Gifte: Die tödlichsten Waffen der Natur
Die Erforschung natürlicher Gifte ist eine riskante Angelegenheit – fragen Sie Bryan Fry. 27-mal wurde der Forscher von giftigen Lebewesen gebissen – hauptsächlich von Schlangen an Land und im Meer sowie von Würfelquallen und Stachelrochen. Die Arbeit hat ihm auch 23 gebrochene Knochen und drei Gehirnerschütterungen eingebracht, seine Verletzungen mussten mit 400 Stichen genäht werden. Einmal brach er sich den Rücken an drei Stellen und verbrachte Monate im Krankenhaus, um wieder laufen zu lernen.
Fry ist Herpetologe – ein Zoologe, der sich mit Reptilien und Amphibien beschäftigt –, nicht etwa ein Masochist, aber um Gifte zu erforschen, muss man Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum in der Wildnis aufsuchen. Und giftige Tiere sind nicht nur potenziell gefährlich, sie leben auch oft an abgelegenen Orten, halten sich gerne versteckt und können, wenn man sie ausgemacht hat, extrem schwer zu fangen sein.
Diese Arbeit mag gefährlich sein, aber sie ist notwendig. Ohne das Gift kann kein Gegengift hergestellt werden, und damit es wirkt, muss jedes Gegengift auf die Toxine einer bestimmten Spezies abgestimmt sein. Erschwerend kommt hinzu, dass die Toxine innerhalb einer Spezies stark variieren können, je nach Lebensraum und Beute. Und ohne ein genaues Verständnis der Toxine in einem Gift kann man nicht vorhersagen, wie der menschliche Körper darauf reagiert, welche Organe das Gift angreift und wie man einen Patienten am besten behandelt.
Warum man Gifte erforscht
»Es gibt eine globale Datenbank mit Gegengiften, die von der Weltgesundheitsorganisation gepflegt wird, aber sie basiert auf dem, was über jede Schlangenart bekannt ist«, sagt Fry, der das Venom Evolution Lab an der University of Queensland (UQ) in Brisbane leitet. Und dieses Wissen ist oft nur begrenzt. »Wie gut diese Gegengifte gegen das Gift aller Schlangenarten in ihrem jeweiligen gesamten Verbreitungsgebiet getestet wurden, wissen wir nicht. Und auch nicht, wie die Gegengifte gegen Gifte von Schlangen wirken, die nahe Verwandte sind und daher eine gewisse Kreuzreaktivität aufweisen könnten.«
Einen Großteil seiner Zeit im Labor untersucht er die Toxine giftiger Lebewesen und die manchmal beträchtliche Toxinvariabilität zwischen den Verbreitungsgebieten derselben Spezies. Außerdem beschäftigt er sich mit der besagten Kreuzreaktivität – also welche Bestandteile eines Gegengifts bei verwandten oder nicht verwandten Spezies wirken könnten. Dabei stützen die Forscher sich auf die Giftsammlung, die Fry in 20 Jahren Feldarbeit zusammengetragen hat und die weltweit die vielfältigste ihrer Art ist. Die Palette reicht vom Gift antarktischer Tintenfische über das von Königskobras und Komodowaranen bis zum Gift von Vampirfledermäusen.
Das Wissen darüber, was in diesen Giften enthalten ist, entscheidet über Leben und Tod. Pro Jahr werden allein 5,4 Millionen Menschen von Giftschlangen gebissen, und zwischen 81 000 und 138 000 sterben daran. Die Gifte sind nicht nur tödlich, sondern können Lähmungen, Blutungsstörungen, Nierenversagen und Gewebeschäden verursachen, die zu dauerhafter Behinderung oder Amputation von Gliedmaßen führen können. Kinder sind auf Grund ihrer geringeren Körpermasse stärker betroffen.
Fry gilt als einer der weltweit führenden Spezialisten für Gifte; er ist Autor von fast 250 wissenschaftlichen Arbeiten und leitete 40 Expeditionen. Deshalb bekommt er Anrufe aus der ganzen Welt von Forschern, die Ärztinnen und Ärzten bei der Behandlung von Bissopfern unterstützen.
