Gletscher der Anden: Kalter Abschied
Im Schatten eines Lehmhauses oberhalb des peruanischen Rio Santa blinzelt Jimmy Melgarejo zum Doppelgipfel des Huascarán, der vor einem wolkenlosen Himmel aufragt. "Der Schnee zieht sich immer weiter zurück", erzählt Melgarejo. Der Bauer fürchtet um seine Existenz: "Die Schneegrenze wandert den Berg hoch, Stück um Stück. Wenn der Schnee weg ist, wird es kein Wasser mehr geben."
Überall in den Anden äußern Menschen dieselbe Sorge angesichts der schwindenden Eisflächen in den Bergen auf Grund des Klimawandels. Jeder fürchtet eine Wasserknappheit, doch wie schnell sie kommen und wie schwer sie ausfallen wird, weiß niemand.
Ein internationales Forscherteam, gefördert von der National Science Foundation der USA, versucht nun, Antworten zu finden. Das Team aus Hydrologen, Geochemikern, Geografen und Historikern vor allem aus den USA und Kanada überwacht Schmelzwasser auf seinem Weg vom Gletscher bis ins Meer. Sie wollen Modelle entwickeln, die den Wasserabfluss vorhersagen und wie sich dies auf die Menschen entlang des Flusses auswirkt. Die rapiden Veränderungen in den Anden "erfordern eine neue Art von interdisziplinären, ganzheitlichen Studien", erklärt der Geograf Bryan Mark von der Ohio State University, einer der leitenden Wissenschaftler. "Wir versuchen, die traditionellen Grenzen zu überschreiten, indem wir Wasser und Menschen in unseren Untersuchungen verknüpfen."
Peru vereint die weltweit größte Masse an tropischen Gletschern, die meisten davon liegen in der Cordillera Blanca, den "weißen Bergen". Die schneebedeckte Gebirgskette weist die höchste Gletscherdichte der Tropen auf, erklärt Mathias Vuille, Klimatologe an der State University of New York in Albany. Sie bildet die majestätische Kulisse für den Rio Santa, der sich aus den eisigen Höhen 347&Kilometer bis zu seiner Mündung bei Chimbote ins Tal schlängelt. Angesichts dieser riesigen Eismassen und der davon abhängigen hunderttausenden Menschen bietet sich das Flusstal an, die Folgen des Klimawandels zu untersuchen.
Diese bislang umfassendste Studie zu schmelzenden Gletschern und den Auswirkungen auf die Bevölkerung soll politische Entscheidungsträger mit den wichtigsten Informationen ausstatten, wie sich die Region an den Klimawandel anpassen kann, meint Mark. Das Projekt könne zudem die Modellbildung für andere Einzugsgebiete in den Anden oder auch so ferne Regionen wie den Himalaja unterstützen.
Die bisherigen Ergebnisse ergeben ein eher gemischtes Bild. Trotz der Befürchtungen von Melgarejo und anderen Anwohnern wird der Rio Santa auch in der Trockenzeit nicht vollständig austrocknen. Der steigende Bedarf nach Wasser für Trinkwasser, Bewässerung und Stromerzeugung wird jedoch zu Konflikten um die schwindende – und zunehmend teurere – Ressource führen. Viel Zeit für die Planung bleibt nicht: "Das ist bereits die Realität", sagt Teammitglied Michel Baraer, Hydrologe an der Université du Québec. "Wir haben keine 50 Jahre, um uns darauf vorzubereiten."
Heiße Zeiten
An einem frischen Morgen im Juli klettern Mark, Baraer und noch einige Kollegen einen blumengesäumten Pfad zur Laguna Cuchillacocha hoch. Der See liegt rund 4600 Meter über dem Meeresspiegel, direkt am Fuß eines Gletschers des Pucaranra. In Schichten arbeiten sie dort Tag und Nacht: Alle halbe Stunde machen sie Infrarotaufnahmen vom Gletscher und dem umgebenden Gestein. Instrumente an und nahe der Gletscherzunge zeichnen die Sonneneinstrahlung, Windrichtung und -geschwindigkeit, Temperatur und Luftfeuchtigkeit auf.
Die Forscher untersuchen, wie schnell sich das Eis, das Gestein und der See im Laufe des Tages erwärmen und in der Nacht abkühlen. Diese Daten wollen sie mit Fernerkundungsdaten von Satelliten und Flugzeugen korrelieren, die detailliert die Ausdehnung und die Dicke der Eisschicht wiedergeben. Daraus, so hoffen die Wissenschaftler, lässt sich ein Modell entwickeln, wie schnell sich die Gletscher der Cordillera Blanca zurückziehen und welche Folgen daraus resultieren.
