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Schlafstörungen: Schwere Decken für guten Schlaf?

Sie sind bis zu zwölf Kilogramm schwer und sollen unter anderem bei Schlafstörungen und Ängsten helfen. Doch zur Wirksamkeit von Gewichtsdecken gibt es wenig gute Forschung.
Blick auf eine im Bett liegende schlafende Person

Ob dicke Daunenschicht oder leichtes Laken: Wenn Menschen ins Bett gehen, decken sie sich zu. Das fördert den Schlaf, unabhängig davon, wie warm die Umgebung ist. »Wir brauchen eine Decke, um unsere Körperkerntemperatur in der Nacht konstant zu halten. Sie hat aber auch einen psychologischen Effekt: Mit ihr machen wir es uns gemütlich und bequem«, sagt Hans-Günter Weeß, Psychologe und Leiter des Interdisziplinären Schlafzentrums am Pfalzklinikum in Klingenmünster.

Jetzt gibt es eine neue Art von Decke, die besonders förderlich für die Nachtruhe sein soll: die Gewichtsdecke. Zwischen Stoffschichten sind Kügelchen oder Ketten eingenäht, zum Beispiel aus Metall oder Glas. Das macht die Decke bis zu zwölf Kilogramm schwer. Ihr Gewicht auf dem Körper soll beruhigend und entspannend wirken und ein Gefühl der Geborgenheit vermitteln, ähnlich wie eine liebevolle Umarmung oder wenn in der Kindheit das Federbett vor dem Schlafen eng um den Körper gesteckt wurde. Die Idee ist nicht neu: Manche Eltern umwickeln ihr Baby zur Beruhigung fest mit einem Tuch; die Technik wird Pucken genannt. In Japan lassen sich einem Bericht der BBC zufolge auch Erwachsene verschnüren, um zu entspannen.

Hersteller von Gewichtsdecken empfehlen ihre Produkte vor allem bei Schlafstörungen, aber auch bei Stress und psychischen Erkrankungen wie Angst- und Panikstörungen, Depressionen und ADHS. Menschen mit Autismus, dem Restless-Legs-Syndrom, Demenz oder Parkinson sollen von den Decken profitieren, indem sie ruhiger und gelassener werden. Die Betroffenen schlafen entweder die ganze Nacht unter der Decke, die dann etwa zehn Prozent des Körpergewichts wiegen soll. Oder sie verbringen nur rund 5 bis 15 Minuten unter einer noch schwereren Decke, beispielsweise im Rahmen einer Ergotherapie.

In Schweden scheinen Gewichtsdecken bereits bekannter zu sein als in Deutschland: Jedes Jahr werden einer Forschungsgruppe zufolge in Stockholm etwa 2700 solcher Oberbetten für Erwachsene verschrieben, die sich in psychiatrischer Behandlung befinden. Auch viele Altersheime probieren die Produkte dort offenbar aus.

Körperlicher Druck hilft gegen Angst

Der Grund für die Wirkung soll tiefe Druckstimulation (von englisch: deep (touch) pressure stimulation) sein, also ein großflächiger und statischer Druckreiz auf den gesamten Körper. Der Begriff geht auf die US-Amerikanerin Temple Grandin zurück. Die Autistin kämpfte lange mit Angstzuständen und Nervosität und hatte große Probleme, wenn andere sie sanft berühren wollten. Fester Druck dagegen schien sie zu entspannen. Einen ähnlich beruhigenden Effekt beobachtete sie bei Rindern, die in der Warteschlange vor einer tierärztlichen Untersuchung in einem metallenen Gang von den Seiten stark eingeengt wurden.

Angesichts dieser Erkenntnis entwickelte Grandin in den 1960er Jahren für sich selbst eine Maschine, in der sie durch zwei gepolsterte Platten entlang der Körperseiten fest zusammenpresst wurde. Nur 10 bis 15 Minuten in der Maschine minderten ihre Angst für bis zu 45 bis 60 Minuten, berichtete sie. Nach und nach gewöhnte sie sich an das Gefühl des Drucks auf ihrem Körper, so dass sie schließlich auch Berührungen anderer Menschen aushalten konnte.

