Quantenmechanik: Kollision am kältesten Ort des Universums
Eine chemische Reaktion kann man sich vereinfacht wie den Querschnitt durch eine Berglandschaft vorstellen: Ausgangsmaterialien und Produkte liegen, vom Energieverlauf betrachtet, in Tälern niedriger Energie auf den beiden Seiten des Berges, dazwischen befindet sich mindestens ein Hügel. Damit eine Reaktion vonstattengeht, muss man zunächst genügend Energie aufbringen, um diese Hügelbarriere zu überwinden. Oder chemisch gesprochen: Damit aus den Ausgangsmolekülen ein Endprodukt entsteht, müssen manche Bindungen zwischen Atomen brechen und sich neu bilden, während andere ihre Längen oder die Winkel zueinander ändern müssen. Und dafür ist eben Energie nötig.
Komplexer wird alles, wenn eine Reaktion nicht nur über einen solchen Hügel, sondern über mehrere rollen muss, denn dann befinden sich dazwischen zwangsläufig auch mehrere Täler. In denen wird es für Chemiker aber besonders spannend: Würde man betrachten, wie sich die Moleküle während der Reaktion verändern, könnte man in jedem solchen Tal ein Zwischenprodukt beobachten. Dieses ist nur für kurze Zeit stabil und ähnelt dem Produkt etwas mehr als der Ausgangsstoff. Einer Reaktion zuzuschauen, während sie abläuft, ist allerdings in vielen Fällen sehr schwierig. Das liegt daran, dass chemische Bindungen innerhalb von Femtosekunden – also mehreren Billionsteln einer Sekunde – brechen und sich neu bilden können. Ein Zwischenprodukt reagiert oft derart schnell zum Endprodukt weiter, dass altbewährte Analysemethoden wie die Röntgenkristallografie oder Spektrometrie mit konventionellen Lichtquellen schlicht zu langsam arbeiten.
Um auch sehr rasche Reaktionen verfolgen zu können, gibt es heutzutage verschiedene Möglichkeiten. Die bekannteste von ihnen ist wohl die Femtochemie, bei der man mit ultrakurzen Laserpulsen Schnappschüsse von dem erhält, was während einer Reaktion passiert. Das mit dem Nobelpreis geehrte Fachgebiet hat in den vergangenen etwa 30 Jahren geholfen, die Reaktionswege vieler chemischer Umwandlungen nachzuvollziehen, darunter solcher, die große industrielle Bedeutung haben.
In jüngerer Zeit hat sich ein neuer Ansatz dazugesellt, um Reaktionen genauer unter die Lupe zu nehmen: die ultrakalte Chemie. Dabei nutzt man aus, dass chemische Reaktionen umso langsamer ablaufen, je niedriger die Umgebungstemperatur ist. Diesen Zeitlupentrick hat nun eine Forschergruppe um Kang-Kuen Ni von der Harvard University zum ersten Mal benutzt, um das Zwischenprodukt einer Reaktion zu Gesicht zu bekommen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Ni untersuchten den Zerfall von Kalium-Rubidium-Molekülen (KRb) in K2 und Rb2. Computergesteuerte Simulationen hatten bereits vorhergesagt, dass sich während dieser Reaktion zunächst K2Rb2-Moleküle bilden, bevor die Endprodukte entstehen. Dieses flüchtige Zwischenprodukt bekäme man bei der normalen Reaktionsdauer im Bereich von Femtosekunden nicht zu sehen. Ni und ihre Gruppe schafften es dennoch, einen Blick darauf zu erhaschen, indem sie seine Lebensdauer auf etwa drei Mikrosekunden verlängerten. Das klingt zwar immer noch kurz, ist aber eine Milliarde Mal länger – es entspricht also dem Unterschied zwischen einer Sekunde und gut 30 Jahren.
Um die Reaktion derart zu bremsen, mussten sie die KRb-Teilchen massiv abkühlen, und zwar fast bis zum absoluten Temperaturminimum bei null Kelvin, also minus 273,15 Grad Celsius. Das gelang nun der Forschergruppe, wie sie im Fachmagazin »Science« beschreiben: Sie kühlte den Ausgangsstoff auf 500 Nanokelvin ab und machte die Reaktion damit zu der kältesten, die bisher jemals vonstattengegangen ist. Selbst Molekülwolken im interstellaren Medium sind etwa eine Million Mal wärmer.