"Das ist bereits die Realität. Wir haben keine 50 Jahre, um uns darauf vorzubereiten"
Michel Baraer
Frühere Studien haben gezeigt, dass die Gletscher seit 1970 um 20 bis 30 Prozent geschrumpft sind und dass sich die Rückzugsrate offenbar beschleunigt. Antoine Rabatel von der Université Joseph Fourier de Grenoble und seine Kollegen vom L'Institut de recherche pour le développement (IRD) in Marseille berichten zudem, dass die Gletscherfläche in den tropischen Anden inzwischen um drei Prozent jährlich abnimmt [1].
Da sich die Niederschlagsmenge in den letzten Jahrzehnten kaum verändert hat, machen Wissenschaftler die steigenden Temperaturen für den Rückzug verantwortlich: Seit den 1970er Jahren hat sich die Region um 0,1 Grad Celsius pro Jahrzehnt erwärmt, sagte der Glaziologe Rabatel auf einer Konferenz an der Universidad Nacional Santiago Antúnez de Mayolo im peruanischen Huaraz Anfang Juli.
Gletscher in über 5400 Metern Höhe – wie auf dem Huascarán, Perus höchstem Berg – werden schrumpfen, aber überleben, meint Rabatel, da die Temperaturen dort auch weiterhin relativ niedrig bleiben. Die Gletscher in niedrigeren Höhen jedoch werden verschwinden. In den letzten Jahrzehnten haben diese Gletscher doppelt so viel Eismasse verloren wie die der höher gelegenen Regionen [1].
Schlechte Nachrichten für die Bevölkerung, denn diese Gletscher fungieren als Puffer, in denen die Niederschläge der Regenzeit gespeichert und während der beinahe regenlosen Trockenzeit zwischen Juni und September langsam wieder abgegeben werden.
"Sie können sich Gletscher als hydrologisches Antidepressivum vorstellen", erklärt Jeffrey McKenzie, Hydrogeologe an der McGill University in Montreal, "sie mildern Höhen und Tiefen". Ohne die Gletscher müssen sich die Menschen flussabwärts an stärkere Schwankungen in der Wasserversorgung zwischen der Trocken- und Regenzeiten anpassen.
Von der Laguna Cuchillacocha ergießt sich der Quilcayhuanca durch ein breites, von Gletschern geschaffenes Tal. Etwa sieben Kilometer unterhalb des Seeausflusses misst McKenzie in einer Wasserprobe einen pH-Wert von 3,4. Im See liegt der Wert sogar noch niedriger, bei nur 2,8. Viele Gewässer der Cordillera Blanca sind natürlicherweise sauer erklärt McKenzie, der das Wechselspiel von Oberflächen- und Grundwasser erforscht: Die Gletscher bewegen sich über Gestein, das reich an Sulfat ist und das im Wasser gelöst die pH-Werte senkt.
"Sie können sich Gletscher als hydrologisches Antidepressivum vorstellen: Sie mildern die Höhen und die Tiefen"
Jeffrey McKenzie
McKenzie nimmt auch Proben, um den geochemischen "Fingerabdruck" des Wassers aufzunehmen – die Konzentrationen stabiler Isotope von Sauerstoff und Wasserstoff sowie verschiedener gelöster Ionen, die das Schmelzwasser aus dem Gesteinsuntergrund nahe der Gletscherzunge aufnimmt. Mit Hilfe dieser Daten konnten McKenzie und seine Kollegen berechnen, dass die Gletscher in der Trockenzeit etwa 30 Prozent zur Wasserführung des Rio Santa beitragen [2]. Der Rest stammt von Niederschlägen während der Regenzeit, die im Boden versickerten und nun per Grundwasser das Flussbett erreichen.
Das Ergebnis zeigt, dass auch ohne Gletscher in der Trockenzeit noch Wasser aus Regen und Schnee durch das Tal des Rio Santa strömen wird. Angesichts steigender Bevölkerungszahlen und sich ausdehnender Landwirtschaft kann ein Verlust von 30 Prozent im Wasserangebot jedoch durchaus Probleme verursachen, insbesondere in sehr trockenen Phasen, sagt Baraer. Und die Anwohner werden eventuell wenig Zeit für Anpassungsstrategien haben, denn Berechnungen von Baraer zufolge ist ein kritischer Punkt in Anlehnung an den "Peak Oil" als "Peak Water" benannt – bereits überschritten.
