eTriage: Technische Hilfe für den Notfall
Ein Terroranschlag hat das große Fährterminal in seinen Grundfesten erschüttert. Hunderte Verletzte liegen in den Trümmern. Erste Einsatzkräfte bahnen sich einen Weg durch die Ruinen. Sie müssen entscheiden, wen die Ärzte als Erstes versorgen sollen, wer noch warten muss – und bei wem sich die Hilfe nicht mehr lohnt. Die Entscheidung fällt innerhalb von Sekunden und bedeutet für jeden Helfer eine schreckliche Verantwortung.
Dieses Mal ist alles nur eine Übung. Die Helfer testen ein neues System, das sie im Ernstfall dabei unterstützen soll, die Opfer zu "sichten". Der Fachbegriff für diese Aufgabe, Triage, stammt aus dem Französischen und bedeutet "Sortierung". Ein nüchterner, technischer Ausdruck für eine ethisch höchst anspruchsvolle und psychisch herausfordernde Tätigkeit. Doch in Katastrophenfällen, in denen es mehr Opfer gibt, als die Helfer versorgen können, ist gerade diese Sachlichkeit gefragt, um möglichst viele Menschenleben zu retten – sei es nach einer Karambolage auf der Autobahn, einem Erdbeben oder einem Terroranschlag. Um die knappen Ressourcen bestmöglich zu verteilen, müssen die Helfer die Verletzten zunächst in Kategorien einteilen. In Deutschland befestigen sie farbige Karten an den Opfern und vermerken darauf handschriftlich wichtige Daten. Schwer Verletzte in akuter Lebensgefahr erhalten eine rote Verletztenanhängekarte (VAK) – sie werden als Erste versorgt. Gelbe und grüne VAKs kennzeichnen die etwas leichter Verletzten, deren Behandlung aufgeschoben wird. Für Menschen ohne Überlebenschance gibt es je nachdem, welches Triage-System eingesetzt wird, blaue, schwarze oder weiße Karten.
Das Vorgehen ist in anderen Ländern ähnlich, jedoch nicht standardisiert. Rettungsorganisationen verwenden verschiedene Schemata, um die Opfer zu kategorisieren, und die genaue Definition der Kategorien ist nicht einheitlich. Statt VAKs nutzt man beispielsweise in Norwegen, farbige Armbänder, die wetterfester sind. Einige Probleme haben aber alle Vorgehensweisen: Bisher können die Triagers, also die Helfer, die die erste Sichtung durchführen, den Einsatzleiter erst nach Abschluss ihrer Arbeit informieren. In Extremfällen kann es deshalb bis zu 40 Minuten dauern, bis ein schwer verletztes Opfer ärztliche Hilfe bekommt. Außerdem kann der Helfer naturgemäß nur erfassen, wie es dem Opfer zum Zeitpunkt der Sichtung geht. Veränderungen lassen sich nicht registrieren.
Sensoren im Armband
An diesen Problemen arbeiten Erion Elmasllari und seine Kollegen vom Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik (FIT) in Sankt Augustin. Sie haben ein elektronisches Triage-System, kurz eTriage, entwickelt. Kernstück ist ein Armband, das die Position und den Status jedes markierten Opfers im Idealfall in Echtzeit an den Einsatzleiter übermittelt. Dieser sieht, wo sich die meisten schwer Verletzten befinden, kann bei Bedarf Informationen über ihre Vitalfunktionen abrufen und sofort Maßnahmen ergreifen, etwa einen Rettungswagen oder Hubschrauber bestellen. "In Katastrophenfällen den Überblick zu behalten, ist eine extreme Herausforderung", sagt Elmasllari. "Unsere Technik soll dem Einsatzleiter genau die Informationen liefern, die er für seine Entscheidungen braucht." Das Besondere an dem System sei, dass es sich reibungslos in den bisherigen Ablauf integrieren lasse, erläutert er. "Sie müssen nicht für eine neue Technik geschult werden. Alles läuft automatisch."