»Kürzlich bekam ich um zwei Uhr morgens einen Anruf aus Brasilien«, erzählt er. Jemand hatte illegal eine Kobra als Haustier gehalten und war gebissen worden. »Einer meiner Kollegen, die mit dem Fall zu tun hatten, fragte mich, wie sich dieses Gift auswirken könnte. Wir hatten damit gearbeitet, also antwortete ich: Zusätzlich zur Atemlähmung wirkt das Gift dieser Kobra auch auf die Muskeln. Sie brauchen nicht nur künstliche Beatmung, sondern müssen auch auf Muskelabbau … und mögliches Nierenversagen achten.«
Warum bringt die Natur überhaupt Gifte hervor? Dafür gibt es zwei Hauptgründe: Einerseits dient es dazu, Beute anzugreifen, zu überwältigen oder zu töten und andererseits dazu, sich gegen Angriffe zu verteidigen. Gift findet man bei erstaunlich unterschiedlichen Wildtieren: Spinnen, Skorpionen, Quallen, Tintenfischen, Fischen, Bienen, Wespen, Ameisen, Tausendfüßern, Schnecken, Mollusken, Korallen, Fröschen, Salamandern, Maulwürfen, Fledermäusen, Spitzmäusen, einigen Igeln und Ratten, beim männlichen Schnabeltier und sogar bei einem Primaten, dem Lori. Schätzungen zufolge sind mindestens 15 Prozent aller Tiere giftig.
»Ein Gift verhält sich eher wie ein Bataillon Scharfschützen als wie ein Maschinengewehr«Ronald Jenner und Eivind Undheim
Gift hat sich bei unterschiedlichen Spezies fast 100-mal unabhängig voneinander entwickelt und ist ein Beispiel für die »konvergente Evolution«. Das bedeutet, Lebewesen entwickeln im Verlauf ihrer Evolution ähnliche Lösungen für dieselben Herausforderungen. Die bekanntesten Beispiele für konvergente Evolution sind die Entwicklung von Augen und der Fähigkeit zu fliegen. Gift stellt beide jedoch weit in den Schatten.
Es gibt einen wichtigen Unterschied in der Verabreichung des Gifts: Manche Tiere und Pflanzen verbreiten ihr Gift passiv, etwa die Rohrkröte über ihre warzige Haut oder der Giftefeu über seine Blätter. In diesem Fall gelangt das Gift durch Verschlucken, Einatmen oder Aufnahme durch die Haut in den Körper. Andere verabreichen ihr Gift aktiv über einen Biss oder Stich mit dem Ziel, in die Blutbahn zu gelangen. Einige Tiere können sowohl aktiv als auch passiv giftig sein – der Blaugeringelte Oktopus zum Beispiel, der einen giftigen Schnabel hat, aber auch giftig ist, wenn er verschluckt wird.
Die fünf Arten der Giftigkeit
Gifte wirkt auf eine von fünf verschiedene Arten: Neurotoxisch, das heißt, es greift das Gehirn und das Nervensystem an; koagulopathisch, das heißt, es greift das Herz-Kreislauf-System an; wenn es myotoxisch wirkt, greift es das Muskelgewebe an; proteolytisch wirkendes Gift löst die Zellstruktur in Muskeln, Lunge, Herz und Blutgefäßen auf; und wenn Gift zytotoxisch wirkt, verursacht es Zellschäden oder den Zelltod. Das Gift eines Tiers kann auf seine Opfer auf eine oder mehrere dieser Arten wirken und wie es wirkt, hängt von der Art des Opfers ab.
Gifte sind in der Regel Cocktails aus Toxinen, die möglichst effektiv auf die jeweilige Beute wirken sollen. Allerdings können sie sogar auf Arten wirken, die gar nicht als Beute in Frage kommen: Der Stich einer nur wenige Zentimeter großen Würfelqualle kann auch bei Menschen innerhalb weniger Minuten zu Herzstillstand und zum Tod führen. Und ein Tropfen des Gifts einer Marmorierten Kegelschnecke kann ausreichen, um 20 Menschen zu töten. Das Gift der Trichternetzspinne, das als das tödlichste der Welt gilt, kann einen Menschen in nur 15 Minuten töten. Auf Hunde, Katzen oder Vögel dagegen hat es kaum Auswirkungen.
»Das Gift der Trichternetzspinne ist nur für Wirbellose und Primaten tödlich«, sagt Glenn King, Biochemiker am Institute for Molecular Bioscience in Brisbane. »Dass es Menschen tötet, ist ein Unfall der Evolution.« Das Gift wirkt auf Wirbellose und Primaten, also auch den Menschen, gegensätzlich: Es lähmt bei Insekten die Muskeln, führt bei uns jedoch zu Atemlähmung und Herzversagen.