Wenn Gletscher ihren Rückzug starten, steigt in den Gletscherbächen und weiter flussabwärts zunächst wegen des Schmelzwassers die Wassermenge, bis der Nachschub abebbt. Nach diesem "Peak Water" geht die Schmelzwassermenge des Gletschers drastisch zurück. Baraer und seine Kollegen analysierten bis 1950 zurückreichende Aufzeichungen der Abflussmengen von neun Nebenflüssen des Rio Santa. Die Daten lassen vermuten, dass sieben der neun Einzugsgebiete den "Peak Water" zwischen den 1960er und 1980er Jahren bereits überschritten haben [2].
Georg Kaser vom Forschungszentrum Klima und Kryosphäre der Universität Innsbruck warnt allerdings vor voreiligen Schlüssen: Solange nicht aus allen Einzugsgebieten Daten vorliegen, sei es schwer zu sagen, ob der "Peak Water" bereits für das gesamte Einzugsgebiet des Rio Santa überschritten sei. So seien die Eiskappen der Gipfel im Zentrum der Cordillera Blanca weit gehend intakt. Trotzdem sollten die Ergebnisse die Peruaner, insbesondere die politischen Entscheidungsträger, dazu bringen, sich endlich mit dem drohenden Problem der Wasserknappheit auseinander zu setzen, sagt Kaser: "Wir sagen ihnen seit 20 Jahren, dass dieser Wendepunkt bevorsteht, aber niemand hat uns ernst genommen."
Bislang hat Peru keinen umfassenden Plan, wie gegebenenfalls mit zukünftiger Wasserknappheit im Rio-Santa-Gebiet umzugehen ist, erklärt Gabriel Quijandría, Vizepräsident für die strategische Entwicklung von natürlichen Ressourcen im Umweltministerium. "Die Art und Weise, wie das Wasser genutzt wird, muss entscheidend verbessert werden", sagt er.
"Wir sagen ihnen seit 20 Jahren, dass dieser Wendepunkt bevorsteht, aber niemand hat uns ernst genommen"
Georg Kaser
Kleine, während der Trockenzeit abgedeckte Speicherbecken "könnten einen Teil der Lösung darstellen, aber nicht allein", sagt Quijandría. Manche Forscher fragen sich allerdings, wie in dem steilen und erdbebengefährdeten Gelände künstliche Reservoire angelegt werden sollen.
Für McKenzie ist "Peak Water" nur ein Teilaspekt. Um die Abflussraten besser vorhersagen zu können, untersucht er, wie das Schmelzwasser und die Niederschläge den Rio Santa letztendlich erreichen. Die Talsohle unterhalb der Laguna Cuchillacocha ist ein Sumpfmoor, das wie ein Schwamm Schmelzwasser und Niederschläge aufsaugt und nur nach und nach in den Fluss einspeist. McKenzie hat herausgefunden, dass Grundwasser im Mittel 18 Monate benötigt, bis es das Feuchtgebiet durchquert hat.
In diesem Jahr hat McKenzie im Quilcayhuanca-Tal zwei Wochen lang kleine, bis zu sechs Meter tiefe Löcher in den Boden gebohrt, eine weitere Bohrung lag weiter nördlich. Die Bohrkerne verrieten die Zusammensetzung des Untergrunds, und in manchen Löchern installierte McKenzie Piezometer – Instrumente, die mittels Druck den Wasserspiegel erfassen. Nächstes Jahr verfügt er so über Daten, mit denen er Fragen zu Fließrichtung, Wasserständen und Schwankungen im Grundwasserstrom beantworten kann, hofft McKenzie. Im nächsten Schritt wollen die Forscher dann anhand eines Grundwassermodells untersuchen, wie sich die Strömung in Richtung Fluss auf Grund der Schmelzwasserabnahme verändert. Sie sind auch besorgt über menschliche Aktivitäten in den höher gelegenen Tälern: Viehweiden und Torfabbau für Blumenerde können die Böden austrocknen und damit ihre Speicherkapazität beeinträchtigen, warnen die Forscher.
Extreme Fluten
Doch die Anwohner des Rio Santa befürchten nicht nur einen Wassermangel – auch das Gegenteil macht ihnen Sorgen: zu viel Wasser. Die Gletscherseen werden häufig von instabilen natürlichen Dämmen aufgestaut, die beispielsweise durch große, ins Wasser stürzende Eisbrocken brechen können. Die Folge sind eisige Sturzfluten. Außerdem versteilt die Gletscherstirn beim Rückzug, wodurch die Lawinengefahr steigt. Sturzfluten und Lawinen haben im Tal des Rio Santa seit den 1940er Jahren mehr als 25 000 Menschenleben gefordert, sagt Mark Carey, Umwelthistoriker an der University of Oregon in Eugene, ein weiterer führender Wissenschaftler in dem Projekt. Huaraz, die größte Stadt des Tals, und viele kleinere Städte sind auf den Ablagerungen früherer Hochwasser und Bergrutsche gebaut, erklärt er. Und schätzt, dass eine Sturzflut heute zehntausende Menschen töten könnte.
