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Nikab und Burka: Verhüllung in der Forschung

In Deutschland wird aktuell wieder über ein Verbot der Vollverschleierung, insbesondere an Universitäten und Schulen debattiert. Gibt es aber überhaupt wissenschaftliche Grundlagen dafür? Antworten aus der Forschung.
Erfolgreiche Akademikerin mit Gesichtsverhüllung

Wie viele Frauen in Deutschland einen Gesichtsschleier tragen, ist nicht geklärt. Immer wieder ist von insgesamt etwa 300 die Rede. Dabei unterscheidet man solche mit freier Augenpartie, den Nikab, und die noch sehr viel seltener getragene Burka. Letztere stammt ursprünglich aus Afghanistan und verhüllt das Gesicht komplett. Auch wenn sie höher liegen sollte als diese Schätzung: Die Zahl der voll verschleierten Frauen dürfte im Vergleich zur Gesamtbevölkerung und auch im Vergleich zur Anzahl in Deutschland lebender Muslime verschwindend gering sein. Dennoch erhitzt die Debatte um den Gesichtsschleier auch aktuell mal wieder die Gemüter.

Auslöser ist eine knapp verfasste Richtlinie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Sie wurde beschlossen, nachdem eine einzelne Studentin der Ernährungswissenschaften in Vollverschleierung eine Vorlesung besuchte. In einem einzigen Absatz begründet die Richtlinie ein Verbot einer Gesichtsverhüllung. Da die Kommunikation über Gestik und Mimik durch einen solchen Schleier behindert würde, ist dieser in Lehrveranstaltungen, Prüfungen und Beratungsgesprächen fortan nicht erlaubt. Die Landesregierung diskutiert gerade auch darüber, das Verbot auf Schulen auszuweiten. Wie stichhaltig ihre Argumentation ist, bewerten Vertreter verschiedener Forschungsbereiche dabei sehr unterschiedlich.

Anja Pistor-Hatam ist Vizepräsidentin der Uni Kiel und Professorin für Islamwissenschaften. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich insbesondere mit der historischen, politischen und religiösen Entwicklung im Islam. Pistor-Hatam hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Richtlinie in Kraft getreten ist. Aus ihrer Sicht ist nicht nur in Lehrveranstaltungen das Zeigen des Gesichts absolut notwendig. »Aus fachlicher Sicht würde ich sagen, dass die Mehrheitsmeinung gilt. Die Mehrheitsmeinung der islamischen Gelehrten und auch der Laien ist, dass der Gesichtsschleier nicht geboten ist«, sagt sie. Ein Gelehrter, Scheikh Khaled Omran, sagt, eine Frau könne gerne einen Gesichtsschleier tragen, sich dabei aber nicht auf den Islam berufen. Es gäbe zwar fundamentalistische Gruppen, die ein religiöses Gebot für einen Gesichtsschleier sähen. Diese könnten sich aus ihrer islamwissenschaftlichen Sicht jedoch nicht auf die Religionsfreiheit berufen, da es eine Minderheitenmeinung wäre.

Sehen und gesehen werden

Ist Frau Pistor-Hatams Argumentation aber im wissenschaftlichen Diskurs anschlussfähig? Wendet man sich dem Ursprung aller Wissenschaft, der Philosophie zu, unterscheiden sich hier die Ansichten je nach philosophischer Schule stark. Die Religionsphilosophin Ana Honnacker vom Forschungsinstitut für Philosophie Hannover hat sich im Jahr 2016 in einem Blogartikel gegen ein Verbot von Gesichtsschleiern positioniert. (Siehe aber auch die Gegenargumentation unter demselben Link.)

Im Gespräch sagt sie, es gäbe philosophisch gesehen gerade an Universitäten durchaus das Ideal, von Angesicht zu Angesicht kommunizieren zu können. Die Frage aber sei, ob diesem Ideal wirklich durch ein Verbot nachgeholfen werden könne. Im Gegenteil könnten sich negative Folgen für die Kommunikation ergeben, da die Betroffene sich in der Ausübung ihrer Religiosität und auch in ihrer Würde als Person behindert fühlen würde. »Wird so etwas aufoktroyiert, führt dies nicht dazu, dass die Kommunikation entspannter oder leichter wird.«

Betrachtet man das Argument fehlender mimischer Kommunikation gerade im universitären Kontext genauer, zeigt sich, wie wenig das Phänomen der Kommunikation mit Frauen in Nikab wissenschaftlich untersucht ist. Empirische Studien zu dem Thema finden sich so gut wie keine. In einer Veröffentlichung über die niederländische Debatte um Gesichtsschleier von 2009 in der Zeitschrift »Social Anthropology« schreibt die Anthropologin und Islamwissenschaftlerin Annelies Moors, dass Interviews mit Mitarbeitern ihrer Universität in Leiden ein interessantes Paradoxon hervorgerufen hätten. Wenn die Mitarbeiter allgemein über das Thema sprachen, kamen sie immer wieder auf das Problem der Kommunikation zu sprechen. Während sie jedoch von ihren persönlichen Erfahrungen berichteten, fielen keinerlei Hinweise auf Kommunikationsprobleme mit den Studentinnen. Stattdessen sei es ihnen wichtiger gewesen, den fehlenden Willen zur Anpassung bei den Studentinnen zu kritisieren.