»Umgekehrt bereiten manche Pfeifspinnen aus Queensland Ihnen und mir keine Probleme, aber für Hunde und Katzen sind sie tödlich. Viele dieser Spinnengifte sind entstanden, um Insekten zu töten. Aber manchmal sind durch Zufall der Rezeptor des Insekts, auf den die Gifte abzielen, und unser eigener – beziehungsweise der von Hunden und Katzen – ähnlich genug, um auch auf uns beziehungsweise unsere Haustiere zu wirken.«
Wann sich die ersten Gifte entwickelt haben, ist nicht bekannt. Giftdrüsen versteinern nicht, es gibt also keine Fossilien, die deren Entwicklung bezeugen. Man nimmt jedoch an, dass das erste Gift bei Nesseltieren im Meer auftauchte. Die ältesten Fossilien von Nesseltieren, zu denen Korallen, Seeanemonen und Quallen gehören, sind 580 Millionen Jahre alt. Studien anhand der DNA von Mitochondrien, die im Lauf der Zeit mit vorhersagbarer Rate mutieren, legen nahe, dass Nesseltiere vor etwa 741 Millionen Jahren entstanden sein könnten.
Das erste wirksame Gegengift gegen ein natürliches Toxin wurde 1894 in Frankreich entwickelt, indem man Pferden kleine Mengen Kobragift injizierte und die daraus resultierenden Antikörper aus dem Blut der Pferde gewann. Da Kobras gegen ihr eigenes Gift immun sind, dachten die Forscher, dass die Immunität vielleicht vom Körper »gelernt« werden könnte. Sie hatten Recht: Als sie einem menschlichen Bissopfer die Pferde-Antikörper injizierten, dockten diese sich sofort an das Gift an und alarmierten das körpereigene Immunsystem. Das Resultat: Immunzellen erkannten das Gift und machten es unschädlich.
An der Technik hat sich kaum etwas geändert. Gegengift stellt man immer noch auf die gleiche Weise her: Kaninchen, Pferde oder Schafe erhalten über einen bestimmten Zeitraum kleine Dosen eines Gifts; die vom Immunsystem des Tiers gebildeten Antikörper extrahiert man und konzentriert sie im Blutserum zu Gegengift in pharmazeutischer Qualität. Dieses Gegengift wirkt jedoch nur gegen den speziellen Giftcocktail des betroffenen Wirtstiers.
Die Herstellung des Gegengifts hat sich kaum verändert
Weltweit gibt es 46 Labore, die Gegengifte herstellen, meist sind es öffentliche Einrichtungen in Asien und Nord- und Südamerika, eines liegt in Australien. Sie stellen hauptsächlich Gegengifte für Schlangengift her, denn Schlangenbisse sorgen für die meisten Vergiftungen. Es gibt jedoch auch Gegengifte für Stiche oder Bisse von Skorpionen, Spinnen und sogar für Meerestiere, auch wenn Letztere oft weniger schwerwiegende und seltenere Vergiftungen auslösen.
In Australien haben Forscher ein polyvalentes Gegengift entwickelt – eine Art Sammelgegengift, das in der Regel gegen die meisten australischen Schlangenbisse wirkt. Es entsteht, nachdem im Blutplasma der Wirtstiere Antikörper gegen alle fünf Hauptgruppen der australischen Landschlangenarten gebildet wurden. Je nach Menge und Toxizität des Gifts kann ein Bissopfer mehrere Injektionen benötigen, um das Gift vollständig zu neutralisieren.
Wenn jedoch bekannt ist, welche Schlangenart zugebissen hat, gibt man das entsprechende monovalente Gegengift. Der Grund: Gegengift kann schwere Nebenwirkungen wie die Serumkrankheit auslösen – eine Art allergische Reaktion, die zu Atemnot oder Übelkeit, Erbrechen und Schock führt. Polyvalentes Gegengift muss in höheren Dosen verabreicht werden und kann die Nebenwirkungen verstärken. Daher setzt man Gegengift nur dann ein, wenn die Vergiftung zu einem Abbau des Muskelgewebes oder zu starken Blutungen führt.
