Rätselhafte Radioaktivität: Neutrinoexperiment steckte hinter Nuklearunfall
Das radioaktive Material unbekannter Herkunft, das im Oktober 2017 in vielen europäischen Ländern entdeckt wurde, stammt vermutlich aus einem ernsten Unfall in dem russischen Nuklearkomplex Majak. Zu diesem Schluss kommt eine internationale Arbeitsgruppe um Georg Steinhauser von der Universität Hannover und Olivier Masson vom französischen Institut für Strahlenschutz und Nuklearsicherheit (IRSN). Das Team fasste in der in »PNAS« veröffentlichten Untersuchung mehr als 1300 Messungen des freigesetzten Isotops 106Ru in Luft und Boden zusammen, um aus der Verteilung des Elements Rückschlüsse über die Ursache zu ziehen. Demnach würden die Messwerte und ihre Verteilung darauf hindeuten, dass im Nuklearkomplex Majak im Südural bei der Produktion einer Komponente eines Neutrinoexperiments etwas schiefging. Zu anderen vermuteten Quellen passen die Daten nicht, so das Team.
Der Bericht fasst die Ergebnisse seit dem 2. Oktober 2017 zusammen, als ein Labor in Italien die erste Meldung erhöhter Rutheniumkonzentration an die Gruppe »Ring of five« weitergab – ein informelles europäisches Netzwerk von Laboratorien, die radioaktive Stoffe in der Umwelt überwachen. Bereits am gleichen Tag meldeten andere Labors in Tschechien, Österreich und Norwegen ebenfalls radioaktives Ruthenium in atmosphärischen Schwebstoffen. Die weite Verbreitung des Materials deutete zusammen mit den gemessenen hohen Konzentrationen auf eine große freigesetzte Menge radioaktiven Materials. Bereits Ende 2017 vermuteten Fachleute vom IRSN in einem Bericht, dass es im Majak beim Verarbeiten mehrerer Tonnen abgebrannter nuklearer Brennelemente zu einem Leck gekommen sei. Die Indizien deuteten damals darauf hin, dass der Unfall mit einer Lieferung des Radioisotops 144Ce für ein Neutrinoexperiment im Gran-Sasso-Labor im Zusammenhang stand. Die Analyse von Masson und Steinhauser präzisiert dies nun.
Verteilung und Eigenschaften des Rutheniums lassen Rückschlüsse auf die Quelle zu – vor allem darauf, was als Ursache nicht in Frage kommt. So können zwar Radioisotope auch beim versehentlichen Einschmelzen von medizinischen Strahlungsquellen in die Atmosphäre gelangen, aber die 2017 freigesetzte Menge an Ruthenium war dafür deutlich zu hoch. Auch ein in der Atmosphäre verglühter Satellit mit einem Radioisotopengenerator als Energiequelle ist laut Untersuchung unwahrscheinlich, weil eine solche Energiequelle auf Rutheniumbasis zu wenig Energie liefert und zu schnell ausbrennt, um in der Raumfahrt nützlich zu sein. In einem solchen Fall würde die Konzentration des Elements auch mit der Höhe zunehmen, was nicht der Fall war.
Kein Satellit, keine Atombombe
Dagegen zeigen die Messungen, dass eine mit rutheniumhaltigen Staub beladene Luftmasse zwischen dem 29. September und dem 3. Oktober 2017 von Ost nach West über Rumänien gezogen war. Analysen der Wetterlage zu jener Zeit legen nahe, dass diese Luftmassen aus Südrussland kamen und um den 26. September herum durch die Region von Majak zogen. Die chemische Signatur der Radioisotope deutet laut der Arbeitsgruppe auf bereits stark aufgereinigtes Material aus der Aufarbeitung nuklearer Brennstäbe. Dagegen kommen andere kerntechnische Quellen wie Atombomben und Kraftwerke wegen dieser Reinheit nicht in Frage.
Tatsächlich deuten die veröffentlichten Daten nach Angaben der Gruppe darauf hin, dass das Ruthenium seinen Ursprung in der Produktion einer extrem aktiven Strahlungsquelle aus 144Ce hat. Der Anteil von 103Ru in den Proben lässt die Vermutung zu, dass die abgebrannten Brennelemente bereits zwei Jahre nach dem Ende des Kraftwerksbetriebs aufgearbeitet wurden.
Das ist ungewöhnlich, denn zu diesem Zeitpunkt sind die Brennelemente noch sehr stark radioaktiv und entsprechend schwer zu verarbeiten. Doch für das Experiment SOX-Borexino in Gran Sasso, das »sterile« Neutrinos aufspüren sollte, benötigten Fachleute eine kompakte, extrem aktive Strahlungsquelle – das dafür nötige stark angereicherte Cer liefern nur »frische« ausgebrannte Brennstäbe.
Gleichzeitig wird bei diesem Prozess Ruthenium quasi automatisch abgetrennt, es entweicht bei einem Verfahrensschritt als gasförmiges Rutheniumtetroxid. Das mutmaßliche Unglück von Majak muss sich nach diesem Trennungsschritt zugetragen haben; was aber genau passierte, ist unklar. Sicher sind die Fachleute nur, dass nicht einfach nur Rutheniumtetroxid aus Versehen in die Luft gelangte, statt aufgefangen zu werden. Zum einen hätten dessen Rückstände andere chemische Eigenschaften gehabt – und zum anderen scheint der Unfall den gesamten Produktionsprozess lahmgelegt zu haben: Die Strahlungsquelle aus 144Ce wurde nie nach Italien geliefert.
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