In der Folge kamen einige Exemplare ihrer Maschine bei der Therapie von Kindern mit Autismus zum Einsatz. Grandin vermutete, dass tiefe Druckstimulation für Nichtautisten ebenfalls hilfreich sein könnte. In den 1990er Jahren ließ sie 40 College-Studierende ihre Maschine ausprobieren. 55 Prozent von ihnen beschrieben die Erfahrung als entspannend oder empfanden ein Gefühl der Schwerelosigkeit. Fünf Prozent bekamen Platzangst und mussten das Experiment abbrechen. Die restlichen Studierenden spürten keinen Effekt.

»Tiefe Druckstimulation kann grundsätzlich verschiedene Arten von starken Druckreizen bezeichnen, mit denen nicht nur die Haut, sondern auch tiefere Schichten des Körpers verformt werden«, sagt die Psychologin Stephanie Margarete Müller, Nachwuchsgruppenleiterin am Haptik-Forschungslabor der Universität Leipzig. Tiefer Druck könne mit einer Maschine wie der von Temple Grandin, aber ebenso zum Beispiel mit einer Massage ausgeübt werden.

Die Verkaufsversprechen sind kaum belegt

Gewichtsdecken sollen zudem das Hormonsystem des Körpers beeinflussen: Die Ausschüttung des »Glückshormons« Serotonin und des als »Schlafhormon« bekannten Melatonins soll gefördert, der Stress auslösende Kortisolspiegel gesenkt werden, behaupten die Hersteller. Aber stimmt das? »Durch Entspannungsmassagen sind solche biologischen Veränderungen tatsächlich belegt«, sagt Müller. Die Erkenntnisse ließen sich jedoch nicht ohne Weiteres auf Gewichtsdecken übertragen. »Schließlich werden bei einer Massage Körperschichten sehr dynamisch bewegt und verschoben. Außerdem findet dabei zwischenmenschlicher Kontakt statt«, sagt die Wissenschaftlerin. Bisher gibt es keine methodisch guten Studien, die untersucht haben, was bei der Anwendung von Gewichtsdecken im Körper passiert.

Einen beruhigenden Effekt scheint es aber zu geben. In verschiedenen Befragungen berichten die Probanden, dass sie sich unter der Decke entspannter und angstfreier fühlen, beispielsweise gesunde Erwachsene, Patienten in akuter psychiatrischer Behandlung, mit Essstörungen oder während einer Chemotherapie.

Viele dieser Studien haben allerdings keine hohe Qualität. Meistens fehlt ihnen eine Kontrollgruppe, bestehend aus Versuchspersonen, die nicht unter einer Gewichtsdecke geschlafen haben, aber ebenso genau beobachtet wurden wie diejenigen mit Gewichtsdecke. Nur durch solche Vergleiche lässt sich letztlich ausschließen, dass eine beobachtete Wirkung nicht auch ohne das Gewicht der Decke erreicht worden wäre. Zu vielen Anwendungsbereichen gibt es zudem lediglich einzelne Forschungsarbeiten – ein beschriebener Effekt wurde also nicht durch eine zweite Untersuchung bestätigt.

Am häufigsten wurde die Wirkung auf Ängste oder Schlafstörungen untersucht. Eine Übersichtsarbeit aus dem Frühjahr 2020 fand fünf Studien zu Ängsten sowie drei zu Schlafstörungen, die vor ihrer Veröffentlichung einer Überprüfung durch die Forschungsgemeinschaft standgehalten hatten, also »peer-reviewed« waren. Die Arbeiten unterschieden sich stark in ihrem Aufbau. Manche hatten nur Kinder beobachtet, andere Erwachsene. Allgemeine Empfehlungen ließen sich dadurch bloß bedingt ableiten. Das Autorenteam folgerte, Gewichtsdecken könnten eine geeignete therapeutische Maßnahme gegen Ängste sein. Um zu behaupten, dass sie auch bei Schlafstörungen hilfreich seien, gebe es dagegen nicht ausreichend Evidenz.

