News: Sehen auf neuen Wegen
Ein lang bekanntes Charakteristikum der Informationsverarbeitung in der Säugernetzhaut ist "parallel processing", die Verarbeitung verschiedener Reizkomponenten in getrennten, parallelen Bahnen. Zwei dieser Bahnen sind die Zapfen- und die Stäbchenbahn. Das Zapfensystem ist für das Sehen bei Tageslicht verantwortlich. Es ermöglicht die Wahrnehmung räumlicher und zeitlicher Reize mit höchster Auflösung sowie das Farbensehen. Im Unterschied dazu ist das Stäbchensystem für das Sehen bei geringen Lichtintensitäten – Dämmerung bis Sternenlicht – optimiert. Bislang galt, daß Zapfen und Stäbchen ihre Signale an getrennte Neuronenpopulationen, die Zapfenbipolarzellen bzw. Stäbchenbipolarzellen, weitergeben.
Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Hirnforschung haben jetzt einen neuen, alternativen Signalweg zur Übertragung der Stäbcheninformation in der Säugernetzhaut entdeckt: Die Stäbchen geben ihre Signale über chemische Synapsen auch direkt an Zapfenbipolarzellen weiter. Iris Hack von der Neuroanatomischen Abteilung des Instituts (Arbeitsgruppen von Johann Helmut Brandstätter und Leo Peichl) gelang die Entdeckung mit molekularen Proben zum Nachweis von Neurotransmitter-Rezeptoren und elektronenmikroskopischer Analyse. Ihr Befund widerlegt die klassische Vorstellung der klaren Trennung von Stäbchen- und Zapfenbahn (Proceedings of the National Academy of Sciences vom 23. November 1999, Abstract).
Noch ist offen, ob es sich bei dem alternativen Stäbchensignalweg um ein stammesgeschichtliches Relikt handelt (niedere Wirbeltiere haben Bipolarzellen, die von Zapfen und Stäbchen gemeinsam bedient werden), oder ob hier eine weitere Raffinesse der Natur entdeckt wurde. Die klassische Stäbchenbahn zeichnet sich durch höchste Lichtempfindlichkeit aus, die allerdings durch eine eingeschränkte Bandbreite der übertragbaren Lichtintensitäten erkauft wird; außerdem arbeitet sie relativ träge. Der jetzt entdeckte zusätzliche Weg über die Zapfenbipolarzellen könnte den Übertragungsbereich von Stäbchensignalen zu höheren Lichtintensitäten erweitern und gleichzeitig von den schnelleren Reaktionszeiten der Zapfenbahn profitieren. Multiple Signalwege, die nicht getrennt verlaufen, sondern miteinander verflochten sind, könnten so eine optimale Auswertung der auf die Netzhaut auftreffenden Lichtquanten ermöglichen.
Siehe auch
- Spektrum Ticker vom 17.2.1999
"Durcheinander auf der Netzhaut" - Spektrum Ticker vom 6.9.1999
"Eine 'Sonnenbrille' im Auge"
(nur für Ticker-Abonnenten zugänglich)
Die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) ist eine vorwiegend von Bund und Ländern finanzierte Einrichtung der Grundlagenforschung. Sie betreibt rund achtzig Max-Planck-Institute.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.