Frontallappen-Theorie auf Tiktok: Wird man mit 25 plötzlich vernünftig?

Das Internet ist voll von jungen Menschen, denen es wie Schuppen von den Augen fällt. Plötzlich wird ihnen klar: Unter der Woche auszugehen, wenn am nächsten Tag Arbeit wartet, rächt sich. Was andere von einem denken, ist eigentlich gar nicht so wichtig. Und die Eltern würden sich sicher über einen Anruf am Sonntag freuen. Werte und Prioritäten ordnen sich, Erlebtes fügt sich zusammen, das Puzzle des Lebens ergibt auf einmal einen Sinn. »Everything is clicking«, schallt es auf Tiktok.
Grund für die offenbar kollektive Erfahrung junger Menschen soll eine bestimmte Entwicklung im Gehirn sein: In den 20ern werde der Frontallappen, in den meist englischsprachigen Videos »frontal lobe« genannt, fertig ausgebildet. Und der solle maßgeblich zuständig für die Erkenntnisse und Einsichten des Erwachsenwerdens sein. »25-Jährige an irgendeinem Donnerstag, wenn ihr Frontallappen vollständig entwickelt ist«, steht etwa über einem Video, in dem ein junger Mann auffährt, als würde er aus einem langen geistigen Schlaf erwachen. Doch ist der inszenierte Blitzschlag wissenschaftlich belegbar?
»25-Jährige an irgendeinem Donnerstag, wenn ihr Frontallappen vollständig entwickelt ist«User auf Tiktok
»Es ist nur die halbe Wahrheit«, sagt Nicola Ferdinand von der Bergischen Universität Wuppertal zu dieser Theorie aus dem Internet. Die Psychologieprofessorin erforscht unter anderem die neurokognitive Entwicklung, also wie sich Gehirn und geistige Fähigkeiten im Lauf des Lebens verändern. Was laut Ferdinand stimmt: Junge Menschen, besonders Jugendliche, handeln oft scheinbar irrational, nehmen zum Beispiel Drogen oder haben ungeschützten Sex. Negative Folgen schätzten sie als weniger wahrscheinlich oder schwer wiegend ein als andere Altersgruppen. Mit dem Erwachsenwerden ändere sich das langsam, und Handlungen würden eher nach ihren Konsequenzen abgewogen.
Eine neuronale Grundlage, wie auf Tiktok proklamiert, gibt es dafür auch. Das Gehirn besteht aus verschiedenen Bereichen, die sich unterschiedlich schnell entwickeln. Der präfrontale Kortex – der Teil des Gehirns, der direkt hinter der Stirn sitzt – braucht dafür verhältnismäßig lang. Nicola Ferdinand zufolge ist er tatsächlich erst ab etwa Mitte 20 fertig ausgebildet. Bis dahin nähmen Fähigkeiten wie Planung, Vernunft und die Kontrolle über Impulse, die dieses Hirnareal steuert, noch zu.
Der Frontallappen reift wirklich noch in den 20ern
Eine einflussreiche Studie, die das belegt, erschien 2022 im Fachmagazin »Nature«. Ein Team um den Neuroinformatiker Richard Bethlehem von der University of Cambridge dokumentierte anhand von MRT-Scans von mehr als 100 000 Probanden – vom Fötus bis zum 100-Jährigen – die Reifung des menschlichen Denkorgans. Zwischen 20 und 30 Jahren gibt es demnach tatsächlich einen Meilenstein: Bis dahin macht die neuronale Entwicklung noch schnell Fortschritte, danach weniger. So erreicht das Volumen der weißen Substanz, verantwortlich für die schnelle Weiterleitung von Signalen, in diesem Alter sein Maximum.
»Das könnte man einen fertigen Reifungsprozess nennen«, sagt Simon Ciranka vom Centre for Adaptive Rationality des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin. Aber ist ausschließlich der unfertige Frontallappen verantwortlich für jugendliche Unvernunft? Nein, ist sich Ciranka sicher. Er bestimme unser Handeln nicht allein. Wer das Verhalten junger Menschen verstehen wolle, müsse das Zusammenspiel von Frontallappen und limbischem System betrachten. Im limbischen System liegt das Belohnungssystem des Gehirns. Und das läuft in jungen Jahren auf Hochtouren. Das Belohnungssystem ist eine Zeit lang hyperaktiv und übertrumpft die Fähigkeit zur Verhaltenskontrolle, die sich mit dem präfrontalen Kortex erst noch entwickelt. Das Ergebnis: impulsives Verhalten.