Hinter dem Visier

Moors spricht in diesem Zusammenhang von dem »Visiereffekt«. Wird man beobachtet, ohne selbst den Beobachtenden sehen zu können, ist Letzterer in einer Machtposition. Als Frauen würden die Nikabträgerinnen damit das westliche Gesellschaftskonstrukt untergraben, wonach Männer Frauen ansehen und Frauen sich ansehen lassen. Als muslimische Frauen würden diese noch stärker das vorhandene Machtgefälle in Frage stellen. Dies, so Moors, erkläre die starken negativen Assoziationen, die viele mit dem Gesichtsschleier hätten.

Tatsächlich argumentiert auch Mathias Rohe, Rechts- und Islamwissenschaftler der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg mit dem Visiereffekt, wenn auch indirekt. »Wenn jemand als stiller Beobachter in einem Raum sitzt und selbst alles sehen kann, aber nichts an Kommunikation gibt, schafft das an der Uni eine Unruhesituation, die nicht tolerierbar ist«, sagt er. Aus rechtlicher Sicht müsse man zwischen dem öffentlichen und dem institutionellen Raum unterscheiden. In letzterem gälten gesonderte Bedingungen. Während es im öffentlichen Raum wünschenswert wäre, dass alle Menschen eine mimische Kommunikation zulassen, könne man dies hier nicht erzwingen.

Im institutionellen Raum hingegen sei die Lage anders. »Die Universität lebt vom Austausch. Hier ist also die Kommunikation nicht nur wünschenswert, sondern auch notwendig, um die Ziele zu erreichen, die wir erreichen wollen«, so Rohe. In Bayern ist schon seit 2017 ein Gesetz in Kraft, das eine Verhüllung landesweit an Hochschulen verbietet. In einer Stellungnahme schreibt Rohe dazu: »Wer aus welchen Gründen auch immer darauf besteht, sich weitestgehend der Kommunikation mit anderen zu verschließen, ist an einer Hochschule in Deutschland fehl am Platz.« Seiner Meinung nach ist die Einschränkung von Grundrechten, nämlich dem Recht auf Religionsfreiheit, in diesem Fall gerechtfertigt.

Vielleicht wichtiger als rechtliche Aspekte sind aber die möglichen sozialen Konsequenzen: Agnès de Féo ist Sozialwissenschaftlerin an der École des Hautes Études en Sciences Sociales und Filmemacherin. Sie hat mit mehr als 150 verschleierten Frauen in Frankreich Interviews geführt und diese zum Teil über zehn Jahre lange begleitet. In einer Studie im Jahr 2018 hat sie die Interviews stellenweise qualitativ ausgewertet.

Kleidungsstücke und ihre Deutungen

Im Gespräch sieht sie das Argument der fehlenden Kommunikation in Schulen und Universitäten durchaus als gerechtfertigt an. »Es kommt hier aber sehr darauf an, wie so ein Verbot kommuniziert wird«, sagt sie. Begründe man ein Verbot mit der Notwendigkeit zur mimischen Kommunikation, könne das wahrscheinlich von den meisten Nikabträgerinnen akzeptiert werden. Wichtig sei aber ein Gespräch miteinander und dass die Argumentation die Betroffenen nicht diskreditiere.

Gibt es aber noch ein anderes Argument für ein Verbot von Gesichtsschleiern? Die Vizepräsidentin der Universität Kiel Pistor-Hatam gibt selbst einen Hinweis: »Für mich ist der Nikab kein Zeichen von Religiosität, sondern ein Zeichen von Fundamentalismus und Ideologie.« Einen Unterschied zwischen dem Tragen eines Nikabs und eines Kleidungsstücks, das aus medizinischen Gründen das Gesicht verhüllt, läge klar in dem ideologischen Hintergrund, den der Gesichtsschleier repräsentiere.

