Känguru-Methode: Haut an Haut für den perfekten Start ins Leben
Carmela Torres war 18, als sie zum ersten Mal schwanger wurde. Das war in den 1980er Jahren, als sie und ihr jetziger Ehemann Pablo Hernandez auf der Suche nach Freiheit und einem besseren Leben nach Bogotá zogen. Aufgewachsen waren sie in der Küstenregion von Montería in Kolumbien. Als Torres ihrem Vater erzählte, dass sie, obwohl unverheiratet, in anderen Umständen sei, ärgerte ihn das so sehr, dass er nicht mehr mit seiner Tochter sprach.
Doch Torres ließ sich nicht einschüchtern. Ihre Schwangerschaft verlief problemlos, bis eines Nachmittags im Dezember plötzlich heftige Wehen einsetzten. Bis zum errechneten Geburtstermin waren es noch über zwei Monate! Sie rief Hernandez, und zusammen eilten sie in das Mutter-Kind-Hospital Instituto Materno Infantil im Osten Bogotás. Schon kurz nach der Ankunft brachte sie auf natürlichem Weg einen Jungen zur Welt, der gerade einmal 1650 Gramm wog.
Bevor sie ihn überhaupt im Arm halten konnte, wurde er auf die Neugeborenen-Intensivstation gebracht. Man erklärte ihr nur, sie solle sich anziehen und nach Hause gehen. »Ich durfte ihn nicht einmal anfassen«, erzählt sie. »Sie sagten, ich könne wiederkommen und ihn sehen. Aber die Zeiten waren sehr beschränkt, auf wenige Stunden am Tag. Bei meinen Besuchen durfte ich ihn nur betrachten, nicht berühren.« Am dritten Tag wollte sie gerade zu ihrem Sohn aufbrechen, als das Telefon klingelte. »Es war das Krankenhaus. Sie riefen an, um mir mitzuteilen, dass mein Kind tot war. Sie nannten mir keine Todesursache oder Diagnose. Ich hatte ihm noch nicht einmal einen Namen gegeben.«
Torres war traumatisiert und drohte in eine Depression zu versinken. Sie wusste, dass sie etwas tun musste, um wieder auf die Beine zu kommen. Also meldete sie sich zu einem Ausbildungsprogramm für Lehrer an und vergrub sich in ihre Studien. »So hatte ich etwas, auf das ich mich konzentrieren konnte«, berichtet sie. »Das hat mich gerettet.«
Mehr als fünf Jahre vergingen, bevor Torres zu einer weiteren Schwangerschaft bereit war. Diesmal war es anders. Mittlerweile war sie mit Hernandez verheiratet und hatte sich gut in Bogotá eingelebt. Sogar ihr Vater sprach wieder mit ihr. Sie freute sich so sehr auf die Geburt, dass sie einige Monate vor dem Termin eine große Babyparty gab. Doch am Tag des Festes rasten wie damals auf einmal starke Wehen durch ihren Körper. Sie fühlte sich, als liefe sie gegen eine Wand. Sie lächelte, verlor kein Wort darüber und tat, als würde nichts geschehen. Aber als am Abend alle Gäste fort waren, konnte sie es nicht länger verbergen. Sie vertraute sich ihrem Mann an, der sie wieder umgehend ins Instituto Materno Infantil brachte.
»Als wir eintrafen, war der Arzt furchtbar wütend, dass ich nicht früher gekommen war. Er sagte, die Geburt stehe unmittelbar bevor«, erinnert sich Torres. »Ich war wie versteinert. Ich wollte keine weitere Frühgeburt! Man brachte mich auf genau die gleiche Station, in der mein verstorbenes Baby zur Welt gekommen war. Die Erinnerungen strömten auf mich ein. Ich stand unter riesigem Stress.« Am nächsten Morgen um ein Uhr gebar Torres erneut einen Jungen. Sie gab ihm sofort den Namen Julian. Er wog fast ebenso viel wie ihr Erstgeborener, und wie damals wurde auch er sogleich auf die Intensivstation gebracht. Die Geschichte schien sich zu wiederholen.
