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News: Genie und Wahnsinn

Wenn neurodegenerative Krankheiten Stück für Stück Erinnerungen rauben, so daß die betroffenen Menschen sich nicht einmal mehr an die einfachen Dinge des täglichen Lebens erinnern können, kommt es bei einer seltenen Form der Demenz zum Erwachen erstaunlicher Fähigkeiten in anderen Gebieten: Sie fangen an zu malen, zu komponieren oder zu erfinden. Haben Künstler wie Van Gogh und Goya an solchen Erkrankungen gelitten?
Bruce L. Miller von der University of California in San Francisco veröffentlichte am 20. Oktober 1998 in Neurology einen Bericht darüber, wie die Krankheit frontotemporale Demenz (Pick-Krankheit) verläuft und andrerseits die Kreativität im Gehirn steigert. "Der letzte Ort an dem man erwarten würde, daß eine Begabung aufblüht, ist das Gehirn eines Menschen, der allmählich in Demenz verfällt – aber die Belege dafür sind ziemlich dramatisch", sagte er.

Er führte fünf Fälle an, in denen die Krankheit den Patienten sogar das Sprachvermögen raubte, ihre Fähigkeiten aber in anderen Gebieten aufblühen ließ. Das Studium dieser Menschen könnte seiner Ansicht nach helfen zu verstehen, wo und wie visuelle und musikalische Fähigkeiten sich im Gehirn entwickeln.

Frontotemporale Demenz macht etwa zehn Prozent der Demenzfälle aus, ist häufig vererbbar und tritt gewöhnlich bei Menschen in ihren 50er Jahren auf. Der Grund für die Familienform der Krankheit wurde kürzlich in einer Mutation in einem Gen mit Namen tau entdeckt. Die Erkrankung betrifft verschiedene anatomische Bereiche und verursacht andere chemische Defizite als Alzheimer und andere Demenzen.

Die Krankheit betrifft einen Bereich des Gehirns, der soziales Verhalten steuert, und verursacht so einen Verlust sozialer Fähigkeiten und Enthemmung. Die kleine Teilmenge an Patienten, die künstlerische Talente entwickelt, wurde asozial, introvertiert, zeigte wenig Interesse an den Meinungen anderer Menschen und neigten dazu, fanatisch an ihrer Kunst zu arbeiten.

Miller und seine Mitautoren sehen eine mögliche Parallele zwischen diesen Patienten und Künstlern wie Van Gogh und Goya, die beide gesellschaftliche Konventionen verachteten, unabhängig und mit außerordentlicher Konzentration arbeiteten und gegen Geisteskrankheit kämpften.

"Der Verlust sozialer Fähigkeiten und Hemmungen könnte die Kunst unserer Patienten gefördert haben", sagte Miller, "so daß bisher nicht ungenutzte Fähigkeiten hervortreten konnten."

Die fünf in dieser Studie untersuchten Patienten wurden während ihrer Krankheit bildende Künstler, und alle arbeiteten mehrere Jahre fanatisch, bevor sie in die letzten Stadien des mentalen Verfalls abglitten. In einem Fall legte ein wohlerzogener Börsenmakler, der nie zuvor ein Interesse an Kunst bekundet hatte, seine konservative Kleidung zugunsten von auffallend greller Mode ab und begann mit Leidenschaft zu malen. Er gewann sogar Preise auf lokalen Kunstausstellungen, als seine sozialen und sprachlichen Fähigkeiten schon schwanden.

Ein 53 Jahre alter Mann mit Hauptschulabschluß und keinem Interesse an Kunst trat in eine Periode intensiver künstlerischer Aktivität ein: Er begann, Vasen und Brücken zu zeichnen und schließlich Kirchen und Haziendas, an die er sich aus seiner Kindheit erinnerte. Eine 51 Jahre alte Hausfrau ohne frühere künstlerische Ausbildung begann Flüsse, Teiche und Landschaftsszenen aus ihrer Kindheit zu malen. Ein 57 Jahre alter Mann, der eine erfolgreiche Werbefirma aufgebaut hatte, reiste in entfernte Gebiete Mittelamerikas, wobei er sich oft sogar in Gefahr begab, um Gebäude und Menschen zu fotografieren. Dabei arbeitete er mit einer Vielzahl von Perspektiven, um das "perfekte" Bild zu machen.

In einer früheren Studie beschrieb Miller Patienten, die andere Talente an den Tag legten. Ein Mann ohne musikalische Vorgeschichte begann, Quartette zu komponieren. Ein weiterer erfand einen chemischen Detektor und erhielt ein Patent dafür, während er bei einem Spracherkennungstest nur 15 gewöhnliche Objekte benennen konnte. Ein Mann, der nicht mehr sprechen konnte, entwarf bei sich zu Hause Rasensprenger.

Das Künstlertum, das in den beobachteten Patienten zum Vorschein kam, wurde wahrscheinlich geschürt durch eine Mischung aus Talenten, Erfahrungen und einzigartigen Schaltungsanordungen im Gehirn, sagte Miller. Allerdings liegt seiner Ansicht nach die grundlegendere Erklärung für das Auftauchen des Talents wahrscheinlich darin, wie die Krankheit verschiedene Teilmengen der Gehirnzellen der Patienten beeinflußte bzw. verschonte – und wie die anregenden und hemmenden Schaltkreise des Gehirns auf die Zellschäden reagierten.

Bei den meisten Menschen verursacht die frontotemporale Demenz sowohl in den Frontallappen des Gehirns als auch im vorderen Teil der Temporallappen Zellverluste. In den meisten der Menschen mit bildenden künstlerischen Talenten war jedoch nur die Vorderseite des Temporallappens betroffen, und der Zellverlust war auf der linken Seite des Gehirns größer. Nicht betroffen war der hintere Teil der Temporallappen, der die visuelle Welt, Form, Farbe und Bewegung interpretiert.

Die Forscher vermuten, daß bei den von ihnen untersuchten Patienten die Degeneration in einem Teil des Gehirns zu einer verbesserten Funktion in einem anderen Bereich führte: in diesem Fall eine erhöhte Aktivität in den visuellen und musikalischen Regionen des Gehirns. Die intakten Frontallappen, die für komplexe Gedanken und Planung verantwortlich sind, erlauben es Patienten, ihre visuellen und musikalischen Talente zu nutzen.

Die meisten Patienten mit der frontotemporalen Variante, die mit künstlerischen Fähigkeiten im Zusammenhang steht, entwickeln aber keine neue Kreativität, bemerkte Miller. "Wir vermuten, daß bei Patienten, die Künstler wurden, das Talent durch die Pathologie nur stimuliert wurde. Sie hatten von Geburt an eine Begabung für Kunst."

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