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News: Kein Zeichen von Noah

Im Sommer 1998 haben niederländische Archäologen in der Türkei eine kleine Siedlung ausgegraben, die zwischen 6000 und 5500 vor Beginn unserer Zeitrechnung florierte. Dann verschwand das Örtchen plötzlich. Einige Forscher vermuteten einen Zusammenhang mit der biblischen Sintflut. Doch bei unvoreingenommener Betrachtung der Umstände kommen die Wissenschaftler zu dem Schluß, daß wohl eher gewöhnliche Wanderbewegungen der Gemeinschaft die Ursache waren.
Beim Anblick eines Hügels werden Archäologen aufmerksam. Nicht selten sind sie dadurch entstanden, daß über Jahrhunderte hinweg eine Siedlung auf den Überresten der vorherigen Ortschaft errichtet wurde. So auch der Ilipinar höyük in der Nähe der Stadt Orhangazi im Nordwesten der Türkei. Grabungen in den frühen fünfziger Jahren hatten ergeben, daß die ältesten Schichten bis in das sechste Jahrtausend v. Chr. datiert werden müssen. Damals verbreitete sich gerade ein neuer Lebensstil vom Mittleren Osten nach Europa: die Jungsteinzeit. Sie war gekennzeichnet durch eine mehr oder weniger seßhafte Art in Verbindung mit der Produktion von Nahrung (anstelle einer reinen Jäger- und Sammlertätigkeit) sowie der aufkommenden Töpferkunst.

1987 erhielt der niederländische Archäologe J.J. Roodenberg von der Universiteit Leiden eine Möglichkeit, die Grabungen fortzuführen. Insgesamt zehn Unternehmungen haben gezeigt, daß Ilipinar höyük von 6000 bis 5500 v.Chr. kontinuierlich besiedelt war, gefolgt von einer Unterbrechung von 1200 Jahren Dauer. Erst in der frühen Bronzezeit wurde der Ort wieder bewohnt und bis in das sechste Jahrhundert unserer Zeit als Lebensraum genutzt. Wahrscheinlich hat der nahe Fluß mit Süßwasser die Leute an diesen Ort gezogen. Ilipinar bedeutet "lauwarme Quelle", Höyük ist das türkische Wort für "Hügel".

Der wissenschaftliche Disput über das Verschwinden der Siedlung in der Jungsteinzeit wurde durch die Ergebnisse von Roodenberg komplizierter und geheimnisvoller. Die beobachteten anatolischen Einflüsse auf die lokalen Töpferarbeiten sind im Einklang mit der Ansicht, daß diese Fertigkeit sich im wesentlichen von Ost nach West verbreitete. Die restlichen materiellen Überbleibsel der Kultur erinnern jedoch stark an Funde vom Balkan aus der gleichen Periode.

Die Ausgrabungen im Jahre 1998 konzentrierten sich auf die ältesten Schichten. Um 6000 v.Chr. bestand das Dorf aus einigen zehn Wohnstätten. Es handelte sich um kleine, einfach gebaute rechteckige Häuser aus Holz und Reet. Ein Friedhof in unmittelbarer Nachbarschaft umfaßte etwa fünfzig Gräber. Einige Verstorbene waren auf breiten Brettern beigesetzt worden.

Um 5700 v.Chr. begannen die Bewohner, ihre Unterkünfte aus sonnengetrockneten Tonziegeln zu errichten. Es entstanden richtige Häuser, von denen einige zwei Stockwerke besaßen. Die Dächer waren mittlerweile leicht konstruiert. Einem Feuer, das eines der Häuser zerstörte, verdanken die Wissenschaftler einen Blick in die Innenausstattung. Sie entdeckten im ersten Stock Mahlsteine, Töpferwaren und weitere Haushaltsgegenstände, einen Ofen sowie große Gefäße und Behälter im Erdgeschoß. Offenbar waren die Leute in Ilipinar höyük damals wohlhabend.

Warum das Dorf um 5500 V.Chr. im Stich gelassen wurde, bleibt unklar. Roodenberg entdeckte, daß kurz danach andere Menschen in Ilipinar höyük auftauchten. Sie gruben am Rande der alten Ortschaft kleine Unterkünfte. Aus der Armseligkeit der Behausungen, der Häufigkeit verbrannten Grases und dem fehlen von Hinweisen auf Schlachtungen folgert Roodenberg, daß die Menschen zu kurz blieben, um Ackerbau zu treiben. Mit sich brachten sie Töpferwaren und Werkzeuge, die nicht zur lokalen Ausstattung passen, sondern großen Einfluß einer Kultur vom Balkan aufweisen.

Während der Untersuchungen 1998 berichtete ein Team der BBC über die Arbeiten. Die Journalisten erstellten eine Dokumentation über die Theorie zweier Geologen. Danach gehen die biblische Sintflut, das Gilgamesch-Epos und das jüdische Exil in Babylon auf eine Naturkatastrophe zurück. Das Mittelmeer bahnte sich nach Vorstellung dieser Wissenschaftler im Norden der Türkei einen Weg zu tiefer gelegenen Regionen im Osten, so daß ein riesiges Binnengewässer entstand – das heutige Schwarze Meer. Die Menschen in den Küstenregionen mußten fliehen oder ertranken. Das Donnern der durchstoßenden Wassermassen sollte über zweihundert Kilometer Entfernung zu hören gewesen sein. Ilipinar höyük liegt gerade achtzig Kilometer vom Bospuros entfernt. Daher empfanden die Journalisten die plötzliche Aufgabe des Ortes als ein Geschenk des Schicksals und prüften die bisherigen Erkenntnisse nicht sorgfältig. Roodenberg zufolge fand der Durchbruch des Mittelmeeres nämlich erst einige hundert Jahre später statt. Er sieht in dem Ende von Ilipinar höyük vielmehr ein Anzeichen der gewöhnlichen Wanderungen damaliger Zeiten. Auch dadurch verändern sich gelegentlich lokale Fundstellen wie aus heiterem Himmel.

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