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»Republikanische Olympiade«: Als Paris vor 228 Jahren das Megasportevent erfand

Die Französische Revolution brachte nicht nur die Republik hervor, sondern auch gigantische Sportfeste. Sie ähnelten den Olympischen Spielen und waren doch entscheidend anders.
Großevent auf dem Marsfeld
Das Pariser Marsfeld wurde in den Revolutionsjahren häufig für Massenveranstaltungen genutzt. Ähnlich wie hier beim gigantischen Föderationsfest von 1790 darf man sich wohl auch die Sportveranstaltungen jener Zeit vorstellen. An der Stelle des dreiteiligen Torbogens rechts im Bild steht heute der Eiffelturm.

Der Champ de Mars ist die vielleicht bekannteste Grünanlage von Paris. An seiner Nordseite überragt der Eiffelturm das historische Stadtzentrum, am südlichen Rand thront die École Militaire mit Kuppel und Säulenportikus. In diesen Tagen ist das Marsfeld auch ein Schauplatz der Olympischen und Paralympischen Spiele. In einem temporären Stadion mit Stahltribünen werden hier die Siegerinnen und Sieger im Beachvolleyball und später im Blindenfußball ermittelt. Spitzensport mit Postkartenmotiven vor tausenden Zuschauern – und das in historischer Kulisse.

Doch rund um den Eiffelturm erinnert wenig daran, dass der olympische Trubel an eine sehr alte Tradition anknüpft. Bereits ab 1796, mitten in der Französischen Revolution, fanden auf dem Marsfeld bei mindestens drei »Revolutionsfesten« dutzende Wettkämpfe vor Massenpublikum statt. »Die Stimmung war offenbar sehr ausgelassen und euphorisch«, berichtet der Politikwissenschaftler Martin Krauß. »Man könnte diese Ereignisse als Sport vor dem Sport bezeichnen.« Denn die Wettkämpfe von Paris fanden genau ein Jahrhundert vor den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit statt, die 1896 in Athen ausgetragen wurden.

Martin Krauß hat es sich zur Aufgabe gemacht, historische und politische Entwicklungen mit Hilfe des Sports verständlicher zu machen. Für sein neues Buch hat der Autor sieben Jahre recherchiert. Der Titel: »Dabei sein wäre alles«. Darin beschreibt er auf 450 Seiten, wie unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen für ihre sportliche Teilhabe kämpfen mussten, etwa Frauen, Schwarze oder Menschen mit Behinderung. Und Krauß erinnert auch an Wettbewerbe, die schon früh ein hohes Maß an gesellschaftlicher Vielfalt zeigten. So wie bei den Revolutionsfesten in Paris, bei denen im Grunde jeder und jede mitmachen konnte.

Spektakel der Superlative | Das Fest vom »1 Vendémiaire Jahr VII«, dem 22. September 1798, beschrieben Zeitgenossen als eines der gelungensten. Zum Begleitprogramm gehörte die inszenierte Attacke, ausgehend vom Heißluftballon, auf ein nachgebautes englisches Kriegsschiff.

Die Quellenlage zu den sportlichen Aktivitäten rund um die Französische Revolution ist überschaubar, doch mit Hilfe von Aufsätzen, Zeitzeugenberichten und Zeichnungen gelingt Martin Krauß eine Rekonstruktion mit vielen Details. So fanden auf dem Marsfeld zwischen 1796 und 1801 mehrtägige Feste mit Sport statt, die einigen Quellen zufolge an manchen Tagen bis zu 300 000 Menschen anlockten – die Hälfte der Stadtbevölkerung. Einige von ihnen fanden auf eigens errichteten Tribünen Platz. Im Oval zwischen den Zuschauerplätzen hatte man außerdem einen Hügel aufgeschüttet, eine Art Großpodest für Theater und Kleinkunst.