Psychiatrische Patienten profitieren offenbar

Ein Team um den klinischen Neurowissenschaftler Mats Adler vom Karolinska-Institut in Stockholm wollte diese Forschungslücke schließen. In einer neueren Untersuchung aus dem Herbst 2020 beobachtete es 120 psychiatrische Patienten mit Schlafstörungen, die zusätzlich eine Depression, eine bipolare Störung, eine generalisierte Angststörung oder ADHS hatten. Die Versuchspersonen schliefen vier Wochen lang jede Nacht entweder unter einer Gewichtsdecke mit einem Gewicht von sechs oder acht Kilogramm oder unter einer leichteren, eineinhalb Kilogramm schweren Decke, in die statt schwerer Ketten aus Metall solche aus Kunststoff eingenäht waren. Außerdem trugen einige der Probanden eine Woche lang ein Armband, das ihre körperliche Aktivität bei Tag und in der Nacht aufzeichnete.

Fast 60 Prozent der Versuchspersonen berichteten von einer deutlichen Verbesserung ihrer Schlafqualität durch die Gewichtsdecken. Bei den Probanden mit leichter Decke waren es lediglich rund fünf Prozent. Die Probanden waren durch die Gewichtsdecke zudem tagsüber aktiver, fühlten sich weniger müde, depressiv und ängstlich. Die Ergebnisse lassen sich aber nur bedingt auf seelisch gesunde Menschen übertragen. Denn Schlafstörungen können neben psychischen Leiden vielfältige Ursachen haben, auch körperliche Erkrankungen.

»Menschen wissen in der Regel innerhalb weniger Minuten nach Aufbringen der Gewichtsdecke, ob sie den Druck als angenehm empfinden oder als beklemmend«
Stephanie Margarete Müller, Nachwuchsgruppenleiterin am Haptik-Forschungslabor der Universität Leipzig

»Nur weil Gewichtsdecken bei psychisch bedingten Schlafstörungen helfen, sind sie nicht unbedingt bei anderen Arten von Schlafstörungen ebenso wirksam«, sagt Schlafzentrums-Leiter Hans-Günter Weeß. Er halte es jedoch für möglich, dass sie für eine begrenzte Anzahl von Patienten nützlich seien, vor allem wenn diese hohe so genannte Schlaferwartungsängste hätten. Die Betroffenen beschäftigen sich nachts dermaßen intensiv damit, nicht schlafen zu können, dass sie immer angespannter werden und erst recht nicht zur Ruhe kommen. »Unter der Gewichtsdecke könnten sie unbewusst Gefühle von Geborgenheit und Sicherheit entwickeln, die beruhigend und entspannend wirken. Und Entspannung ist die Grundvoraussetzung für Schlaf«, erläutert Weeß. Erwiesen sei dieser Effekt nicht. Der Psychologe empfiehlt daher, zunächst andere Wege der Selbstberuhigung auszuprobieren, die nachweislich langfristig wirken, wie progressive Muskelentspannung, autogenes Training oder Fantasiereisen.

Das Team des Haptik-Labors der Universität Leipzig will mit Hilfe einer geplanten Studie zukünftig besser verstehen, wie tiefe Druckstimulation im Gehirn verarbeitet wird. »Wir hoffen, die beruhigenden und Angst reduzierenden Effekte auch anhand entsprechender Veränderungen der Hirnaktivität nachweisen zu können«, sagt Müller. In einem Haptik-Lehrbuch für Fachkräfte in Gesundheitsberufen hat sie kürzlich zusammen mit Kollegen Wissenswertes unter anderem über Gewichtsdecken zusammengefasst. Noch fehlen jedoch Leitlinien zur Anwendung in der Praxis. »Menschen wissen in der Regel innerhalb weniger Minuten nach Aufbringen der Gewichtsdecke, ob sie den Druck als angenehm empfinden oder als beklemmend«, berichtet Müller. »Das kann man nur ausprobieren.«

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