Evolution: Plötzlich Haare an unüblichen Stellen
Schon kleine Veränderungen im Genom bewirken manchmal, dass heranwachsende Lebewesen höchst ungewöhnliche Eigenschaften ausprägen. Von einer Generation auf die nächste können so plötzlich neue Körpermerkmale entstehen. Die gängige Synthetische Evolutionstheorie tut sich schwer damit. Denn sie setzt den Gradualismus voraus, nimmt also an, dass evolutionäre Anpassungen über diverse Zwischenschritte erfolgen und nicht auf einen Schlag.
Manche Beobachtungen widersprechen dieser Sichtweise. Ein bekanntes Beispiel ist die Polydaktylie, das Auftreten zusätzlicher Finger oder Zehen bei Neugeborenen. Unvermittelt erscheinen hier bei den Nachkommen komplexe neue morphologische Strukturen mit Haut, Knochen, Muskeln, Blutgefäßen und Nerven. Und das ohne Zwischenschritte, denn den Betroffenen wachsen ja keine halben oder viertel Finger.
So etwas kann eintreten, wenn sich regulatorische Abschnitte der DNA verändern. Das sind Bereiche im Erbgut, die kontrollieren, wie aktiv bestimmte Gene sind. Mutieren solche Regulationselemente, dann erhöht oder erniedrigt sich häufig die Menge gewisser Proteine in der Zelle. Betrifft das Eiweiße, die Entwicklungsprozesse steuern, prägt der heranwachsende Organismus oft deutlich veränderte Merkmale aus. Das Fachgebiet der Evolutionären Entwicklungsbiologie (»Evo-Devo« von englisch evolutionary developmental biology) befasst sich mit solchen Vorgängen: Evo-Devo-Forscher untersuchen, was die individuelle Entwicklung der Lebewesen reguliert und welche Rolle es im evolutionären Geschehen spielt.
Synthetische Evolutionstheorie: Theorie, die den Artenwandel erklärt. Sie vereint die Ideen Charles Darwins und Alfred Russel Wallaces mit Erkenntnissen aus der Genetik, Populationsbiologie und anderen biologischen Fachgebieten.
Regulatorische DNA-Abschnitte: Bereiche des Erbguts, die an der Regulation von Genen mitwirken. Sie können etwa als so genannte Enhancer dazu beitragen, dass ein Gen stärker abgelesen wird, und dieses somit aktiver machen.
PCR: Polymerase-Kettenreaktion, ein Verfahren, um DNA-Moleküle zu vervielfältigen. Ein spezielles Enzym, die DNA-Polymerase, dupliziert die Moleküle hier in aufeinander folgenden Zyklen immer wieder und vermehrt sie so sehr stark.
Neue Erkenntnisse dazu liefern Wissenschaftler um Timothy Fuqua und Justin Crocker vom Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie (EMBL) in Heidelberg. Die Forscher haben an Taufliegen (Drosophila melanogaster) getestet, wie sich Veränderungen in einem regulatorischen DNA-Abschnitt auf die Entwicklung der Larven auswirken. Konkret ging es um einen Bereich namens E3N, der zu den so genannten Enhancern gehört – DNA-Sequenzen, die helfen, Gene anzuschalten. E3N kontrolliert, wie aktiv das Gen Shavenbaby ist. Dieses sorgt unter anderem dafür, dass die Fliegenlarven auf ihrer Bauchseite behaarte Streifen bilden. »Je aktiver Shavenbaby in einer bestimmten Körperregion, umso mehr Haare wachsen den Larven dort«, sagt Fuqua.