»Belohnungen kann man sich als alles Mögliche vorstellen, was sich gut anfühlt«, so Ciranka. Besonders wichtig für Jugendliche seien soziale Belohnungen, also ein Like, ein Kompliment oder die Anerkennung der Freundesgruppe. Wenn junge Menschen unvernünftige Dinge täten, dann vor allem deshalb, weil sie das Gefühl hätten, dass andere sie dafür bewundern.
Risikobereitschaft im Experiment
Dass die Anwesenheit der Clique die Risikobereitschaft erhöhen kann, zeigte schon ein Experiment eines Teams um Jason Chein vom Temple University Brain Research & Imaging Center in Philadelphia aus dem Jahr 2011. Die Wissenschaftler ließen Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren in einer Fahrsimulation entscheiden, ob sie bei einer auf Gelb springenden Ampel abbremsen oder aufs Gas treten. Die Jugendlichen gingen signifikant mehr ins Risiko, wenn sie von Gleichaltrigen bei der Entscheidung beobachtet wurden. Allerdings: Bei jungen Erwachsenen in ihren 20ern, deren neuronale Vernunftzentrale laut Tiktok noch zu wünschen übrig lässt, war das nicht mehr der Fall. Sie ließen sich im gleichen Experiment nicht durch Blicke zum Rasen verleiten.
Zwischen 14 und 16 wären wir eigentlich am unvernünftigsten
Am weitesten klafft die Lücke zwischen der Entwicklung des Frontallappens und der des Belohnungssystem nämlich zwischen 14 und 16 Jahren. Jedoch wird die maximale Unvernunft oft erst ein paar Jahre später am Verhalten sichtbar. Dann nämlich, wenn junge Menschen mehr Freiheit haben, ihre Impulse auch auszuleben – mit dem ersten eigenen Auto, einer Kreditkarte auf ihren Namen oder selbst gekauftem Gin.
Mit der Reifung des Frontallappens löst sich dieses Ungleichgewicht langsam auf und Impulse können besser kontrolliert werden. Auch die Bewertungen durch andere Menschen lassen sich nun leichter relativieren. »Man kann aber auch vor 25 rationale Entscheidungen treffen«, weiß Ferdinand. Ohne Aussicht auf soziale Belohnung tun das sogar bereits Teenager. Auch das zeigt der Fahrsimulationsversuch, bei dem Jugendliche ohne die Blicke ihrer Altersgenossen lieber die sicherere Fahrweise wählten. Junge Menschen gehen also nicht willkürlich jedes Risiko ein. Sie wägen ab.
»Es verbindet sich kein Stecker und auf einmal hat man alles gecheckt«Simon Ciranka, Kognitionswissenschaftler
Laut Ciranka kann der Hang zum Risiko jenseits der 20 auch daher kommen, dass man noch vergleichsweise wenig Gelegenheit hatte, negative Folgen bestimmter Entscheidungen aus erster Hand zu erleben. Was User auf Tiktok berichten, hat seiner Einschätzung nach deshalb gar nicht unbedingt mit der Hirnreifung zu tun. Stattdessen hätten die Menschen aus den Videos schlicht Zeit gehabt, Erfahrungen zu machen und zu reflektieren. Nach und nach fällt dann der Groschen. Einen plötzlichen Einschlag der Vernunft, wie ihn junge Menschen auf Tiktok inszenieren, gibt es aber Ciranka zufolge nicht: »Es verbindet sich kein Stecker und auf einmal hat man alles gecheckt.«
Macht nichts; die Unvernunft in jungen Jahren ist nämlich gar nicht so schlecht, wie sie auf den ersten Blick erscheint. »Ein Risiko einzugehen, muss nicht heißen, dass ich über jede rote Ampel fahre«, sagt Nicola Ferdinand. In jeder Lebensphase gebe es bestimmte Entwicklungsaufgaben, die Menschen zu lösen hätten. Die Aufgabe junger Menschen: das Nest verlassen. Um sich von den Eltern zu lösen und den eigenen Weg zu finden, braucht es schließlich Mut und Überwindung – zum Beispiel, um auf neue Leute zuzugehen oder der ersten Liebe die Gefühle zu beichten.
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