Gifte sind Resultate der »vielfältigsten, vielseitigsten, raffiniertesten und tödlichsten biologischen Anpassungen, die sich jemals auf unserem Planeten abgespielt haben«, schreiben die Biologen Ronald Jenner und Eivind Undheim in ihrem Buch »Venom: The Secrets of Nature's Deadliest Weapon«. «Ein Gift verhält sich eher wie ein Bataillon Scharfschützen als wie ein Maschinengewehr, das mit einer einzigen Art von Geschossen geladen ist. Die komplexesten Gifte enthalten Hunderte oder sogar Tausende unterschiedlicher Komponenten und sind daher in der Lage, die Abwehrkräfte fast jedes Opfers zu überwinden. Außerdem wirken die Giftstoffe wie autonom gesteuerte Geschosse.«
Diese Komplexität macht Gift zum attraktiven Forschungsgegenstand für Fachleute, die besser verstehen wollen, wie der menschliche Körper funktioniert. Gifte haben ein großes Potenzial, hier neue Erkenntnisse zu liefern. Sie entwickelten über Millionen Jahre eine Schwindel erregende Zahl von Tricks, die molekulare Maschinerie vieler Spezies zu verändern oder zu untergraben. Unser Körper besteht aus erstaunlich vielen Bestandteilen, die alle miteinander und mit der DNA und RNA wechselwirken. In diesem gigantischen Netz aus Proteinen und Enzymen, Fettsäuren wie Lipide, Vitaminen, Salzen, Spurenelementen und Signalmolekülen kappen Gifte ganz präzise einzelne Verbindungen – und verraten so, wie das ganze Gewebe zusammenhängt.
Dieses Potenzial wird in Australiens – wohl sogar weltweit – einzigartigem Zentrum für Giftforschung in Brisbane genutzt. Von den Gehrmann Laboratories, in denen Frys Venom Evolution Lab in einem Gebäude aus Beton und Ziegeln untergebracht ist, sind es nur vier Minuten Fußweg zum Queensland Bioscience Precinct. Inmitten dieses 100 Millionen US-Dollar teuren Vorzeigeobjekts aus teilweise geschwungenen Flächen aus Glas, Stahl und Sandstein, das 2002 fertiggestellt wurde, steht das von Palmen gesäumte Institute for Molecular Bioscience.
Gifte sind extrem komplexe Mischungen
An den beiden Standorten befinden sich einige der empfindlichsten, ausgefallensten – und teuersten – wissenschaftlichen Instrumente Australiens, mit denen Fachleute auch noch kleinste Fragmente eines Moleküls untersuchen können. Das Institute for Molecular Bioscience ist mit über 20 Hightech-Mikroskopie-Anlagen und einem riesigen Massenspektrometer ausgestattet. Dieses Gerät in der Größe eines Hörsaals kann 100 Scans pro Sekunde mit einer Auflösung von weniger als eins zu einer Million durchführen; es ist auch in der Lage, 1200 Proteine pro Stunde zu identifizieren und die Fülle der Peptide in einem Gift zu kartieren. All dies wird von leistungsstarken, grafikbeschleunigten Computern für die Bildverarbeitung und Visualisierung unterstützt.
In diesem Zentrum wissenschaftlicher Exzellenz erforschen etwa 400 Wissenschaftler die genetischen und molekularen Grundlagen von Lebewesen und versuchen, neue Medikamente zu entwickeln oder neue Anwendungen zu finden, die die Gesundheit fördern, Krankheiten bekämpfen oder Städte und Lebensmittel nachhaltiger machen.
»In Bezug auf die Giftforschung ist dies das Zentrum der Welt«, sagt King, ein schlanker, umgänglicher Mittfünfziger mit einem dünnen, grauen Stoppelbart. »An anderen Orten wird auch exzellente Arbeit in der Antigiftforschung geleistet, und Wissenschaftler in Belgien und Melbourne liefern großartige Erkenntnisse über Gifttoxine, aber was die Breite der Forschung zur Entwicklung von Medikamenten, zu Pharmakologie, Chemie und Strukturbiologie angeht, sind wir definitiv führend.«
Schon während seiner Zeit an der Hurlstone Agricultural High School in Sydney zeigte King ein besonderes Interesse an Insekten. Als er 1995 an der Universität von Sydney Insektizide studierte, wurde er von einem Kollegen an der Deakin University in Geelong, dem verstorbenen Merlin Howden, gebeten, die Struktur eines interessanten Moleküls im Gift der Trichternetzspinne zu untersuchen. Dies führte zu einem Artikel in »Nature Structural Biology«, einer auf diesem Gebiet bedeutenden Fachzeitschrift.