Dazu ist in den Armbändern ein kleiner Chip integriert, etwa so groß wie eine Briefmarke. Dieser enthält einen GPS-Sensor, der die Position des Opfers erfasst, einen RFID-Chip, auf dem die Daten gespeichert werden, und ein Funkelement, das sie an die Leitstelle sendet. Weitere Sensoren, etwa für den Puls, die Atemfrequenz und die Sauerstoffsättigung im Blut, können die Helfer je nach Bedarf drahtlos mit dem Chip verbinden. Dazu müssen sie diese lediglich kurz mit dem Armband in Berührung bringen.
Voraussetzung dafür sind freilich drahtlose Kommunikationssysteme. Doch gerade die stehen in Katastrophenfällen oft nicht zur Verfügung. "WLAN und Handynetze brechen schnell zusammen. Darauf können wir uns nicht verlassen", sagt Elmasllari. "Wenn alles ausfällt, können wir ein sogenanntes ZigBee-Netz aufbauen. Das funktioniert ähnlich wie Bluetooth, hat aber einen relativ großen Kommunikationsradius von ungefähr einem Kilometer." Wenn die Armbänder nicht auf andere Netzwerke zugreifen können, erzeugen sie automatisch das ZigBee-Netz und senden darüber die Daten an die Einsatzzentrale.
"Ohne einheitliche Standards ist ein elektronisches Triage-System kaum denkbar"Anton Donner
Die Techniken an sich sind nicht neu. Schon vorangegangene Projekte haben ähnliche Lösungen entwickelt. Bisher wird jedoch noch keine eingesetzt. Anton Donner vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt hat von 2009 bis 2012 das vom BMBF geförderte Projekt "e-Triage" geleitet, bei dem es unter anderem darum ging, satellitenbasierte Kommunikationssysteme zu entwickeln. "Damals war ich noch optimistisch, dass am Ende des Projekts eine kommerzielle Umsetzung nahe wäre. Das war vielleicht etwas blauäugig", sagt er. Industrielles Interesse sei durchaus vorhanden. "Aber es gibt zu viele unterschiedliche Akteure mit verschiedenen Vorgehensweisen. Und bevor sie sich nicht auf einheitliche Standards geeinigt haben, ist die Einführung eines elektronischen Triage-Systems kaum denkbar."
Bisher gebe es in Deutschland sogar von Landkreis zu Landkreis Unterschiede: Nach welchen Kriterien werden die Verletzten kategorisiert? Welche Daten müssen erfasst werden? Wie werden sie dokumentiert und weitergegeben? Dabei wäre ein einheitliches Konzept gerade für Großschadensfälle von Nöten, bei denen die örtlichen Rettungskräfte auf überregionale Unterstützung angewiesen sind.
EU-Projekt bis 2015
International sind die Differenzen noch größer. "Zwischen den verschiedenen Beteiligten fehlt das gegenseitige Vertrauen. Statt Zusammenarbeit gibt es eher Rivalitäten", bedauert Elmasllari. Sein eTriage-Projekt ist nur ein kleiner Teil des größeren EU-Projekts BRIDGE, das von 2011 bis 2015 mit insgesamt 18 Millionen Euro gefördert wird, um Rettungseinsätze besser zu koordinieren. Dabei geht es auch darum, international einheitliche Standards zu entwickeln. Das Fraunhofer FIT ist der technische Koordinator des Projekts, die Projektleitung liegt bei der norwegischen Forschungsorganisation SINTEF. Beteiligt sind außerdem universitäre und industrielle Partner aus den Niederlanden, Schweden, England, Österreich und der Schweiz.
Ein wichtiger Aspekt ist die Einbeziehung der Anwender. "Wir arbeiten eng mit Leuten aus der Praxis zusammen und können so genau das entwickeln, was sie brauchen", sagt Elmasllari. Für das eTriage-System ist als Nächstes ein Langzeittest in Kooperation mit einer Hilfsorganisation geplant. Dabei sollen Notärzte die Komponenten des neuen Systems in ihrem Arbeitsalltag einsetzen und Rückmeldungen geben, wo noch Verbesserungspotenzial besteht.
