Bioakustik: Wissenschaftlicher Lauschangriff
Vogelkonzert und Insektensummen, plätschernde Bäche und wispernder Wind, ratternde Züge und dröhnender Straßenverkehr – es gibt wohl kaum einen Ort auf der Erde, an dem es völlig still ist. Jeder Wald und jede Stadt, jeder Berg und jedes Meeresgebiet scheinen vielmehr einen ureigenen Klang aufzuweisen, eine typische Kombination aus Tönen der verschiedensten Lautstärken und Frequenzen. Tiere, Pflanzen und Menschen wirken an dieser Symphonie ebenso mit wie Wellen, Regentropfen, Eis und zahllose andere unbelebte Geräuschlieferanten.
Da lohnt es sich, einmal genauer hinzuhören. Denn die Klangkulisse kann interessante Informationen über eine Landschaft liefern. Wie artenreich ist ein bestimmtes Gebiet? Welche Beziehungen herrschen zwischen seinen Bewohnern? Und sind vielleicht bedenkliche Entwicklungen im Gange, die das Ökosystem bedrohen? Die junge Forschungsrichtung der akustischen Ökologie versucht, solche Fragen durch wissenschaftliche Lauschangriffe zu beantworten.
Nicht einem, sondern vielen zuhören
Auf akustischem Weg Informationen zu gewinnen, ist für Biologen keine neue Idee. Schon seit Jahrzehnten belauschen sie bestimmte Tierarten und schließen daraus, wie groß deren Bestand ist und womit sie sich beschäftigen. Dieser Ansatz ist auch nach wie vor aktuell. So haben Wissenschaftler um Harald Benke vom Deutschen Meeresmuseum in Stralsund gerade eine Studie über die Verbreitung der Schweinswale in der Ostsee veröffentlicht, die auf einem solchen akustischen Monitoring beruht [1]. An zwölf über die Ostsee verteilten Stationen hatten sie zehn Jahre lang mit speziellen Detektoren die Klicklaute registriert, an deren Echos sich die Meeressäuger orientieren. Die Daten verraten nun zum Beispiel, zu welchen Jahreszeiten sich die Ostsee-Schweinswale wo aufhalten und welche Wanderungen sie unternehmen.
Solche klassischen bioakustischen Studien konzentrieren sich normalerweise allerdings auf eine oder zumindest wenige Arten. Der neue Ansatz dagegen bezieht erst einmal sämtliche hörbaren Geräusche des jeweiligen Gebiets mit ein. Denn jedes davon kann interessante Informationen liefern. Bryan Pijanowski von der Purdue University in West Lafayette im US-Bundestaat Indiana hat zum Beispiel die vielfältigen Regenwald-Konzerte in der Nähe der Biologischen Station La Selva im Norden Costa Ricas aufgezeichnet. Dort steuern 500 Vogelarten, drei Dutzend Amphibien und hunderte Insektenarten ihre eigenen Noten zum akustischen Fingerabdruck der Landschaft bei: Die Stimmen von Pfeilgiftfröschen und Zikaden, Papageien und Brüllaffen verbinden sich mit dem Rascheln des Windes, dem Rauschen der Flüsse und dem Prasseln der kräftigen tropischen Regenschauer zum typischen "La-Selva-Sound".
Das vielfältige Konzert zeigt, wie komplex und artenreich das Ökosystem ist. Doch kann das babylonische Stimmengewirr tatsächlich fundierte Informationen über die biologische Vielfalt liefern? Diese Idee hat durchaus ihren Charme. Denn die Biodiversität mit vertretbarem Aufwand zu erfassen, ist für Ökologen bisher eine echte Herausforderung.
Zuhören spart Zeit
Zwar haben Wissenschaftler längst etliche Indizes entwickelt, mit deren Hilfe man die Vielfalt in Zahlen fassen kann. Diese berücksichtigen zum Beispiel die Zahl der in einem Gebiet lebenden Arten und deren relative Häufigkeit. Bevor solche Berechnungen überhaupt möglich sind, ist allerdings aufwändige Freilandarbeit gefordert: Wer sich einen Überblick über das Arteninventar eines größeren Gebiets verschaffen will, muss Stunde um Stunde durchs Gelände stapfen, suchen, sammeln und bestimmen. Bei einem komplexen Ökosystem wie einem tropischen Regenwald kann es Jahre dauern, auch nur einen Bruchteil der Flora und Fauna zu erfassen.