Ein Fünkchen Hoffnung
»Eine lange, schreckliche Nacht hatte ich Angst, noch ein Baby zu verlieren«, erinnert sie sich. »Aber am nächsten Morgen besuchte mich eine Ärztin. Sie erzählte mir von der so genannten Känguru-Methode, bei der ich selbst als menschlicher Brutkasten wirken und mein Kind mit mir nach Hause nehmen könne.«
An diesem Tag bekam Torres gezeigt, wie sie ihr Kind unter ihrer Kleidung aufrecht zwischen ihren Brüsten halten musste, so dass seine Atemwege frei blieben. Keine noch so dünne Stoffschicht durfte sie von ihrem Säugling trennen. Er benötigte ununterbrochen direkten Hautkontakt. Sie lernte, ihr Baby zu stillen, auf Kissen gestützt auf dem Rücken zu schlafen, und versprach, es auf keinen Fall zu baden, da es darüber kostbare Energie verlieren würde. Am nächsten Nachmittag verließ Torres das Krankenhaus mit ihrem Sohn, den sie unter einer Decke fest an ihre Brust gebunden hatte.
»Julian war sehr klein und zerbrechlich, aber ich war glücklich, ihn mitnehmen zu können und nicht dort lassen zu müssen, wo mein anderes Baby gestorben war«, erklärt sie. »Ihn zu stillen war nicht einfach, doch ich hatte viel Unterstützung. Zuerst musste ich jeden Tag zu Untersuchungen im Krankenhaus erscheinen, und ich erhielt eine Handynummer, die ich bei Bedarf jederzeit anrufen konnte. Wir mussten noch einmal in die Klinik, als sich Julians Nabelschnur entzündete, und für eine Lichttherapie, als er Gelbsucht bekam. Aber alles in allem trug ich ihn einen Monat lang, 24 Stunden am Tag, in Wechselschichten mit meinem Mann, bis er sein Zielgewicht von 2500 Gramm erreicht hatte. Dann brauchte er das nicht länger, und wir konnten ihn endlich zum ersten Mal baden.«
Die Känguru-Methode oder KMC (nach der englischen Bezeichnung kangaroo mother care) geht auf den kolumbianischen Kinderarzt Edgar Rey Sanabria in Bogotá zurück, der sie bereits 1978 am Instituto Materno Infantil ausprobiert hatte. Die Idee war aus der Verzweiflung geboren. Die Mutter-Kind-Klinik kümmerte sich um die Ärmsten der Stadt, die in wackligen, provisorischen Unterkünften zusammengepfercht am Fuß der umliegenden Berge lebten. Zu diesem Zeitpunkt handelte es sich um die größte Neugeborenenstation Kolumbiens, die jährlich Geburten von mehr als 30 000 Kindern begleitete. Sie war so überbelegt, dass sich drei Frühchen einen Inkubator teilen mussten. Es kam ständig zu gegenseitigen Ansteckungen. Die Sterberate stieg, und immer häufiger fanden es Frauen aus sehr armen Verhältnissen leichter, ihre Kinder einfach zurückzulassen, nachdem sie diese ja nicht einmal hatten berühren dürfen.
Auf der Suche nach einer Lösung fiel Rey Sanabria eine physiologische Abhandlung über Kängurus in die Hände. Darin stand, dass die Tiere bei ihrer Geburt nackt und kaum größer als eine Erdnuss sind – mindestens so unreif wie ein menschliches Frühchen. Im Beutel der Mutter jedoch wird die Körpertemperatur des Känguru-Jungen, das noch kein Fell hat, durch den direkten Hautkontakt reguliert. Es saugt sich an der Zitze fest und bleibt im Beutel, bis es etwa ein Viertel des Körpergewichts der Mutter erreicht. Dann ist es bereit, in die Welt hinauszuspringen.