Allerdings brauchen chemische Reaktionen zumindest ein bisschen Umgebungswärme, um die Hügel – wenn auch im Schneckentempo – zu überwinden. Bei Temperaturen im Bereich von einigen hundert Nanokelvin sind die Bewegungen der Reaktionspartner derart träge, dass sie fast gar nicht mehr miteinander reagieren. Wie haben es Ni und ihr Team trotzdem geschafft, die Reaktion bei der extremen Kälte ablaufen zu lassen? Hier kommt die Quantenmechanik ins Spiel. Anstatt den energetischen Hügel zu erklimmen und auf der anderen Seite wieder herunterzurollen, können Moleküle auch einen Tunnel durch den Hügel hindurchgraben. Wie wahrscheinlich es ist, dass sie dies tatsächlich tun, hängt von der Höhe des Hügels ab.
Vor zehn Jahren bereits gelang es Wissenschaftlern, unter anderem der Gruppe um Ni, die Reaktionsbarriere der Zerfallsreaktion von KRb in K2 und Rb2 gezielt zu erhöhen oder abzusenken. Dazu veränderten sie die quantenmechanischen Zustände der Ausgangsstoffe. Ein solcher Zustand umfasst Parameter wie Spin und Drehimpuls. Zunächst schalteten die Wissenschaftler mit Hilfe spezieller Laser alle Bewegungsfreiheitsgrade der Moleküle aus, das heißt, sie versetzten sie in ihren absoluten Grundzustand. So konnten die Teilchen sich weder im Raum bewegen noch entlang ihrer Atombindung aufeinander zu- und voneinander wegschwingen oder rotieren. Da sie also keine Energie mehr in Form irgendwelcher Bewegungen speichern konnten, waren sie extrem kalt und konnten nicht auf gewöhnliche Weise zusammenstoßen und reagieren. In diesem Zustand gelang es den Wissenschaftlern, auch die Spineigenschaften der Teilchen zu verändern. Über dieses Feintuning konnten sie beeinflussen, ob viel oder wenig des Endprodukts gebildet wurde: Besaßen alle Moleküle denselben Spinzustand, entstand fast eine Sekunde lang kein Produkt. Dahingegen reagierten die Moleküle 10- bis 100-mal schneller, wenn die Spinzustände gemischt waren. Andere Forscher haben die ultrakalte Chemie auch genutzt, um ganz neue chemische Spezies herzustellen, etwa BaOCa+.
Mit solchen quantenmechanischen Manipulationen ist es der Gruppe um Ni nun gelungen, sowohl Zwischen- als auch Endprodukte einer extrem kalten Reaktion zu charakterisieren. Dazu stellten sie zunächst den Ausgangsstoff der Reaktion KRb aus Kalium- und Rubidiumatomen her. Normalerweise würden diese gar nicht miteinander reagieren, und erst ein geschickt eingestelltes Magnetfeld bringt sie dazu. Weil sich die so gebildeten KRb-Moleküle in einem angeregten Schwingungszustand befanden (das heißt, die beiden Atome konnten sich entlang ihrer Bindung aufeinander zu- und voneinander wegbewegen) und dadurch wenig stabil waren, überführten die Forscher sie anschließend mit gezielten Laserpulsen in ihren Grundzustand (in dem sie dies nicht konnten). Die KRb-Teilchen hielten sie dabei mit einer optischen Pinzette fest, zogen sie also immer wieder in den Fokus eines Laserstrahls.
Anschließend bestrahlte das Team die KRb-Moleküle mit Laserpulsen im ultravioletten Bereich. Die Energie reichte aus, um den Zerfall in K2 und Rb2 in Gang zu setzen. Gleichzeitig bewirkte die Energiezufuhr, dass das Zwischenprodukt K2Rb2 in einem angeregten Zustand existierte, den ein Stern in der chemischen Formel verdeutlicht: K2Rb2*.
Um diesen intermediären Komplex sowie die Ausgangs- und die Endstoffe zu detektieren, schlossen die Chemiker ein spezielles Massenspektrometer an ihren ultrakalten Apparat an, das die Geschwindigkeitsverteilungen aller entstehenden Spezies kartierte. Auf diese Weise konnten sie Ausgangsstoffe, Zwischenprodukt und Endprodukte identifizieren. Die Studie von Ni und ihrer Forschungsgruppe ist ein erster Schritt, die weitgehend unerforschte Welt der ultrakalten Chemie zu erkunden. Mit ihrem Apparat, der es erlaubt, Stoffe bis fast zum Temperaturnullpunkt herunterzukühlen – und der damit weltweit einzigartig ist –, lassen sich viele weitere Fragestellungen untersuchen. Ming-Guang Hu, ein Postdoc in Nis Gruppe und Erstautor der Veröffentlichung, schlägt vor, im nächsten Schritt mit der Technik in eine chemische Reaktion einzugreifen. Man könnte etwa Moleküle im angeregten Zustand miteinander reagieren lassen oder einzelne Teilchen anstoßen und die Effekte beobachten. Auf solche Weise lässt sich wohl auch der Einfluss der Quantenmechanik auf chemische Reaktionen bei extrem niedrigen Temperaturen weiter entschlüsseln.
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