"Oft übersteigt der Stress das, was ein Mensch ertragen kann"Christine Adler
Das hat bereits einen praktischen Sinn. Donner erklärt: "Große Schadensereignisse, die tatsächlich eine Triage erfordern, kommen zum Glück sehr selten vor. Aber so eine Technik muss man in bestehende Systeme integrieren, mit denen Ärzte und Krankenhäuser ihre alltäglichen Einsätze organisieren und abrechnen. Dann sind die Rettungskräfte im Ernstfall schon damit vertraut." Natürlich ist das System so selbsterklärend gestaltet, dass auch ungeschulte Helfer intuitiv damit umgehen können.
Nicht nur die effiziente Versorgung der Opfer haben die Entwickler im Blick, sondern auch die psychologische Entlastung der Helfer. Christine Adler von der Ludwig-Maximilians-Universität München hat im e-Triage-Projekt von 2009 bis 2012 die ethisch-psychologische Begleitforschung verantwortet. "Ein Katastrophenfall konfrontiert die Helfer mit Toten und Schwerverletzten, mit Lärm, Gerüchen und Zeitdruck. Oft übersteigt der Stress das, was ein Mensch ertragen kann." Die Helfer entwickeln Fluchtgedanken oder verfallen in eine Art Starre. Manche können sich vor lauter Eindrücken nicht mehr auf das Wesentliche konzentrieren, bei anderen kommt es zum Tunnelblick.
"Ein elektronisches System kann dabei helfen, sie wieder zurück in ihren vertrauten Arbeitsrhythmus zu bringen", sagt Adler. Bei dem elektronischen Triage-System, das sie und ihre Kollegen entwickelt haben, führt daher ein Programm fürs Tablet die Helfer in Ja-Nein-Fragen durch einen vorgegebenen Algorithmus und legt am Ende fest, welcher Kategorie der Patient zuzuordnen ist. "Wir haben das System bei mehreren Übungen und Feldversuchen erprobt und konnten zeigen, dass es effektiv hilft, Stresssymptome abzubauen." Bei der papierbasierten Triage arbeiten die Helfer in der Regel ebenfalls nach einem Algorithmus, müssen diesen aber auswendig wissen und im Kopf durchgehen. "Dabei machen sie leicht Fehler. Mit der elektronischen Hilfe konnten sie in den Übungen mehr Patienten richtig kategorisieren und waren dabei sogar schneller."
Neue Möglichkeiten – neue Probleme
Auch das eTriage-System, an dem Elmasllari arbeitet, nutzt Tablet-PCs. Hier allerdings ist kein Programm vorgesehen, das die Helfer durch den Algorithmus führt. "Unsere Anwenderbefragungen haben ergeben, dass die meisten keine von der Technik vorgegebene feste Struktur wollen. Sie möchten lieber selbst entscheiden." Das sei zwar möglicherweise fehleranfälliger, biete aber mehr Flexibilität und Ermessensspielraum. Ein weiterer Vorteil ist, dass Rettungsorganisationen das System unabhängig von möglicherweise verschiedenen Sichtungsstandards einsetzen können: "Egal nach welchem Algorithmus die Helfer die Opfer einteilen, unsere Armbänder können sie auf jeden Fall nutzen." Auf dem Tablet sollen die Einsatzkräfte gegebenenfalls eine Umgebungskarte abrufen können, auf der sie unter anderem die bisher gesichteten Opfer und deren aktuelle Vitaldaten sehen können.
Ob diese Informationen zu einer effektiveren Sichtung beitragen oder zu einer Reizüberflutung führen, muss noch erprobt werden. Elmasllari sieht auch mögliche Nachteile: "Was ist, wenn ein Helfer auf dem Tablet sieht, dass sich der Status eines Verletzten erheblich verschlechtert? Geht er dann zurück um zu helfen, oder arbeitet er weiter, wie es eigentlich seiner Aufgabe entspräche? Mehr Informationen können auch mehr ethische Herausforderungen bedeuten." Christine Adler warnt ebenfalls davor, zu viele Optionen zur Verfügung zu stellen. "Man muss ganz genau überprüfen, wer welche Funktion unter welchen Bedingungen wirklich braucht. Auch wenn die Technik heute viele Möglichkeiten bietet, muss man sich in der Forschung manchmal auch den Vorstellungen unserer App-geprägten Welt widersetzen."
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