Das lieferte Rey Sanabria die zündende Idee, und er beschloss, sie sogleich zu testen: Im Krankenhaus brachte er mehreren Müttern von Frühgeborenen bei, diese ähnlich wie Kängurus zu tragen. Zusammen mit seinem Kollegen Hector Martinez erklärte er ihnen, wie wichtig das Stillen ist, und entließ sie, sobald die Babys bereit dazu waren. Die Ergebnisse waren bemerkenswert. Die Sterbe- und Infektionsrate nahm ab. Die Überbelegung ließ nach, da die Frauen kürzer im Krankenhaus blieben, Inkubatoren wurden frei, und weniger Babys wurden von ihren Müttern verlassen.
Gute Stimmung auf der Intensivstation
Es ist acht Uhr morgens, und die KMC-Station der San-Ignacio-Universitätsklinik im Zentrum von Bogotá ist bereits brechend voll. Reihenweise Frauen und überraschend viele Männer stehen dicht gedrängt – ein Meer von farbenfrohen Strickmützen und Mänteln, mit denen sich die Menschen vor dem unberechenbaren Wechsel von Hitze zu Regen und Hagel in dieser Stadt schützen. Sie sitzen auf schmalen Bänken in der Mitte des Raums, und winzige Köpfchen schauen, eng an Oberkörper geschmiegt, himmelwärts. Die Atmosphäre ist warmherzig und lebhaft; so ganz anders als die sterile Umgebung einer typischen Intensivstation für Neugeborene.
Viele haben sich offenbar auf einen längeren Tag eingerichtet. Eine Frau packt ihr Strickzeug aus, eine andere hat ihre ganze Familie dabei. Fünf Kinderärzte stehen aufgereiht hinter einer langen, hohen Bank und untersuchen Baby um Baby, prüfen deren Reaktionen und bewegen die Gliedmaßen in verschiedene Richtungen. An einem durchschnittlichen Tag sehen sie mehr als 100 Kinder. Für einen Raum voller Neugeborener ist es überraschend friedlich. Kein einziges Baby schreit.
»Normalerweise sind solche Stationen für Angehörige geschlossen und haben nur begrenzte Besuchszeiten«, erklärt die französische Kinderärztin Nathalie Charpak, welche die Abteilung leitet. »Die offene Station ist ein wichtiger Faktor für die Känguru-Methode. Die Eltern lernen einander kennen und gewinnen Zuversicht, wenn sie sehen, dass andere mit ihren kleinen Babys das Gleiche tun. Und die Infektionsrate ist bei offenen Stationen geringer – die Eltern würden es mitbekommen, wenn sich die Mediziner nicht ihre Hände waschen.«
Stillen für Anfänger
In einer Ecke findet Intensivunterricht im Stillen statt. Die 26-jährige schwarzhaarige Eleanora Rodrigez aus dem Norden Bogotás kam gerade von einem Spaziergang im Park zurück, als plötzlich ihre Fruchtblase platzte. Sie gebar in der 32. Woche die Zwillinge Henry, der 1700 Gramm wog, und Joaquim mit nur 1450 Gramm. Ihr etwas nervöser Ehemann weicht nicht von ihrer Seite und liest ihr jeden Wunsch von den Lippen ab. Heute lernt Rodrigez, ihr Baby recht kräftig an Kopf, Stirn, Oberlippe und Kinn zu massieren, um die Saugbewegung zu stimulieren. Vor allem Joaquim schläft immer wieder ein.
»Es ist wirklich schwierig«, räumt Rodrigez ein, während sie sich müht, die Sauerstoffschläuche der beiden Säuglinge zu entwirren. »Sie werden alle zwei Stunden gestillt. Jeden Tag müssen sie pro Kilogramm Körpergewicht 15 Gramm zunehmen, genau wie sie es auch im Mutterbauch tun würden. Solange das funktioniert, wissen wir, dass alles in Ordnung ist. Ich warte darauf, dass sie endlich die magische Grenze von 2500 Gramm erreichen.«
In einem Nebenzimmer unterrichtet ein klinischer Psychologe eine kleine Gruppe von Müttern im Teenageralter, die größtenteils ziemlich unsicher wirken. Eine von ihnen, in einer schmuddeligen grauen Trainingshose und einem Fußballshirt, sieht aus, als wäre sie gerade mal 12 oder 13. Ihr Baby ist so klein, dass man sich fast scheut, es zu berühren; aber sie geht mit einer Unbeschwertheit mit ihm um, wie sie nur der Jugend vergönnt ist. Alle Kinder hier kamen vor der 37. Woche zur Welt oder wogen unter 2500 Gramm.