Wettkämpfe in zahlreichen Disziplinen

Die Feste waren eine Mischung aus Kundgebungen, Jahrmärkten und sportlichen Wettkämpfen. Pferderennen, Wagenrennen, Laufwettbewerbe und Ringkämpfe sind ebenso dokumentiert wie Tänze, Zielschießen oder das Klettern an glitschigen Stangen. Als Sensation galten Vorführungen mit Heißluftballons. Im Jahr 1800 sprang der Fallschirmpionier André-Jacques Garnerin aus angeblich 1000 Meter Höhe ab und landete sicher. »Die Menge soll so begeistert gewesen sein, dass sie das Marsfeld stürmte«, sagt Martin Krauß.

Aus alten Berichten geht hervor, dass die Teilnehmer offenbar aus allen Milieus kamen. »Die Menschen haben sich damals nicht nur für ihre politische Teilhabe eingesetzt, sondern auch für ihre sportliche Beteiligung«, erklärt Krauß. Auf der Laufstrecke, die an der École Militaire startete, traten Grafen gegen Unteroffiziere an, in einem anderen Rennen beteiligten sich Barbiere und Arbeiterinnen aus einer Brauerei. Im Ringen waren ein Metzger und ein Hutmacher erfolgreich. In einigen Disziplinen gab es Dutzende von Vorläufen. Auch Wettbewerbe für Menschen mit Behinderung sind überliefert. Gewinner konnten sich über neue Pferde oder Pistolen freuen, über Säbel und Vasen. Historiker prägten später die Bezeichnung »Republikanische Olympiade« für das Spektakel.

Rennen für die Republik | Die zeitgenössische Gouache zeigt typische Figuren der Pariser Sportfeste. Dass die Läufer ganz in Weiß und mit Federschmuck antraten, ist schriftlich verbürgt.

Doch diese kulturelle Verknüpfung zur »Olympiade« hält Krauß für fragwürdig. Zum einen hatten die demokratischen Wettbewerbe von Paris wenig mit den Olympischen Spielen der Antike gemeinsam, bei denen ab dem 8. Jahrhundert v. Chr. auf der Halbinsel Peloponnes ausschließlich »freie Männer« griechischer Herkunft gegeneinander antreten durften und man Frauen nur zuschauen ließ, solange sie unverheiratet waren. Zum anderen griffen die Pariser Revolutionsfeste zwar einige Elemente aus der Antike auf, doch ihre Symbolik bediente sich ebenso bei ägyptischen Pyramiden, arabischen Gesängen und chinesischen Tempeln.

Die Vorstellung einer direkten Traditionslinie vom Paris der 1790er Jahre ins Athen des Jahres 1896, dem Beginn der Olympischen Spielen der Moderne, wurde maßgeblich von dem Historiker Alain Arvin-Bérod entwickelt. Für sein 1996 erschienenes Buch »Les Enfants d’Olympie« (Die Kinder von Olympia) schrieb denn auch Juan Antonio Samaranch, der damalige Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), ein Grußwort. Die kulturelle Nähe zu den Errungenschaften der Französischen Revolution, die Arvin-Bérod konstruierte, scheint dem Herrn der Ringe gefallen zu haben.

Sportliche Elite

Am 6. April 1896 wurden die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit eröffnet. 241 Sportler gingen in Athen an den Start, weiße Europäer und Amerikaner mit europäischer Herkunft, überwiegend christlich, keine Frauen. Zugelassen waren allein »Amateure«, die ihren Lebensunterhalt nicht mit dem Sport verdienten. Wer teilnehmen wollte, musste also über das nötige Vermögen für ein solch teures Hobby verfügen. »Olympia war ein elitärer Klub von Adligen und Großbürgern«, urteilt der britische Soziologe David Goldblatt. »Der Ethos englischer Privatschulen wurde in die Welt getragen. Auch Sport sollte den Charakter junger Männer formen, um über ein Imperium zu herrschen.«

