News: Neue Worte des Glaubens
Entsprechend bedeutsam ist vor diesem Hintergrund der Fund ältester, zum Teil bereits 50 Jahre nach dem Tod Mohammeds entstandener Koranfragmente in der großen Moschee von Sanaa aus dem Jahre 1972. Ihre Restaurierung ist mittlerweile abgeschlossen und die wissenschaftliche Auswertung hat begonnen. Den zu erwartenden philologischen Ertrag bringt der Islamwissenschaftler Gerd-Rüdiger Puin von der Universität des Saarlandes auf folgenden Nenner: "Etwa ein Fünftel des heute maßgeblichen Koran muß neu gelesen werden".
Was nun ist an diesen neuen alten Schriften aus Sanaa anders als am sogenannten Kairoer Koran? Und was berechtigt zu der Annahme, daß in den Varianten ein erster Schlüssel zum besseren Verständnis der dunklen Stellen liegt? Könnte man einfach von nicht weiter aufregenden, da historisch nicht zum Tragen gekommenen Varianten sprechen? Puins Antwort darauf ist ein klares Nein. Denn das Spannende an den nach über tausend Jahren wiedergefundenen alten Schriften ist, daß sie weitgehend nur aus dem Rasm (Spur) bestehen. Darunter versteht man die ursprüngliche Schreibweise der arabischen Sprache, die weder die Schreibung von kurzen Vokalen noch die (schriftgeschichtlich ebenfalls erst später eingeführten) diakritischen Zeichen zur genaueren Festlegung der Konsonanten kennt. Der Rasm besteht aus lediglich 18 Buchstaben, von denen jeder wieder für bis zu fünf verschiedene Konsonanten stehen kann! Diese einfache arabische Grundschrift, wie sie zu Mohammeds Zeit und unmittelbar danach gebräuchlich war, ist damit bedeutungsoffener als die heutige arabische Schrift. Im Lauf der Schriftentwicklung wurde über die eindeutige Festlegung der Buchstaben auch die Bedeutung des Geschriebenen festgelegt. Aber anders verhält es sich eben mit dem ursprünglichen Rasm, wo die Bedeutung über den Kontext erschlossen, also interpretiert werden mußte – und dies ist, wenn man mit Puin vor dem Hintergrund der gefundenen alten Schriften die Festlegungen des heutigen offiziellen Korantextes kritisch überprüft, oft nicht befriedigend erfolgt.
Die gemessen an anderen Alternativen, die der ursprüngliche Rasm offen hält, unplausiblen Festlegungen der offiziellen Koranfassung, so ein weiterer Befund Puins, haben durchaus System. Zu einem Großteil zeichnen sie sich durch eine Vernachlässigung, wo nicht bewußte Abkehr von den Aramaismen der früheren arabischen Sprache aus. Puin erläutert: "Das Aramäische, eine sogenannte Nahsprache des Arabischen, war im Arabischen der frühen Koranrezitationen mit zahlreichen Lehnworten präsent. Gegenüber ihrem jeweiligen arabischen Nahwort, zu dessen Gunsten die spätere Textinterpretation des Korans in der Regel ausfiel, hatten sie aber im Allgemeinen einen mehr oder minder abweichenden Sinn." Eine Philologie, die dies konsequent berücksichtigt, so die Puinsche These, kann hinter die nach dem Prinzip "Arabisierung vor Plausibilität" erfolgten wortgeschichtlichen Entwicklungen zurückgehen und damit zahlreiche "dunkle" Stellen des Koran erhellen.
An einem einfachen Beispiel kann dies verdeutlicht werden: Das Wort sakînah wird von den arabischen Lexikographen mit der arabischen Wurzel s-k-n in Verbindung gebracht; diese bedeutet 'ruhig sein, (be)wohnen'. Der koranische Gebrauch des Wortes sakînah hat aber weniger mit 'Ruhe' zu tun als mit der 'Gegenwart (Gottes)', die in Hebräisch/Aramäisch schekhîna heißt. Denn dieses Wort hat die gleiche Wurzel s-k-m, gibt aber im Kontext sämtlicher Koranstellen, an denen es vorkommt (2:248, 48:4, 48:18, 9:26, 9:40, 48:26), einen besseren Sinn. Auch der Anklang an den Sprachgebrauch "Gegenwart/Herrlichkeit Gottes" der Bibel, auf die der Koran in vielfältiger Weise Bezug nimmt, spricht für diese Lesart. – In einer neueren Koranübersetzung ins Deutsche, an der auch Muslime mitgewirkt haben, wird sakînah mit "(Gottes) Ruhe spendende Gegenwart" übersetzt – eine Lösung des Problems, die sowohl dem traditionellen (arabischen) Verständnis ('Ruhe'), als auch der philologischen Einsicht in die Bedeutung des aramäischen Wortes ('Gegenwart') gerecht wird.
Daß der Koran entgegen seiner Selbstaussage, "klar" zu sein, selten so wahrgenommen wurde, ist ein offenes Geheimnis. Die Apparate zur Erläuterung der schwer verständlichen Stellen wachsen in der nicht-muslimischen wie in der muslimischen Gelehrtenwelt. Und die Mystifizierung dessen, was man nicht ohne weiteres nachvollziehen kann, zu einer im letzten unfaßlichen Poesie, erwies sich durch die Zeiten als die herrschende Rezeptionsweise der Muslime, vom einfachen Gläubigen bis hin zum hohen Gelehrten. "Wohl eine Zauberkraft muß sein in dem woran / Bezaubert eine Welt so hängt wie am Koran", schreibt der spätromantische Lyriker, Übersetzer und Orientalist Friedrich Rückert. Es ist eine ebenso poetische wie gelehrte Hommage an das Ineinanderfließen von Ästhetik und Religion, die für das unmittelbare Erleben einer Koranrezitation durch einen gläubigen Muslim ebenso bezeichnend ist wie für ihren wissenschaftlichen Nachhall in dem in diesen Tagen viel beachteten Buch "Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran" von Navid Kermani (Beck Verlag, München 1999). Nicht selten jedoch, so der eher philologisch arbeitende Islamforscher Puin, beruht die ästhetische Qualität des Koran gewiß auf einem kreativen Mißverstehen seiner Sprache.
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