»Die Natur hat uns dieses erstaunliche Reservoir an Millionen Verbindungen zur Verfügung gestellt, und alle haben eine besondere Wirkung«Irina Vetter
King erinnert sich, dass er damals dachte: Wow, dieses Spinnenzeug ist cool! »Ich bat Howden um Gift, damit ich es mir näher ansehen könnte. Er sagte: Klar, ich schicke dir welches. Irgendwann bekam ich Glaspipetten mit gefriergetrocknetem Gift – lachen Sie jetzt nicht! – per Post. Das könnte man heute nicht mehr machen.«
Mit Hilfe der Flüssigkeitschromatografie trennte er die einzelnen Bestandteile des Gifts voneinander. Er erwartete, dass die Maschine zwei oder drei Peaks – durch je einen Stoff ausgelöste Signale – ausspucken würde, die ihn zu den aktiven Peptiden führen würden. Peptide sind kurze Stränge aus Aminosäuren, viel kürzer als die meisten Proteine, aber oft mit bedeutenden biologischen Wirkungen.
»Aber die Peaks kamen und kamen«– es waren Hunderte von Verbindungen«, erklärt er. »Und ich dachte: Meine Güte, das meiste davon ist unbekanntes Zeug. Jetzt wissen wir, dass allein das Gift der Trichternetzspinne mehr als 3000 Peptide enthält. Wir glauben, dass es das komplizierteste chemische Arsenal in der Natur sein könnte.«
Vom Gift zum Medikament
Diese Vielfalt findet sich in allen Giften, sagt seine Kollegin Irina Vetter, Leiterin des Zentrums für Schmerzforschung am Institut. »Die Natur hat uns dieses erstaunliche Reservoir an Millionen Verbindungen zur Verfügung gestellt, und alle haben eine besondere Wirkung«, erklärt sie mit leichtem deutschen Akzent. »Und wenn man versucht, zu verstehen, wie sensorische Nerven funktionieren oder wie man auf sie einwirken kann, dann ist Gift einfach Gold wert.«
Vetter wurde manches Mal davon überrascht, wohin sie die Forschung führte. »Man kann tatsächlich eine Menge darüber lernen, wie schmerzempfindliche Nerven funktionieren, wie die Kanäle aktiviert werden. Wir haben die Chance, neue Wege zu finden, um ihre Aktivität zu modulieren – und somit hoffentlich neue Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln.«
Gifte haben der Welt bereits sechs neue Medikamente beschert. Zum Beispiel Ziconotid im Jahr 2004, das aus einer marinen Kegelschneckenart gewonnen wurde und hochwirksam gegen schwere chronische Schmerzen ist. Zu weiteren neun Medikamenten laufen klinische Studien. Vetter sagt, Ziconotid zeige zwar, dass aus Gift Peptid-Schmerzmittel gewonnen werden können, es müsse aber in die Rückenmarksflüssigkeit injiziert werden, »was alles andere als ideal ist«. Ihr Team hofft, Schmerzmittel zu entwickeln, die einfacher zu handhaben sind und nur einmal wöchentlich oder seltener eingenommen werden müssen.
Ein Schwerpunkt des Instituts liegt auf den neun verschiedenen Natriumkanälen im menschlichen Körper. Das sind mehrschichtige biologische Schalter, die die elektrischen Signale des Körpers erzeugen und auf sie reagieren. Sie sind an vielen Krankheiten beteiligt, darunter Epilepsie, unregelmäßiger Herzschlag und Nervenschmerzen, die durch Trauma, Operation, Krankheit oder Chemotherapie verursacht werden. Ein Subtyp befindet sich vorwiegend im Herzen, ein anderer fast ausschließlich in der Skelettmuskulatur, und drei Subtypen kommen nur in schmerzempfindlichen Nerven vor. Doch Vetters Team hat dank Skorpiongift entdeckt, dass ein Subtyp für die taktile Wahrnehmung auch eine Rolle bei Schmerzen spielt.
»In der Schmerzforschung sind wir auf dem Stand, auf dem sich die Krebsforschung vor vielleicht 30 Jahren befand«, sagt Vetter. Damals erkannte man: Es ist komplizierter als angenommen. »Wenn Sie Krebs haben, kann ich ein Stück des Krebses herausschneiden und es untersuchen. Wenn Sie Schmerzen haben, kann ich nicht Ihre schmerzempfindenden Nerven herausschneiden, um zu verstehen, was in Ihrem Körper vor sich geht. Es ist daher wirklich schwierig, einen Zusammenhang zwischen dem Schmerz, den ein Patient beschreibt, und einem molekularen Mechanismus zu erkennen.«
In einem unterirdischen Raum befindet sich hinter einer doppelten Stahltür ein Insektarium. Dort befinden sich etwa 100 Behälter von der Art, in der man auch Essen beim Lieferservice bekommt. In jedem sitzt jeweils eine Spinne inmitten etwas Erde. Jäger- und Vogelspinnen sind darunter, außerdem Wolfs-, Falltür-, Trichternetz- und Mäusespinnen; trotz der Vielfalt ist nur ein Bruchteil der 50 000 bekannten Arten vertreten. Darüber hinaus findet man dort eine Sammlung giftiger Tausendfüßer und Skorpione.
