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News: Tour im Quantenland

Der Blick in die Quantenwelt offenbart die seltsamsten Effekte, die meist jenseits unser Vorstellungskraft liegen: So beeinflusst allein die Beobachtung eines quantenmechanischen Objektes seinen Zustand, bremst einen Vorgang oder beschleunigt ihn sogar. Letzteres war bislang nur Theorie, ließ sich aber nun in einem Experiment nachweisen.
Jan Ullrich strampelt, was das Zeug hält. Doch der Berg türmt sich wie ein unüberwindliches Hindernis vor dem Radfahrer auf. Die Kräfte schwinden und der Gegner sitzt im Nacken. Erinnerungen an das Jahr 1998 werden wach, als Marco Pantani ihn am Berg gleichsam stehen ließ und die Tour für sich entschied. Ein Königreich für eine Abkürzung! Doch die gibt es nicht.

Würde Ullrich nicht in den Alpen radeln, sondern in der winzigen Welt, in der die Quantenmechanik regiert, wäre der Wunsch durchaus zu erfüllen. Der Tunneleffekt macht's möglich. Anders als im klassischen Fall bräuchte ein Radfahrer hier nicht soviel Schwung aufbringen, um den Pass zu überwinden, es würde vielmehr schon ein Teil der Energie reichen, und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit befände er sich auf der anderen Seite des Berges.

Dessen noch nicht genug, könnte ein anderer quantenmechanischer Effekt die Flucht noch mehr begünstigen. Denn während der entkommene Radler schon weit entfernt die hintere Bergflanke hinabeilt, richten sich die Blicke der Zuschauer auf das Verfolgerfeld. Allein diese intensive Beobachtung bremst nun die Fahrer aus. Verantwortlich dafür ist der so genannte Zenon-Effekt. Er bewirkt, dass die Zeit für die Verfolger aufgrund von Messungen – und nichts anderes sind die Blicke der Zuschauer – scheinbar langsamer vergeht.

Der Effekt kann sich aber auch umkehren. Denn in dem Moment, in dem sich nun besonders viele ungläubige Blick auf die übernatürlich ausgebremsten Verfolger heften, werden sie auf einmal rasant beschleunigt und wie von einer unsichtbaren Kraft über den Berg gehievt – der Anti-Zenon-Effekt.

Dieses letzte Beispiel aus dem quantenmechanischen Kuriositätenkabinett haben Wissenschaftler im Jahr 2000 theoretisch vorhergesagt. Nun konnten Mark Raizen und seine Kollegen an der University of Texas den Phänomen zusammen mit dem normalen Zenon-Effekt auch in einem Experiment beobachten.

Die Berglandschaft entsprach hier einer stehenden optischen Welle, welche die Forscher durch die Überlagerung zweier phasengleicher Laserstrahlen erzeugten. Eine Schar von etwa 300 000 Natriumatomen, die zunächst in einer so genannten magneto-optischen Falle gefangen wurden, ersetzten die Rennradfahrer. Durch Veränderungen der Frequenz eines Lasers bewegten die Wissenschaftler das optische Gebirge und damit die Natriumatome, die in den Tälern saßen.

Indem die Forscher die Lichtlandschaft auf geschickte Art und Weise beschleunigten und abbremsten, gelang es ihnen, die Natriumatome in einen Grundzustand quasi an der Talsohle zu zwingen. Sie beschleunigten daraufhin das System noch einmal, damit die Atome genügend Energie bekamen, um durch die Wellenberge zu tunneln.

Nun galt es festzustellen, wie viele Atome zu welchem Zeitpunkt tunnelten. Dazu bremsten sie das System mehrmals kurzzeitig ab und schalteten nach einiger Zeit die Laser ganz ab. Durch ihr Fluoreszenzlicht verrieten die Atome nun ihren Ort – je mehr Licht, desto mehr Atome. Und je nachdem, ob ein Atom getunnelt war oder nicht, hatte es sich ein gewisses Wegstück vom Ursprungsort entfernt. Die kurzzeitigen Messungen offenbarten sich schließlich durch kleine Intensitätsschwankungen in Abhängigkeit des Ortes.

Die Wissenschaftler fanden auf diese Weise heraus, dass die Tunnelrate deutlich sank, wenn sie im Abstand von nur einer Mikrosekunde das System untersuchten, im Vergleich zu dem Fall, bei dem sie nur einmal am Ende des Versuchs die Teilchenposition feststellten. Warfen sie jedoch alle fünf Mikrosekunden einen Blick auf die Natriumatome, dann erhöhte sich die Tunnelrate.

So gelang es den Forschern, Zenon- und Anti-Zenon-Effekt in einem Experiment nachzuweisen. Dies ist beispielsweise für die Entwicklung des Quantencomputers bedeutsam. Denn hier ergibt sich das Problem, dass manche Zustände ungewollt zerfallen und Daten verloren gehen. Ständiges Messen im richtigen Takt könnte das System stabilisieren und dem Quantencomputer zum Durchbruch verhelfen. Jan Ullrich wird hingegen weiter für den Sieg strampeln müssen.

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