Nathalie Charpak kam 1986 von Frankreich nach Bogotá, weil sie sich in einen kolumbianischen Universitätsprofessor verliebt hatte. So landete sie im Instituto Materno Infantil, wo sie mit Rey Sanabria und Martinez zusammenarbeitete. Charpak konnte die Erfolge kaum glauben, obwohl sie diese mit eigenen Augen sah. Sie wusste sofort: Hier waren strenge wissenschaftliche Untersuchungen erforderlich, um der Welt zu beweisen, dass man etwas Besonderem auf der Spur war.
1989 führte sie eine Studie mit einer Gruppe von Babys aus zwei der ärmsten Krankenhäuser der Stadt durch. Damit wies sie nach, dass KMC sicher ist. Selbst die kleinsten Frühgeborenen starben nicht, wenn man sie aus dem Inkubator nahm. 1994 organisierte sie dann mit finanzieller Unterstützung einer gemeinnützigen Schweizer Organisation eine wesentlich umfangreichere Studie, bei der die Babys zufällig der Känguru- oder der Kontrollgruppe zugeteilt wurden. Sie bewies schlüssig, dass mit KMC nicht nur weniger Kinder starben, sondern zudem die Stillrate höher, die Verweildauer im Krankenhaus kürzer und die Infektionsrate geringer war.
Charpak ist nun über 60 und lebt bereits seit 30 Jahren in Bogotá. Ihre Arbeit ist zu ihrem Lebensinhalt geworden. Zusätzlich zu ihrer Kliniktätigkeit leitet sie die gemeinnützige Stiftung Fundación Canguro, eine Stiftung zur Erforschung und Förderung der Känguru-Methode.
Ein Leben für die Känguru-Methode
Zusammen mit ihr arbeitet in der Stiftung ihre junge Kollegin Julieta Villegas, die darauf vorbereitet wird, die Leitung zu übernehmen, wenn Charpak irgendwann aufhören will. Die beiden strahlen eine unübersehbare Kraft aus. Sie sind angetrieben von einem unerschütterlichen Vertrauen in die Känguru-Methode, und es ist schwer, sich von ihrer Begeisterung nicht anstecken zu lassen. Auch gibt es bereits mehr als 1600 Studien, die belegen, dass KMC viel mehr bewirkt als nur eine Gewichtszunahme des Babys.
Die Untersuchungen zeigen beispielsweise, dass ein »Känguru-Baby« eine stabilere Bindung zu seinen Eltern entwickelt als Frühgeborene, die herkömmlich versorgt werden. Herz- und Atemfrequenz normalisieren sich früher. Der Säugling kann sich erfolgreicher selbst regulieren, ist ruhiger und schläft besser. Auch die Mütter leiden nach der Frühgeburt weniger an Wochenbettdepressionen. Am bemerkenswertesten ist jedoch, dass die Kinder, die im Alter von zwölf Monaten getestet wurden, kognitiv weiter entwickelt waren als vergleichbare Frühchen.
»Natürlich geht es bei der Känguru-Methode um viel mehr als nur darum, das Leben des Babys zu retten«, betont Charpak. »Es geht darum, dass es sich gut entwickeln kann, um seine bestmögliche Lebensqualität. Ich kämpfe schon mein Leben lang dafür zu zeigen, dass KMC nichts mit Trost oder Massage oder einem weichgespülten Verwöhnprogramm zu tun hat. Die Durchführung ist nicht einfach. Jedes Baby wird während seines ersten Lebensjahrs alle sechs Wochen sorgfältig untersucht. Aber die Vorteile sind gewaltig.«
Es ist zum Großteil Charpaks Hartnäckigkeit gegenüber dem Gesundheitsministerium zu verdanken, dass die Känguru-Methode inzwischen in der kolumbianischen Gesetzgebung verankert ist. Alle Frauen mit frühgeborenen oder untergewichtigen Babys werden ganz selbstverständlich zum nächsten KMC-Zentrum überwiesen.