Samantha Nixon, eine Doktorandin Glenn Kings, zeigt mir, wie sie das Gift für die Forschung melkt: Sie stellt einen kleinen Behälter mit einer einzelnen Sydney-Trichternetzspinne (Atrax robustus) in eine größere Wanne. Dann nimmt sie eine lange Pipette mit einem dünnen, hohlen Verlängerungsstück und stupst die Spinne sanft am Kopf an, was deren Angriffsmodus auslöst und dazu führt, dass sie ihre Giftdrüse in einem Schwung entleert.
Im Institut werden nicht nur Spinnen, Schlangen und Kegelschnecken, sondern auch Pflanzen als Giftlieferanten erforscht. Zurück in Irina Vetters Büro zeigt mir die Wissenschaftlerin die dichten Härchen auf den Blättern einer kleinen Gympie-Gympie (Dendrocnide moroides), einer australischen Pflanzenart. Bei Berührung injizieren sie wie Injektionsnadeln ein starkes Nervengift.
In einer Studie, die im September 2020 in der Fachzeitschrift »Science Advances« veröffentlicht wurde, entdeckte Vetters Team Toxine, die man bis dahin nur aus dem Gift von Spinnen und Skorpionen kannte. Die chemische Zusammensetzung ist sehr unterschiedlich, doch in beiden Fällen verursacht das Gift Schmerzen durch Modulation von Natriumkanälen in schmerzempfindlichen Nerven. Und in beiden Fällen können die Schmerzen Tage oder sogar Wochen anhalten.
Wie kommt es, dass eine Pflanze ein Neurotoxin entwickelt? Auf diese Frage hat Irina Vetter keine Antwort. Als Schmerzforscherin interessiert sie sich für die Mechanismen des Schmerzes und für unser Schmerzempfinden. Um Behandlungsmethoden zu finden, macht sie manchmal, wie bei der Gympie-Gympie-Nessel, einen Selbstversuch. Sie erinnert sich: »Man bekommt Rötungen und Schwielen und es fängt an zu brennen; der Schmerz wird wellenförmig und kann in die Lymphknoten ausstrahlen. Und man spürt einen tief gehenden Schmerz in den Schultern.« Von ihrer Arbeit am Institut abgesehen hält Irina Vetter sich von giftigen Dingen fern. »Ich gehe nicht raus und sammle Dinge – ich bin arachnophob«, sagt sie und grinst.
Brian Fry erzählt mit amerikanischem Akzent, dass er nach dem Bachelor-Abschluss in Oregon für seine Promotion an die UQ kam und anschließend als Stipendiat in Singapur und Melbourne arbeitete, bevor er sich wieder in Brisbane niederließ, um sein eigenes Labor zu leiten. Dort wimmelt es nur so von Doktoranden aus aller Welt, und es gibt jede Menge Hightech wie das schnellste und zuverlässigste Blutgerinnungsanalysegerät der Welt, das zugleich das einzige Analysegerät in einem Forschungslabor Australiens ist. Es trägt den Namen »Dracula«. »Wir geben unseren Maschinen gerne Namen«, sagt Fry und schmunzelt.
Ein riesiger Schatz
Ein anderes Vorzeigegerät ist ein massiver Glaskubus, in dem sich ein Roboter mit drei Armen befindet – das Herzstück einer 1,6 Millionen US-Dollar teuren Biosensoranlage. Sie ist die einzige südlich des Äquators und misst die Bindung von Molekülen bis zur Größe von zwei Wasserstoffatomen. Sie trägt den Namen »Skynet«, nach dem riesigen superintelligenten Computernetzwerk in den »Terminator«-Filmen.
Frys früheste Erinnerung ist, dass er im Alter von zwei Jahren auf einer Isolierstation gegen die bakteriellen Gifte der Meningitis kämpfte, die Hirnschäden, Lähmungen und Schlaganfälle verursachen kann. Dort musste er an seinem Bett fixiert werden, weil er versucht hatte, die Schläuche für die Medikamentenzufuhr in seiner Schläfe und an seinen Knöcheln herauszuziehen.
