Überraschend mobil: Das Rätsel der wandernden Schwämme
Schwämme gehören zu den ältesten und einfachsten Tieren. Bis ins 18. Jahrhundert galten sie sogar als Pflanzen, denn sie sitzen fest auf dem Untergrund und schienen sich nicht aktiv zu bewegen. Das allerdings stimmt nicht. Vor einigen Jahren beobachteten Fachleute, dass die Tiere »niesen«, um Verschmutzungen loszuwerden. Nun zeigen Videos des Forschungsschiffs »Polarstern«: Die vermeintlich sesshaften Tiere kriechen sogar umher. Wie ein Team um Teresa Morganti vom Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie berichtet, zeigen Unterwasseraufnahmen von Unterwasserbergen im Arktischen Ozean mutmaßliche Kriechspuren von Schwämmen.
Der Veröffentlichung in »Current Biology« zufolge bestehen die bräunlichen Streifen aus einem Filz dicht verwobener Spikulen, den Nadel- oder sternförmigen Skelettbausteinen der Schwämme. Außerdem sind viele der Spuren direkt mit der Unterseite eines Schwamms in der Nähe verbunden. Bisher hat noch niemand einen kriechenden Schwamm in flagranti erwischt, aber nach Ansicht der Arbeitsgruppe können die bis zu einige Meter langen Streifen kaum anders entstanden sein als durch aktive Bewegung. Die Spuren deuten darauf hin, dass die Tiere bei ihren Wanderungen die Richtung wechseln und sogar bergauf kriechen.
Der bemerkenswerteste Befund jedoch ist, dass es anscheinend für die arktischen Schwämme relativ normal ist, den Standort zu wechseln. In 70 Prozent aller Aufnahmen mit Schwämmen darin sahen die Fachleute auch die rätselhaften Spuren. Dass die Tiere derart mobil sein könnten, widerspricht allem, was man bisher über diese Lebensformen zu wissen glaubte.
Wie Schwämme kriechen, ist bisher völlig rätselhaft. Sie haben keine Muskeln oder anderen Körperstrukturen für aktive Bewegungen. Laborversuche und Beobachtungen zeigen allerdings, dass Schwämme aktiv ihre Größe verändern und sogar ihren Körper umbauen können – das geschieht, indem die Zellen des Schwamms koordiniert umherkriechen. Im Labor beobachteten Fachleute auch, dass die Zellen in der Außenhaut der Schwämme das ganze Tier wenige Millimeter zur Seite bewegen konnten. Dass die Tiere auf diesem Weg mehrere Meter reisen, schien aber ausgeschlossen.
Ebenso rätselhaft ist bisher, warum Schwämme den Aufwand machen. Es könnte etwas mit der Fortpflanzung zu tun haben, oder mit einer bestimmten Lebensphase der Schwämme – zum Beispiel, dass junge Schwämme die heimatlichen Gefilde verlassen und in die Ferne ziehen. Möglicherweise suchen die Tiere sich auch einfach bessere Futterstellen, aber wie sie beurteilen, ob einige Meter weiter die Bedingungen aussichtsreicher sind, ist unklar.
Die Arbeitsgruppe stellt allerdings eine weitere Möglichkeit in den Raum: Die Matten aus Spikulen könnten demnach eine Art Fangnetz sein, in dem sich herabregnender organischer Meeresschnee sammelt, von dem sich die Schwämme ernähren. Möglicherweise ernten die Tiere ihre »Fangteppiche« regelmäßig ab, um sich in der extrem nahrungsarmen Tiefsee ein kleines Zubrot zu sichern.
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