News: Manuskript auf Abwegen
Wie auch immer, mentalen Schaden hat er bei dieser Prozedur offensichtlich nicht genommen. Denn obgleich Abel ansonsten eher als mittelmäßiger Schüler galt, stellte sich schnell sein mathematisches Talent heraus. Von seinem Lehrer gefördert, verschlang er Abhandlungen von Poisson, Gauß, Newton, Lagrange und vielen anderen großen Mathematikern. Und wenn es auch mit der finanziellen Situation der Familie – Abel hatte noch sechs Geschwister und der Vater starb bereits 1820 – nicht zum Besten bestellt war, so ermöglichten ihm doch Freunde und Förderer das Studium an der Universität.
Norwegen war jedoch zu dieser Zeit – zumindest in mathematischer Hinsicht – tiefste Provinz. Der Informationsfluss insbesondere in wissenschaftlichen Belangen war spärlich, und so wundert es auch kaum, dass Abels erste bedeutende Entdeckung schon vorher von einem italienischen Mathematiker gemacht wurde. Der Nabel der mathematischen Welt lag woanders: in Paris. Hier arbeiteten so bekannte Kapazitäten wie der Baron Augustin Louis Cauchy und Gleichgesinnte – insgesamt ein illustrer Kreis von Gelehrten, die zunächst nicht viel von dem unbekannten Neuankömmling wissen wollten.
"Cauchy ist närrisch, und es gibt keinen Weg, mit ihm zurechtzukommen, obgleich er gegenwärtig der Mathematiker ist, der am besten weiß, wie Mathematik gemacht werden sollte", urteilte denn Abel auch in einem Brief an seinen Mentor Michael Holmboe. Trotzdem versuchte er sich mit einer richtungsweisenden Abhandlung wissenschaftliches Gehör zu verschaffen, die er in nur drei Monaten verfasste und der Pariser Académie des sciences vorlegte.
Unter anderem enthält seine "Untersuchung über eine allgemeine Eigenschaft einer sehr verbreiteten Klasse transzendenter Funktionen" auch das später nach ihm benannten Abel'sche Theorem – eine Art Additionstheorem für so genannte elliptische Integrale. Zeit seines Lebens musste Abel jedoch auf eine Reaktion warten, denn diese, vielleicht seine wichtigste Arbeit, blieb zunächst unbeachtet und fand erst kurz nach seinem Tod Anerkennung. Und auch dann verschwand das Manuskript erst einmal in den Wirren der Zeit, um erst ein Jahrzehnt später veröffentlicht zu werden.
Doch das Original ging kurz danach wieder verloren und tauchte erst sehr viel später in der Mitte des 20. Jahrhunderts im Besitz der Biblioteca Moreniana in Florenz auf. Acht der insgesamt 61 Seiten fehlten jedoch – bislang. Denn der Mathematiker Andrea Del Centina von der Università di Ferrara fand in den Katalogen der Bibliothek Hinweise darauf, dass weitere Dokumente aus der Hinterlassenschaft des Mathematik-Professors Guglielmo Libri vorliegen müssten. Jener Professor lehrte seinerzeit an der Sorbonne, und er war es, der endlich im Jahre 1840 die Arbeit von Abel veröffentlichte. Cauchy hatte sie zehn Jahre zuvor aus Versehen zurückgelassen, als er in den Wirren der Revolution von 1830 nach London floh. Auch Libri zog es nach London – allerdings erst 1848, und der leidenschaftliche Buch-Sammler nahm das Manuskript zusammen mit unzähligen anderen Dokumenten mit.
Anfang dieses Jahres fand Del Centina tatsächlich die fehlenden Seiten. Die Freude über den Fund währte jedoch nicht lange, denn er musste feststellen, dass die acht Seiten nicht in Abels Handschrift verfasst sind, sondern dass es sich offenbar um handschriftliche Kopien von Libri handelte. Bei weiteren Nachforschungen in einer Bibliothek in Livorno stieß Del Centina schließlich zumindest auf vier Originalseiten. Der Mathematiker ist optimistisch, dass auch die verbleibenden vier Seiten existieren und stöbert weiter in den Archiven.
Die mühevolle Suche nach den verbliebenen Dokumenten scheint nahtlos zu dem vom Schicksal gebeutelten Leben Abels zu passen. Die zu Lebzeiten so ersehnte Würdigung seiner Leistungen ist ihm wenigstens im Nachhinein zuteil geworden. Nachdem Cauchy nämlich doch endlich einen Blick auf die Arbeit geworfen hatte, erkannte er ihre Bedeutung und schrieb einen Brief an Abel, in dem er seine Anerkennung zum Ausdruck brachte. Der Brief traf jedoch erst zwei Tage nach Abels Tod ein – gleichzeitig mit einer Berufung zum Professor nach Berlin.
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