News: Theoretisches Techtelmechtel
Bei der Ionisation durch Elektronenbeschuß nähert sich zunächst das Elektron mit einer bestimmten Geschwindigkeit einem Wasserstoffatom. Durch die Wechselwirkung der beiden fliegen schließlich zwei Elektronen unter einem bestimmten Winkel zueinander vom zurückbleibenden Proton weg. Die Wahrscheinlichkeit, daß aus einem definierten Anfangszustand auch ein bestimmter Endzustand resultiert, mit vorhersagbaren Energien der Elektronen und den Winkeln ihrer Bahnen, ist schließlich der "Wirkungsquerschnitt" dieser Lösung.
Der Wirkungsquerschnitt von quantenmechanischen Prozessen ist durch die Wellenfunktion des Systems bestimmt. Die Lösung der Schrödinger-Gleichung ermöglicht also, die Abhängigkeit bestimmter Zustände voneinander zu ermitteln. Allerdings sind bei Streuungs-Phänomenen die Wellenfunktionen nicht lokalisiert, sondern sie dehnen sich über den gesamten Raum aus. Außerdem, so McCurdy, bleiben Coulomb-Wechselwirkungen zwischen geladenen Teilchen dauerhaft bestehen. Diese Tatsache macht es unmöglich, den Endzustand der Streuung exakt zu bestimmen. "Bei größerem Abstand der drei Teilchen zueinander, wird die Form der Wellenfunktion so ungewöhnlich, daß keine einzige computergestützte nummerische Näherung die Funktionen wirklich darstellen kann." Trotzdem "hat das Wissenschaftler nicht davon abgehalten, mit Plasmen und anderen Ionisierungs-Phänomenen zu arbeiten", fügt Rescigno hinzu. "Mathematisch gesehen entstanden dabei unglaublich kunstvolle Theorien und einige davon scheinen wirklich zu funktionieren."
Die Methode von McCurdy, Rescigno und ihren Kollegen ermöglicht die Berechnung einer sehr genauen Wellenfunktion für den Endzustand, aus der dann Einzelheiten des Anfangszustandes und der Wechselwirkungen geschlossen werden können. Sie beginnt mit einer Transformation der Schrödinger-Gleichung, die 1979 von Barry Simon zum Beweis formaler Theoreme der Streuungs-Theorie entwickelt wurde. Sie wird allgemein als exterior complex scaling bezeichnet. In Bereichen, in denen die Lösung mit der physikalischen Realität korrespondiert, bleibt sie durch die Transformation unverändert. Die korrekte Wellenfunktion des Endzustandes basiert auf einer Winkel-Separierung und der Annahme, daß sich die Elektronen sehr weit vom Kern entfernt befinden. Denn bei genügend großen Abständen zwischen Elektronen und Kern greift die Transformation, und die Wellenfunktion verschwindet. Anschließend wird die Verteilung der Wahrscheinlichkeitsdichten bestimmt. Durch den rechnerisch sehr aufwendigen Prozeß erhält man die Wahrscheinlichkeit, mit der Elektronen mit einer bestimmten Energie und Richtung freigesetzt werden. Da alle Elektronen gleich sind, besteht keine Notwendigkeit, zwischen dem ursprünglich freien und dem ursprüglich gebundenen Elektron zu unterscheiden.
Die Forscher räumen ein, daß sehr wichtige Fortschritte in diese Richtung schon früher von anderen Wissenschaftlern, wie zum Beispiel Igor Bray und Andres Stelbovic, gemacht wurden. Allerdings konnten diese Methoden nur den Wirkungsquerschnitt der Streureaktionen und keine Details, also nicht die Richtung und die Energie der wegfliegenden Elektronen, angeben. "Die Einzelheiten unserer Arbeit werden vielleicht nicht bestehen", meint McCurdy. "Aber wir haben einen großen Schritt gemacht, um später einmal die Ionisierung von komplizierter aufgebauten Atomen und Molekülen zu verstehen."
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