Warum also nicht auf die Stimmen der Bewohner hören? Eine gängige Theorie der akustischen Ökologie besagt, dass Tierarten nicht nur um Nahrung oder Lebensräume konkurrieren, sondern auch um Hörbarkeit. Jeder will schließlich seine Stimme so gut wie möglich zu Geltung bringen, um seine akustischen Botschaften an den Empfänger zu bringen. Wer nicht im Klangbrei untergehen will, muss sich vom Geschrei, Gezwitscher und Gezirpe anderer Arten abheben – etwa, indem er andere Frequenzen nutzt oder seine Stimme zu bestimmten Tageszeiten erhebt, in denen die akustische Konkurrenz nicht so groß ist. Jede Art, die mit Lauten kommuniziert, besetzt dieser Theorie zufolge also eine eigene "akustische Nische". Das aber bedeutet, dass die Vielfalt der Stimmen auch die Artenvielfalt eines Lebensraumes wiederspiegeln sollte. Hinter jedem hörbaren Rufer können sich dabei sogar noch weitere, stumme Arten verbergen. Einige Molche zum Beispiel geben zwar keinen Ton von sich, orientieren sich aber am Quaken von Fröschen, um geeignete Laichgewässer zu finden.
Mit Mikrofonen und Aufzeichnungsgeräten sollte sich also durchaus eine ganze Menge über die Bewohner eines Lebensraums herausfinden lassen. Und das ist längst nicht so aufwändig, langwierig und teuer wie eine klassische biologische Inventur. Man kann auf diese Weise relativ einfach große Gebiete über längere Zeiträume überwachen – einschließlich schwer zugänglicher Lebensräume wie dem Meer oder dem Kronendach des Regenwaldes.
Mit Mikrofon und Computer
Das erfordert allerdings nicht nur leistungsfähige und handliche Mikrofone und Rekorder, sondern auch eine ausgefeilte Computersoftware. Denn wer seine Lauschgeräte tage- und wochenlang laufen lässt, steht anschließend vor gewaltigen Datenbergen. Die bei solchen Projekten anfallenden Terabytes an akustischen Informationen kann kein Mensch alle anhören. Gefragt sind also effektive Methoden, mit denen sich solche Daten managen, analysieren und visualisieren lassen [2]. Anders als bei klassischen bioakustischen Analysen geht es dabei nicht mehr darum, interessante Stimmen aus den Aufnahmen herauszufiltern. Vielmehr soll die Software generelle akustische Kenngrößen für eine Landschaft errechnen.
Wissenschaftler wie Jérôme Sueur vom Naturkundemuseum in Paris haben dazu bereits etliche verschiedene Indizes entwickelt, die sich an anderen statistischen Methoden zur Bestimmung der Biodiversität orientieren. Statt der Vielfalt der Arten analysieren diese grob gesagt die Vielfalt der Stimmen und Geräusche. So kann der Computer zum Beispiel berechnen, wie heterogen die aufgezeichneten Frequenzen und Amplituden sind. Ein hoher Wert bedeutet dann, dass sich das Konzert der jeweiligen Landschaft aus den verschiedensten Tonhöhen und Lautstärken zusammensetzt, bei niedrigen Werten ist die Variabilität geringer. Diese Kenngröße erlaubt Rückschlüsse auf die Zahl der singenden und rufenden Arten. Mit anderen Indizes lassen sich die Sinfonien unterschiedlicher Gebiete vergleichen. Die errechneten Werte verraten, wie stark sich deren Spektrum und zeitliche Verteilung unterscheidet. Und das ist ein Indiz dafür, wie verschieden die Artengemeinschaften sind.
Ähnlich wie andere statistische Methoden haben allerdings auch die akustischen Indizes ihre Tücken. Manche reagieren zum Beispiel zu stark auf störende Hintergrundgeräusche, andere haben Probleme, die ungewöhnlich ausdauernden Gesänge von tropischen Zikaden und Heuschrecken zu erfassen. Jeder Index scheint also nur bestimmte Aspekte der biologischen Vielfalt abbilden zu können. Um ein umfassenderes Bild von der jeweiligen Landschaft zu gewinnen, muss man deshalb verschiedene Indizes kombinieren.