Wir fahren hinaus nach Tunja in den östlichen Anden, um uns die dortige Abteilung anzusehen. Sturzfluten haben die Straßen in reißende graue Schlammflüsse verwandelt. Die Armut ist hier noch größer, und man spürt die Verzweiflung der Menschen. Die meisten Einheimischen sind Bauern, die ihren Lebensunterhalt mit dem Anpflanzen von Kartoffeln und Mais bestreiten. Die KMC-Abteilung des San-Rafael-Hospitals wird von der ortsansässigen Kinderärztin Jenny Lizarazo Medina geleitet. Sie erklärt mir, dass 40 Prozent der hiesigen Frauen untergewichtige Babys zur Welt bringen; nicht auf Grund von Frühgeburten, sondern weil die Mütter während der Schwangerschaft Hunger leiden.
Die 24-jährige Maria ist eine von ihnen. Sie hat ihre Tochter Natalia die volle Zeit ausgetragen, aber das Baby wog bei der Geburt nur 2170 Gramm. Maria erscheint in einem ausgeleierten türkisfarbenen Trainingsanzug zu ihrer täglichen Untersuchung. Sie zieht einen klobigen Sauerstofftank hinter sich her, und ihre Augen tränen vor Erschöpfung. Tunja liegt als eine der höchsten Städte in Kolumbien 3000 Meter über dem Meeresspiegel. Daher benötigen viele der Babys hier zusätzlich Sauerstoff.
Die weiten Wege zum Krankenhaus sind ein Problem. Maria ist vorübergehend zu ihrem Onkel gezogen, der in der Nähe wohnt, während ihr Mann weiterhin zu Hause im nördlich gelegenen Cómbita in einer Recyclingfabrik arbeitet. Daher macht Maria alles allein. Jeden Tag trägt sie ihr Baby und zieht den Sauerstofftank einen steilen Berg zurück zu ihrer Unterkunft hinauf. Ganz am Anfang konnte Natalia nicht saugen, darum fütterte Maria sie stundenlang Tag und Nacht mit Muttermilch aus einer kleinen Tasse. »Mein Baby verändert sich jeden Tag und macht gute Fortschritte«, sagt Maria. »Und immer, wenn ich herkomme, sagen sie etwas Gutes über meine Tochter. Das macht mir Mut.«
Aufkeimendes Interesse
Eines der ersten anderen Länder, die sich näher mit den Erfolgen in Bogotá befassten, war Venezuela. 1994 kam ein kleines Team von einem Krankenhaus ähnlich dem Instituto Materno Infantil und sah sich die Känguru-Methode mit eigenen Augen an. Weitere folgten, hauptsächlich aus Niedriglohnländern: 1995 aus Brasilien, 1996 aus Äthiopien, kurz danach aus Madagaskar, Indien, Kamerun und anderen. Charpak lud sie zu sich nach Hause ein und verpasste ihnen ein 15-tägiges Intensivtraining. Heutzutage kommen die Besucher in der Zentrale der Känguru-Stiftung in Bogotá unter. Danach kehren sie nach Hause zurück, um ihre eigenen KMC-Programme zu starten.