Haare an Stellen, wo es normalerweise keine gibt
Das Team um Fuqua und Crocker erzeugte mehr als 700 Mutationen im Enhancer E3N und beobachtete jeweils, wie sich die Insekten anschließend entwickelten. Zu ihrer Überraschung wirkten sich fast alle Mutationen stark aus. »Sobald wir auch nur einen DNA-Baustein veränderten, bekamen die Tiere ein deutlich anderes Erscheinungsbild«, berichtet Fuqua. Die Fliegen mit genetisch veränderter E3N-Sequenz prägten oft dünnere und lichtere Haarstreifen aus; unter anderem deshalb, weil bestimmte Proteine, die für das Ablesen von Genen wichtig sind – auch Transkriptionsfaktoren genannt –, nicht mehr so stark an den Enhancer koppelten. Bei anderen Mutationen wiederum trat das Gegenteil ein: Den Tieren wuchsen Haare an Stellen, wo es normalerweise keine gibt, etwa auf den Flügeln. »Eingriffe in den Enhancer scheinen zu beeinflussen, wo, wann und in welchem Ausmaß das Gen Shavenbaby in den Fliegenlarven aktiv ist«, folgert Fuqua.
Weiter stellten die Forscher fest, dass fast alle Mutationen mehrere Effekte zugleich hatten. Den betroffenen Insekten wuchsen beispielsweise kräftiger ausgeprägte behaarte Streifen – und gleichzeitig Haare in Körperregionen, die normalerweise nackt bleiben. »Der Evolution scheinen Schranken auferlegt zu sein«, erläutert Fuqua. »Viele Körpermerkmale können sich nur gemeinsam mit anderen verändern.«
Schon wenige Mutationen im Enhancer E3N können somit dazu führen, dass sich Fliegen deutlich anders entwickeln – und von einer Generation auf die nächste ein sprunghaft verändertes Erscheinungsbild zeigen. »Unseren Ergebnissen zufolge haben Enhancer, die an Entwicklungsvorgängen in Organismen mitwirken, einen viel höheren Informationsgehalt als bisher angenommen«, sagt Justin Crocker.
Um hunderte verschiedene Mutationen im E3N-Abschnitt zu erzeugen und jeweils die Auswirkungen zu beobachten, mussten die Forscher tausende Fliegenembryonen auf immer gleiche Weise präparieren. Das gelang ihnen mit einem selbst entwickelten Roboter, der diese Arbeiten großteils eigenständig durchführte. Mit einem abgeänderten PCR-Verfahren erzeugten die Forscher zufällige Mutationen im Erbgut der Tiere; eine automatische Vorrichtung nahm später Mikroskopbilder der heranwachsenden Insekten auf.
Shavenbaby, ein ungewöhnliches Gen
Andere Arbeiten haben ähnliche Ergebnisse geliefert. Ein Team um den Entwicklungsbiologen Evgeny Kvon von der University of California in Irvine untersuchte kürzlich, wie ein bestimmter menschlicher Enhancer die Entwicklung der Finger und Zehen beeinflusst. Die Forscher führten zahlreiche mutierte Varianten dieses Enhancers in das Erbgut von Mäuseembryonen ein und stellten fest, dass den Nagern daraufhin oft zusätzliche Gliedmaßen wuchsen. Auch hier führten kleine Abwandlungen einer regulatorischen DNA-Region zu einem deutlich anderen Körperbau der Tiere.
Der Biologe Ralf Sommer vom Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie lobt die Studie von Fuqua und Crocker: »Ich kenne keine Arbeit, die derart umfangreich untersucht hat, wie sich Änderungen in einem regulatorischen DNA-Abschnitt auf Entwicklungsvorgänge auswirken.« Ihn überrascht ebenfalls, wie empfindlich die Fliegenlarven auf Mutationen im Enhancer E3N reagierten. Wenn das bei anderen regulatorischen Abschnitten ähnlich sei, sagt er, dann bedeute das, dass die Evolution weniger Freiheiten habe als gedacht.
»Shavenbaby ist allerdings ein ungewöhnliches Gen, das von extrem vielen verschiedenen Faktoren kontrolliert wird«, erläutert Sommer. »Es könnte daher sein, dass die Ergebnisse nicht repräsentativ sind.« Die Studie unterstreiche aber, dass die gängige Synthetische Evolutionstheorie entwicklungsbiologische Vorgänge nicht hinreichend stark berücksichtige. »Sprunghaft auftretende Veränderungen von Organismen verstehen wir bislang nur lückenhaft. Die Evolutionstheorie sollte deshalb um entwicklungsbiologische Ansätze erweitert werden, mit denen sich so etwas besser erklären lässt.«
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.