Manchmal hängt das Ergebnis der Berechnungen auch vom Abstand der Rufer zum Mikrofon ab, vom Gesangsrepertoire der jeweiligen Arten oder von der Vegetation. Solche verfälschenden Einflüsse sollten sich aber verringern lassen, wenn man eine möglichst große Zahl von Hörproben analysiert. Für eine Studie über die biologische Vielfalt Neukaledoniens haben Jérôme Sueur und seine Kollegen kürzlich mehr als 6000 Aufnahmen zusammengetragen [4].
Der Klang Neukaledoniens
Die Inselgruppe im Südpazifik macht es Ökologen wirklich nicht leicht. Neukaledonien besitzt nicht nur eine besonders vielfältige Flora und Fauna mit zahlreichen Arten, die nirgendwo sonst auf der Erde leben. Die biologischen Schätze sind auch noch sehr kleinräumig verteilt, viele Spezies kommen nur auf einem einzigen Berg oder in einem einzigen Fluss vor. Das macht es extrem schwierig, all diesen Reichtum zu wissenschaftlich zu erfassen und effektiv zu schützen.
Jérôme Sueur und seine Kollegen setzten daher auf eine gezielte Lauschaktion an drei neukaledonischen Bergen mit ähnlichen ökologischen Bedingungen. Alle drei können mit einer üppigen Artenvielfalt aufwarten. Die Zusammensetzung der Lebensgemeinschaften unterscheidet sich allerdings von Gebiet zu Gebiet, jedes hat seine ganz eigenen Bewohner. Deren Stimmengewirr haben die Forscher an 82 aufeinander folgenden Tagen aufgenommen und anschließend das Spektrum und die zeitlichen Muster der Laute mit zwei verschiedenen Indizes analysiert.
Dabei berechneten sie zunächst für jeden Berg die Komplexität seiner Klangkulisse. Wie erwartet fanden sich dabei keine signifikanten Unterschiede zwischen den drei Gebieten – die vergleichbare Artenvielfalt schlägt sich auch in einem ähnlich komplexen Kanon nieder. Und es gibt noch mehr Gemeinsamkeiten: So lösen sich auf allen untersuchten Bergen im Lauf des Tages verschiedene Chöre ab. Nachts sind zum Beispiel sehr viele Heuschrecken zu hören, tagsüber dominierten Vögel und Zikaden das Geschehen.
Obwohl der Schwerpunkt der Gesangsaktivitäten in allen Fällen in der Nacht liegt, sind auch die weniger intensiven Tagesstimmen interessant. Denn sie können helfen, den akustischen Unterschieden zwischen den einzelnen Gebieten auf die Spur zu kommen. Bei den drei untersuchten Bergen ist den Forschern das durchaus gut gelungen. Offenbar ist der für den Vergleich verwendete Index empfindlich genug, um trotz aller Lebensraumähnlichkeiten die unterschiedliche Artenzusammensetzung herauszuarbeiten – ein Erfolg, mit dem das Team nicht unbedingt gerechnet hatte.
Was sagt das Riff?
Auch bei verschiedenen Studien in Meeresökosystemen hat sich der wissenschaftliche Lauschangriff schon bewährt. Alle möglichen Meerestiere vom Krebs bis zum Wal produzieren schließlich eine breite Palette von Geräuschen, um zu navigieren oder Futter zu suchen, um Partner zu finden oder Feinde abzuschrecken. Deshalb gibt es auch unter Wasser Klanglandschaften, die sich je nach Struktur und Bewohnern von Lebensraum zu Lebensraum unterscheiden.
Erica Staaterman von der University of Miami in Florida und ihre Kollegen haben zum Beispiel den Sound von zwei Korallenriffen verglichen [5]. Eines davon liegt im tropischen Ostpazifik vor Panama, das andere vor den Florida Keys in der Karibik. Zwei Tage lang haben die Forscher im Juli 2011 ihre Unterwassermikrofone laufen lassen – mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen.