Viele davon sind sehr erfolgreich. In Malawi, das mit 181 von 1000 die weltweit höchste Rate an Frühgeburten aufweist, verfügt mittlerweile jeder Bezirk über ein entsprechendes Zentrum. Bis 2005 sank innerhalb von zehn Jahren die Anzahl der Säuglinge, die das erste Jahr nicht überlebten, von 72 auf 43 je 1000 Babys. »Ich konnte den deutlichen Rückgang der Sterblichkeit genau beobachten«, erklärt Indira, eine Hebamme am Zomba Central Hospital im südlichen Malawi. »Außerdem gibt es, seit die Säuglinge zu Hause versorgt werden, weniger Engpässe auf der Station. Und die Kosten sind gesunken, da weniger Strom verbraucht wird. Die Mutter ist eine perfekte Wärmequelle für ihr Baby.«
Laut einer Studienanalyse des weltweiten Forschernetzwerks Cochrane verringert die Känguru-Methode die Sterblichkeit von zu früh geborenen Babys um 33 Prozent. Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass sich durch KMC jährlich 450 000 Leben retten lassen. Widerstand kommt von unerwarteter Seite: Einige Mediziner, Krankenschwestern und selbst Kinderärzte können nur schwer akzeptieren, dass die Haut und Körperwärme der Mutter jede andere Methode übertrifft, die zur Verfügung steht. Das fällt umso schwerer, wenn man zuvor hart darum gekämpft hat, die eigene Klinik mit nagelneuen Inkubatoren auszustatten, erklärt Charpak.
Zwar wurde die Känguru-Methode aus der Not geboren, doch jetzt kämpfen Charpak und Villegas gegen die Ansicht, es handle sich nur um eine Notlösung für Arme. »Es ist keine billige Alternative – etwas, was man nur in ärmeren Ländern tut«, betont Charpak. »Es sind durchaus Kosten damit verbunden. Und es stellt eine reguläre Behandlung von Neugeborenen mit klinisch nachgewiesenen Vorteilen dar.« Allerdings ist KMC unbestreitbar günstig. Die übliche Versorgung eines Frühgeborenen in den USA verschlingt schätzungsweise zwischen 2500 und 4600 Euro pro Tag. Im Gegensatz dazu kostet das Känguru-Programm in Ländern wie Kolumbien lediglich knapp vier Euro täglich.
Susan Ludington von der Case Western Reserve University in Cleveland im US-Bundesstaat Ohio stattete Bogotá bereits 1988 einen Besuch ab, nachdem sie einen kurzen Videobericht über die dort praktizierte Känguru-Methode gesehen hatte. »Ich kam mit einem Forscherteam zum Instituto Materno Infantil, und was ich sah, hat mich einfach überwältigt«, erinnert sich Ludington. »Die Babys waren so friedlich und ruhig. Sie schliefen tief und fest, dann wachten sie auf und saugten kraftvoll Milch. Unsere Frühgeborenen waren ständig unruhig und schliefen nicht gut. Sie lagen alle in Inkubatoren. Bei uns kamen die Mütter auch ins Krankenhaus, aber sie nahmen die Babys natürlich nicht auf den Arm.«
Nach ihrer Heimkehr versuchte Ludington in den USA die Känguru-Methode weiter zu erforschen. »Ich besuchte 18 verschiedene Kliniken im Gebiet von Los Angeles. Alle wiesen mich ab. Sie meinten, ich solle das zunächst an Menschenaffen testen. Und warum sollte man ein Frühgeborenes einer Mutter auf die riechende, verschwitzte Brust legen? Und wenn das Baby unterkühlt wird, würden sie womöglich noch verklagt.«
Doch schließlich stimmte der Leiter der Neugeborenenstation des Hollywood Presbyterian Medical Center ihrer Studie zu, der ersten ihrer Art in den USA. »Wir testeten, ob die Methode sicher war, und das war sie. Sogar mehr als sicher«, erzählt Ludington. »Heute wissen wir, dass der beste Infektionsschutz für ein Baby darin besteht, mit den Bakterien der eigenen Mutter besiedelt zu werden, und dass der direkte Hautkontakt wichtig für die Hirnentwicklung ist. Und es ist auch die erfolgreichste Methode gegen Überzuckerung. Was wir 1988 noch nicht wussten, ist, dass es auf der Brust des Babys eine ganze Reihe von Nerven gibt, die nur durch den direkten Hautkontakt stimuliert werden und Oxytozin-Botschaften an das Gehirn senden.«
KMC reist um die Welt
Auf der Karte an der Wand der Känguru-Stiftung in Bogotá erkennt man die Standorte von KMC-Zentren in mittlerweile nahezu 70 Ländern weltweit, unter anderem in Australien, Spanien und Frankreich. Diese einfache und zugleich raffinierte Idee verbreitet sich nun sogar in den reichsten Regionen unserer Welt. In Teilen Skandinaviens gehört sie bereits zum Standard. Führend auf diesem Gebiet ist die Universitätskinderklinik im schwedischen Uppsala. Sie praktiziert den direkten Hautkontakt zur Mutter bei Babys, die nach nur 25 Wochen zur Welt kamen. (In Deutschland bieten viele Kliniken »Känguruen« an, jedoch mit unterschiedlichen Einschränkungen, was die Dauer sowie gesundheitlichen Voraussetzungen des Säuglings betrifft; Anm. d. Red.)