»Das ist meine erste Erinnerung: Dass ich von Giftstoffen zerrissen wurde«, sagt er. »Ich erinnere mich an meine kleine blaue Decke und mein gelbes Gummientchen, die wir ins Krankenhaus mitnahmen. Dort wurde mir beides weggenommen und verbrannt.« Er überlebte, verlor aber das Gehör auf dem rechten Ohr und seinen Gleichgewichtssinn.
Dieses Erlebnis löste bei ihm ein lebenslanges Interesse an Giften aller Art aus, daran, was sie bewirken und wie. Das Interesse mündete in eine Faszination für Giftschlangen. »Ich war vier Jahre alt, als ich meinen Eltern sagte, dass ich das Studium von Giftschlangen zu meiner Lebensaufgabe machen würde. Und ich habe es geschafft, diese kindliche Leidenschaft zu meinem Beruf zu machen.«
Medikamente aus Gift
Brasilianische Grubenotter, Bothrops jararaca (1981)
Captopril ist die erste Erfolgsgeschichte eines Medikaments auf der Basis von Schlangengift. Es wurde von einem Toxin abgeleitet, das im Gift der brasilianischen Grubenotter gefunden wurde, und wurde 1981 für den Einsatz beim Menschen zugelassen. Es senkt den Blutdruck, indem es ein natürliches Peptid unterdrückt, das der Körper produziert, um den Blutdruck durch Verengung der Blutgefäße zu erhöhen. Viele andere Medikamente, die den Blutdruck senken – wie Enalapril, Lisinopril, Perindopril und Ramipril – haben eine ähnliche Molekularstruktur wie Captopril.
Pygmäen-Klapperschlange, Sistrurus miliarius barbourin (1998)
Eptifibatid ist ein Antikoagulans, das Blutgerinnsel beim akuten Koronarsyndrom aufhält – ein Überbegriff für die plötzliche Blockierung der Blutversorgung des Herzmuskels. Es ist einem Bestandteil nachempfunden, der im Gift der Südöstlichen Pygmäen-Klapperschlange entdeckt wurde, die in ganz Florida und einem Großteil der südlichen USA vorkommt. Das Medikament wurde 1998 erstmals zugelassen.
Gemeine Sandrasselotter, Echis carinatus (2000)
Tirofiban ist ein synthetischer Thrombozytenaggregationshemmer, der verhindert, dass Zellen im Blut, die so genannten Thrombozyten, aneinanderhaften und ein Gerinnsel bilden, das zu einem Herzinfarkt oder Schlaganfall führen kann. Es ist eine modifizierte Version eines Moleküls, das im Gift der Sandrasselotter vorkommt, die in Indien und Teilen des Nahen Ostens und Zentralasiens beheimatet ist. Das Medikament wurde erstmals im Jahr 2000 zur Anwendung zugelassen.
Europäischer medizinischer Blutegel, Hirudo medicinalis (2000)
Bivalirudin ist ein »direkter Thrombin-Inhibitor« und gehört damit zu einer Gruppe von Medikamenten, die zum Vorbeugen und Behandeln von Embolien und Blutgerinnseln eingesetzt werden. Es ist eine synthetische Version des natürlich vorkommenden Peptids, das in den Giftdrüsen von Blutegeln vorkommt. Es wurde zuerst im europäischen medizinischen Blutegel entdeckt, der in ganz Europa und in Asien bis nach Kasachstan und Usbekistan vorkommt. Im Jahr 2000 wurde es für die Anwendung beim Menschen zugelassen.
Magische Kegelschnecke, Conus magus (2004)
Ziconotid, ein Analgetikum für schwere und chronische Schmerzen, etwa bei Krebs und neurologischen Erkrankungen, ist 1000-mal so stark wie Morphin und wurde 2004 zur Anwendung zugelassen. Es wird aus einer Meeresschneckenart gewonnen, die auf den Philippinen, vor Queensland und in Gebieten des Pazifischen und Indischen Ozeans vorkommt. Wenn es in die Rückenmarksflüssigkeit injiziert wird, wirkt es durch die Blockierung von Kalziumkanälen in schmerzübertragenden Nervenzellen; dadurch sind diese nicht mehr in der Lage, Schmerzsignale an das Gehirn weiterzuleiten.