So zeigt die Geräuschkulisse vor Panama ein deutliches zeitliches Muster, das mit den biologischen Aktivitäten im Riff zusammenhängt. Zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang liegt zum Beispiel ein üppiger Klangteppich mit Frequenzen von mehr als 1000 Hertz über dem Riff. Dieses Phänomen dürfte nach Ansicht der Forscher auf das Konto von nachtaktiven Knallkrebsen gehen, die mit ihren Scheren extrem laute Geräusche erzeugen können. Nachmittags herrscht dagegen auf den meisten Frequenzen weit gehend Ruhe. Es gibt zu dieser Zeit allerdings ein klares Frequenzband bei 400 Hertz, das möglicherweise von Riffbarschen stammt.
So viel zeitliche Variabilität hat das Florida-Riff bei Weitem nicht zu bieten. Dafür verzeichnen die Forscher dort rund um die Uhr mehr Geräusche im Bereich zwischen 25 und 200 Hertz. Das liegt zum Teil an höheren Windgeschwindigkeiten über dem dortigen Meer. Zu diesen Frequenzen gehört aber auch ein typisches Knurren, das vielleicht von einem Fisch ausgestoßen wird.
Was aber verraten diese Unterschiede über den Zustand der beiden Riffe? Auf den ersten Blick scheint es einen einfachen Zusammenhang zu geben. So ist das Pazifikriff mit 38 bis 56 Prozent lebenden Korallen nicht nur gesünder als sein karibisches Pendant, das nur über 23&nsbp;Prozent lebende Riffbaumeister verfügt. Zumindest im Frequenzbereich der Knallkrebse ist es vor Panama auch deutlich lauter. Trotzdem könne man die Intensität dieser Geräusche nicht einfach als Maß für den ökologischen Zustand des Lebensraums verwenden, warnen die Forscher. Schließlich leben Knallkrebse durchaus auch in großen Mengen in geschädigten oder ganz abgestorbenen Riffen.
Für sehr viel versprechend halten Erica Staaterman und ihre Kollegen dagegen die akustische Überwachung von Fischen, die keineswegs so stumm sind, wie der Volksmund behauptet. Das Lautrepertoire dieser Tiere müsse man zwar noch genauer untersuchen. Möglicherweise könne man dann aber durch gezielte Horchaktionen die Anwesenheit und Häufigkeit bestimmter Arten feststellen, schreiben die Forscher im Fachjournal "Coral Reefs" [5]. Bisherige Monitoring-Programme, bei denen Taucher Daten zum Arteninventar und zu verschiedenen anderen Riffeigenschaften zusammentragen, könne das zwar nicht ersetzen. Doch der Klang der Unterwasserwelt könne eine zusätzliche wertvolle Informationsquelle sein.
Naturschutz mit den Ohren
Ähnliches dürfte auch für andere bedrohte Lebensräume gelten. Das Horchen in die Landschaft könnte demnach ein zukunftsträchtiger Ansatz für den Naturschutz sein. Nach ihren Erfahrungen in Neukaledonien sind Jérôme Sueur und seine Kollegen jedenfalls davon überzeugt, dass die akustische Überwachung gerade in den komplexen und schwer zu erforschenden Zentren der weltweiten Artenvielfalt ein äußerst nützliches Werkzeug ist. Schließlich ist gerade dort meist rasches Handeln gefragt: Die Fülle der Arten droht schneller zu verschwinden, als Ökologen sie mit konventionellen Methoden erfassen können. Umso besser, wenn man die Klangkulisse nutzen kann, um mit weniger Aufwand schutzwürdige Gebiete abzugrenzen.
Wer den Klang einer Landschaft über längere Zeit verfolgt, wird womöglich auch Ohrenzeuge von schleichenden Veränderungen. Vielleicht kommen neue Geräusche dazu, etwa durch zunehmenden Straßenverkehr oder eingeschleppte Arten. Oder der Klimawandel beeinflusst die Niederschlagsmuster und damit das Prasseln der Regenschauer in der Tropenwald-Sinfonie. Vielleicht verschwinden auch Stimmen aus dem typischen Konzert, weil die entsprechenden Sänger im jeweiligen Gebiet nicht mehr leben können. Das alles kann ein Zeichen für weit reichende ökologische Veränderungen sein – eine Art akustisches Frühwarnsystem für problematische Entwicklungen. "Das Morgen- und Abendkonzert der Vögel ist zum Beispiel ganz charakteristisch für ein bestimmtes Gebiet", erklärt Bryan Pijanowski von der Purdue University. "Wenn sich die Intensität oder die Muster dieser Chöre verändern, hat das sehr wahrscheinlich eine Ursache."
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