Im November 2016 traf sich eine Gruppe mit Charpak, Villegas und Ludington zu einer Besprechung im italienischen Triest. Es war der 20. Jahrestag des ersten globalen KMC-Treffens, wobei die Gruppe inzwischen stark gewachsen ist. Charpak und Villegas präsentierten die bisher ambitionierteste Studie zur Känguru-Methode. Sie hatten versucht, alle 716 Familien ausfindig zu machen, die an der ursprünglichen Untersuchung 1994 teilgenommen hatten. Mit ihrer Hilfe wollten sie die Auswirkungen von KMC nach 20 Jahren messen und prüfen, ob die Vorteile fortbestanden. Nach landesweiten Aufrufen in Radio, Fernsehen und Presse meldeten sich 441 der damaligen »Känguru-Mütter«.
Eine der Ersten war Carmela Torres. Sie hatte sieben Jahre nach Julians Geburt sogar ein weiteres Frühchen zur Welt gebracht. Pablo kam mit 33 Wochen und 1600 Gramm zur Welt, noch früher und leichter als seine Brüder. Torres erinnerte sich gut an Charpak. »Sie behandelte Julian wie ihren eigenen Sohn. Als er wegen einer Nabelschnurentzündung wieder ins Krankenhaus musste, ging ich immer ganz früh morgens und spät abends hin, um ihn nach Känguru-Art zu tragen. Wann immer ich zu spät kam, hatte Dr. Charpak ihn bereits genommen und trug ihn selbst in der Position. Beim zweiten Mal war KMC ganz anders. Ich war zuversichtlich und wusste genau, was ich tat. Pablo nahm viel schneller zu als Julian.«
Der mittlerweile 22-jährige Julian wurde zusammen mit all den anderen ehemaligen »Känguru-Babys« sorgfältig untersucht. Dazu gehörten neuronale Bildgebung, Blutabnahmen, körperliche Tests und die Erhebung psychosozialer Parameter. Zudem bestimmten die Forscher das Selbstwertgefühl, die Neigung zu Depressionen, Hyperaktivität, Aggressivität und etliche weitere psychologische Aspekte. Dasselbe Programm durchliefen mittlerweile erwachsene Teilnehmer der damaligen Kontrollgruppe.
»Die Resultate sind bahnbrechend«, meint Villegas. »Wir fanden heraus, dass die ehemaligen ›Känguru-Kinder‹ weniger hyperaktiv und sozialer sind. Sie haben auch ein höheres Einkommen. Das ist besonders aussagekräftig, da sie aus einer ursprünglich sozioökonomisch schwächeren Gruppe stammen.« Wenn die Väter geholfen hatten, die Babys zu tragen, waren die Paare zudem eher zusammengeblieben.
Der Nachwuchs von Familien mit prekärem sozioökonomischem Hintergrund erziele dieselben Resultate wie der von besser gestellten Familien, vorausgesetzt man unterstütze die Mutter dabei, sich um ihr Kind zu kümmern. »Auf diesem Weg lassen sich Unterschiede im sozialen Status und bei den Bildungschancen verringern«, betont sie. »Mit der Känguru-Methode bekämpfen wir die Ungleichheit. Denn wir retten nicht nur Leben, wir ändern sie auch.«
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