David Goldblatt hat eines der wichtigsten Bücher über Olympia geschrieben: »Die Spiele. Eine Weltgeschichte der Olympiade«. Darin geht er auch auf jene Sportfeste ein, die schon lange vor den Olympischen Spielen viele Menschen anlockten. Zum Beispiel die »Cotswold Olimpick Games«, die seit 1612 nahezu ohne Unterbrechung in England stattfinden. Mit Unterstützung von König Jakob I. brachte der Anwalt Robert Dover wohlhabende und arme Menschen zusammen, unter anderem für Pferderennen, Ringkämpfe, Hammerwerfen und Schienbeintritte. Sie glaubten, das Königreich durch körperliche Ertüchtigung besser verteidigen zu können.

Wagenrennen | Mit dieser Disziplin knüpften die Sportfeste auf dem Marsfeld an antike Traditionen an. Doch weder mit den Spielen von damals noch mit denen, die danach folgten, hatten sie viel gemeinsam.

In der Folge der »Cotswold Games« entstanden in Großbritannien weitere Sportfeste. So kommentierte der französische Philosoph Voltaire nach dem Besuch von Wettbewerben an der Themse: »Ich fühle mich in die Zeit der Olympischen Spiele zurückversetzt.« David Goldblatt nennt in seinem Buch weitere Wettkämpfe, die an politische Umbrüche geknüpft waren, etwa an die Glorious Revolution in England Ende des 17. Jahrhunderts oder an die Unabhängigkeitsbewegung in Nordamerika in den 1770er Jahren: »Auch im Sport konnte man Moralvorstellungen und Nationalgefühl ausdrücken«, so Goldblatt.

Volkssport mit Maß

Es gab die »Wenlock Olympian Games« im Westen Englands, das »Liverpool Grand Olympic Festival« oder die sportliche Initiative des Kaufmanns Evangelos Zappas in Griechenland in den 1850er Jahren. Doch die Revolutionsfeste in Frankreich an der Schwelle zum 18. Jahrhundert stechen hervor, auch weil hier zum ersten Mal Messungen mit dem metrischen System zum Einsatz kamen. Unter Mitwirkung des französischen Astronomen Alexis Bouvard wurden die Zeiten von Läufern und Rennpferden gemessen. »Das ist ein Wesensmerkmal des modernen Sports«, erläutert der Politikwissenschaftler Krauß. Und ein wichtiger Unterschied zu den sportlichen Dorffesten und Jahrmärkten aus dem Mittelalter.

Cotswold Olimpick Games | Seit 1612 wurde das sportliche Treiben auch nach Unterbrechungen immer wieder aufgegriffen. In der Disziplin »Schienbeintreten« (rechts neben dem Hügel dargestellt) treten heute noch Athleten gegeneinander an.

Die Sieger von Paris durften sich in einer Parade präsentieren, begleitet von einer Militärkapelle. Viele von ihnen trugen einen Lorbeerkranz und die republikanischen Farben Blau, Weiß, Rot. Die Zeitung »Le Monitor« kommentierte, dass die französischen Sportler den »jungen Spartanern glichen, die, in der Arena der Olympischen Spiele geschart, der versammelten griechischen Bevölkerung ein leuchtendes Beispiel der Sitten der Nation gaben«. Es waren »Spiele, Rennen, Übungen voller Bewegung und Pracht«. 1798 wurde der Ruf laut, diese Spiele auch in andere Länder zu bringen – gemeinsam mit der Revolution, versteht sich.

Doch schon bald mussten die Anliegen der Französischen Revolution in den Hintergrund treten. Napoleon Bonaparte griff nach der Macht und krönte sich 1804 zum Kaiser. An demokratische Wettbewerbe war nicht mehr zu denken. In diesem Sommer nun, 228 Jahre später, kehrt der Sport mit den Olympischen Spielen auf das Marsfeld von Paris zurück. Die Spuren der »Fêtes de la Révolution« sind jedoch verblasst.

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