Gila-Krustenechse, Heloderma suspectum (2005)
Exenatide wird zur Behandlung von Typ-2-Diabetes eingesetzt und kann als einmal wöchentliche Injektion verabreicht werden. Das Peptid ist eine synthetische Version eines Hormons, das im Gift der Gila-Krustenechse, einer im Südwesten der USA und im Nordwesten Mexikos beheimateten Gifteidechse, vorkommt. Es wurde 1992 entdeckt und 2005 für den menschlichen Gebrauch zugelassen. Es wird Diabetikern verschrieben, deren Blutzucker durch andere Medikamente nicht gut kontrolliert werden kann.
Diese Leidenschaft hat Fry auf der Suche nach giftigen Lebewesen quer über den Globus geführt. Jetzt ist er verheiratet und hat ein kleines Kind, daher meidet er das, was er als seine »verrückte voreheliche Vergangenheit« bezeichnet. Seine Frau Kristina nennt es »Reisen an weit entfernte Orte, um sich auf ungewöhnliche Weise umzubringen«.
Im Labor hat er auch einen »eingelegten Zoo« mit konservierten Gifttieren und fertigt mit Hilfe eines 3-D-Druckers Repliken ihrer Schädel an. »Wir sind an den Giftdrüsen interessiert. Mit diesen Abdrücken können wir uns Veränderungen in der Schädelmorphologie ansehen und diese zu Veränderungen im Giftabgabeapparat und zum Gift selbst in Bezug setzen. Alles zusammen funktioniert wie ein integriertes Waffensystem.«
Für exotische Gifte unternimmt Fry immer noch gelegentlich eine Expedition, aber meistens ist er auf sein Netzwerk von Forscherkollegen und deren Streifzüge in die Wildnis angewiesen. Um gewöhnlichere Gifte zu besorgen, verlässt er sich auf seine Laborleiterin Christina Zdenek, eine Postdoc-Forschungsstipendiatin und ehemalige Doktorandin, die einige der tödlichsten Schlangen Australiens zu Hause hält.
Das Stadthaus in einem Vorort teilt sie mit ihrem Mann Chris Hay – selbst Herpetologe und ehemaliger lizenzierter Schlangenvorführer – und mit 21 Schlangen: Küstentaipane, Todesottern und Östliche Braune mit Namen wie Squishy, El Diablo, Mr. Naughty, Lumpy und Casper. Zdenek beugt sich über eine Glasvitrine und hebt einen giftigen Küstentaipan hoch. In der linken Hand hält sie den Schwanz, in der rechten einen Haken, um den Kopf der Schlange sanft auf Abstand zu halten.
Zdenek stammt wie Fry aus den USA und machte ihren Bachelor-Abschluss in Biologie in Kalifornien. Nach Australien kam sie, um Palmkakadus zu studieren, bevor sie an der UQ über ihre erste Liebe, Schlangen, promovierte. Genauer gesagt, über die Toxikologie und den Schutz der Todesotter (Acanthophis antarcticus), einer der giftigsten Landschlangen der Welt. Ironischerweise sind Todesottern, die über ein tödliches neurotoxisches Gift verfügen, selbst durch Rohrkröten bedroht: Die Amphibie frisst junge Todesottern, und erwachsene Todesottern, die die Kröten fressen, werden durch die giftigen Drüsen auf deren Haut vergiftet.
Zdeneks Liebe zu Schlangen begann im Alter von fünf Jahren, als ihre älteren Brüder eine südamerikanische Boa constrictor als Haustier bekamen. Mit elf Jahren begann sie, Schleierchamäleons zu züchten und wuchs mit allen möglichen Reptilien im Haus auf. »Es sind fantastische Haustiere. Sie sind nicht laut, zerstören nicht die Möbel und je nach Art kann man sie wochenlang allein lassen, wenn man im Urlaub ist.« Schon als kleines Mädchen studierte sie ihr Verhalten. »Ich liebe es immer noch, Schlangen anzufassen und sie aus der Nähe zu betrachten.«
Die Biologin hofft, dass die Öffentlichkeit durch den Nutzen, den Schlangen und andere giftige Tiere für die Wissenschaft und Medizin haben, in Zukunft stärker erkennt, dass sie nicht nur wichtige Aufgaben in der Natur erfüllen, sondern auch wertvoll für die Gesellschaft sind. »Gift ist im Baum des Lebens sehr verbreitet«, sagt sie. »Die Evolution hat im Lauf von hunderten Millionen Jahren diese speziellen Cocktails hervorgebracht, mit denen sich der Beutefang vom physischen Kampf zur biologischen Kriegsführung wandelte. Für uns Menschen ist das ein riesiger Schatz.«
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