Die staatliche Wasserbehörde Perus überwacht derzeit mehr als 35 Seen, sagt Jesús Gómez von der glaziologischen Abteilung. Die Behörde bereite sich auf die Risiken vor, indem sie den Wasserspiegel senke, sobald sie einen kritischen Punkt erreichen. Ein ungewöhnlich großer Eissturz könne aber trotzdem eine Sturzflut auslösen, und das Jahresbudget von 300 000 US-Dollar reicht nicht aus, um automatische Alarmsysteme zu installieren, die vor den herannahenden Fluten warnen könnten.
Das Schrumpfen der Gletscher könnte außerdem weitere Umweltprobleme verschärfen, insbesondere die Wasserverschmutzung. Unterhalb von Huaraz geht Mark vorsichtig an einem kleinen Bach entlang, der das ungeklärte Abwasser der Gemeinde Mancos in den Rio Santa leitet. In der Nähe füllt der chilenische Doktorand Alfonso Fernández mit einer Spritze Wasserproben in kleine Plastikflaschen. Zurück im Labor, wird ein Team anhand der Isotopenzusammensetzung die Herkunft des Wassers und die Gehalte von Verunreinigungen wie Schwermetallen bestimmen.
Abwasser ist nicht das einzige Problem. Manche Zuflüsse des Rio Santa weisen von Natur aus hohe Schwermetallgehalte auf, während andere Arsen, Cadmium und Blei aus dem Abraum alter Minen auswaschen. Mit sinkenden Abflussmengen dürfte dank kaum veränderter Schmutzfracht bei geringerer Verdünnung die Wasserqualität weiter abnehmen, erklärt Mark.
Das könnte die Konkurrenz um sauberes Wasser verschärfen, sagt Adán Pajuelo, Präsident eines lokalen Bewässerungskomitees, während er auf einem Feld in Cruz de Mayo, einer Gemeinde nahe der von Gletscherwassers gespeisten Laguna Parón, geschickt Nelken schneidet. 2008 hatten lokale Bauern den amerikanischen Energieversorger Duke Energy beschuldigt, aus der Laguna Parón zu viel Wasser für ihr flussabwärts gelegenes Wasserkraftwerk abzuleiten. Die Bauern verbarrikadierten die Schleusen und drosselten so die Wassermenge, die Duke Energy dem See entnehmen konnte.
Die verfahrene Situation hielt ungefähr zwei Jahre an, bis Regierungsvertreter einen Kompromiss aushandeln konnten. Inzwischen haben sich die Spannungen gelegt, aber Pajuelo fürchtet, dass in einem trockenen Jahr und auf Grund weiterer Beeinträchtigung durch den geplanten Bau einer Goldmine in Seenähe den Bauern nur noch wenig und zudem verschmutztes Wasser zur Bewässerung ihrer Felder bleibt.
Noch härter wird die Konkurrenz weiter flussabwärts, wo sich der Fluss durch ein enges Tal an dem Wasserkraftwerk vorbei in Richtung Pazifik drängt. In der Küstenwüste sprießen Spargel, Artischocken, Obstbäume und Zuckerrohr – meist für den Export – auf Böden, die vor zehn Jahren noch öde und unfruchtbar waren. Das Chavimochic-Bewässerungsprojekt, das mit Wasser aus dem Rio Santa 75 000 Hektar Land erschlossen hat, wird bei der Fertigstellung mehr als die doppelte Fläche beanspruchen.
"Agrarprodukte für den Export verändern die Region gerade tiefgreifend", sagt Jeffrey Bury, Geograf an der University of California in Santa Cruz. Falls sich das "Peak-Water"-Szenario bestätigen sollte, "wird das unausweichlichen Druck darauf ausüben, wofür das Wasser verwendet wird und wer es nutzen darf", sagt er.
Alle Probleme des Rio Santa fließen an seiner Mündung an der peruanischen Küste zusammen. In den trockenen Julitagen sickert hier der einst mächtige Strom nur noch als dünnes Rinnsal durch Kiesel und Müll. Wenn die Nachfrage für Wasser weiter steigt, so Carey, könnte es sein, dass in wenigen Jahren in der Trockenzeit kein Wasser aus der Cordillera Blanca mehr das Meer erreicht.
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