückzug der Gegner 924 und 933, um ihr Territorium nach Westen hin auszudehnen. Anhand dieser Überlegungen entwickelte der auf das skandinavische und normannische Mittelalter spezialisierte Historiker Lucien Musset (1922-2004) das Konzept einer »Kolonisation durch Einbettung«, das sich deutlich von der von fränkischen Chronisten überlieferten »Schreckensdramaturgie« der Wikingerüberfälle unterscheidet.
Dank dieser Bereitschaft zur Integration überdauerte das normannische Fürstentum an der Seinemündung, während beispielsweise eine 919 gegründete Wikingerkolonie an der Loire nach 18 Jahren von den Karolingern besiegt und ausgelöscht wurde.
Schon unter Rollos Sohn Wilhelm Langschwert, der 924 die Nachfolge antrat, war die Neuausrichtung der Region abgeschlossen. Aus Piraten waren Gutsherren geworden. Die einfacheren Besatzungsmitglieder fanden ihren Platz in der einheimischen Bevölkerung, wahrscheinlich bevorzugt in küstennahen Gebieten, die ihnen vertraut waren. Die Einwanderer übernahmen die fränkische Sprache und Religion wie auch das Rechtssystem. Strategische Heiraten verbanden ihre Führungsriege mit der einheimischen Aristokratie, so dass Experten ab Mitte des 10. Jahrhunderts von einer »normannisch-fränkischen« Elite sprechen, deren Lebensstil sich nicht mehr von dem anderer Oberschichten im Reich unterschied.
Auch wenn spätere Chronisten vor allem die militärischen Erfolge rühmten und dabei das Bild übermächtiger, wie im Rausch kämpfender Berserker zeichneten, entsprachen die Streitkräfte der Seine-Wikinger seit dem Ende des 9. Jahrhunderts wohl eher einer gut organisierten Armee, die der Normandie Macht und Einfluss im Frankenreich sicherte. Wie erfolgreich diese Integration der nordischen in die fränkische Kultur funktionierte, zeigt die Heirat des englischen Königs Æthelred mit Emma, der Tochter Richards I. von der Normandie, im Jahr 1002 und schließlich die Karriere des normannischen Herzogs Wilhelm der Bastard, der am Weihnachtstag 1066 als Wilhelm I., genannt der Eroberer, zum König von England gekrönt wurde.
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