Honnacker hingegen meint, aus religionsphilosophischer Perspektive müsse man sehr vorsichtig mit solchen Begrifflichkeiten sein. Schnell wären katholische und bestimmte protestantische Strömungen auch im Bereich des Fundamentalismus eingeordnet. Es stelle sich auch die Frage, wer die Deutungshoheit darüber habe, was Religion und was Fundamentalismus ist. Sie würde in dem Zusammenhang eher den politischen Islam abgrenzen, wenn auch diese Unterscheidung schwierig sei. Zudem seien nur sehr wenige politische Symbole, wie das Hakenkreuz, in Deutschland verboten. Tatsächlich fällt auf, dass es auch in den Richtlinien der Uni Kiel keine gibt, die andere politische Symbole verbietet. Interessanterweise verbietet die Hausordnung jedoch eine Benachteiligung und Diskriminierung auf Grund von Religiosität und Weltanschauung.

Diskriminierung?

Mit der Weltanschauung wird auch häufig der Blick auf die verschiedenen Geschlechter diskutiert. Der Rechtsprofessor Rohe findet das Geschlechterbild, das hinter dem Schleier stehe, »schrecklich«. Die Sozialwissenschaftlerin de Féo warnt jedoch davor, den Nikab als Zeichen der Unterdrückung von Frauen zu sehen. In ihren Studien hätte keine der Frauen angegeben, den Schleier zu tragen, weil sie etwa von ihrem Mann oder ihrem Vater dazu gezwungen worden war. Ungefähr 90 Prozent der Frauen seien alleinstehend.

Zudem würde ein Großteil der Männer die Gesichtsverschleierung ablehnen. Es sei schwer für die verschleierten Frauen, einen Mann zu finden, der dies akzeptiere. Einige der Frauen hätten auch sexuellen Missbrauch erlebt und sähen in eine Verschleierung die Möglichkeit, sich effektiv den Blicken von Männern zu entziehen. Auch als feministisches Symbol, selbst über den Körper bestimmen zu können, würde der Nikab von vielen gewertet. Inzwischen bestünde etwa die Hälfte der Nikabträgerinnen aus Frauen, die zum Islam konvertiert wären, nahezu die gesamte andere Hälfte stamme aus Familien, die sich wenig oder gar nicht religiös verhalten hätten.

Abgesehen von dem Argument der Kommunikation und der politischen Symbolkraft wird immer wieder ins Feld geführt, dass Studierende im Universitätsbetrieb, gerade bei Prüfungen, identifiziert werden müssen. Die Kieler Studentin hat in einem Interview angegeben, den Nikab in einer solchen Situation kurz lüften zu wollen. Tatsächlich gibt es beispielsweise an Flughäfen inzwischen Richtlinien, wie mit Frauen mit Gesichtsschleier umgegangen werden soll. Ähnliches wäre auch im Unibetrieb denkbar.

Die Konsequenzen für den Bildungs- und Wissenschaftsbetrieb durch den Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen befürchten die beiden Befürworter eines Verbots, die Professoren Pistor-Hatam und Rohe, übrigens nicht. Pistor-Hatam zieht in diesem Fall Frankreich als Beispiel heran, wo auch islamische Gelehrte, die den Gesichtsschleier befürworteten, das Bildungsgut als höher einschätzten.

Blick nach Frankreich

Deshalb würden dort auch Schülerinnen und Studentinnen, die sonst verschleiert wären, häufig den Nikab in den Institutionen abnehmen. Rohe nimmt nur zu den direkten Auswirkungen auf die deutsche Gesellschaft Stellung: »An den paar Leuten, die das Verbot trifft, wird unser Land nicht zu Grunde gehen.« In Bezug auf die Kieler Studentin der Ernährungswissenschaften fügt Rohe an: »Die Frage ist doch auch, ob es breite Bevölkerungsgruppen gibt, die eine Ernährungsberatung von jemandem wünschen, der sich als Gespenst verkleidet.«

Einig sind sich die meisten Experten aber offenbar darin, dass ein generelles Verbot von Gesichtsverschleierung an öffentlichen Orten nicht sinnvoll wäre und rechtlich mindestens schwierig umzusetzen. »Im öffentlichen Raum muss man viel tolerieren«, meint dazu der Rechtswissenschaftler Rohe. In Deutschland wöge aus historischen Gründen Artikel vier des Grundgesetzes, wonach absolute Religionsfreiheit gilt, noch stärker, als es das europäische Recht vorgäbe.

Die Französin de Féo merkt auch an, dass die Anzahl der voll verschleierten Frauen in Frankreich seit dem allgemeinen Verbot von Nikabs angestiegen ist. Auch hätten sich die Motivationen stark geändert. Vor dem Verbot gaben die meisten Frauen an, dass das Tragen des Schleiers sie Gott näher bringe oder ähnliche religiöse Begründungen. Heute sei es häufig ein Zeichen der Rebellion, Nikab zu tragen. Manche Frauen, die vorher keinen Gesichtsschleier getragen hätten, hätten sich auf Grund der Verbote und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Diskussion radikalisiert. Einige Studienteilnehmerinnen seien sogar nach Syrien gegangen, um für den IS zu kämpfen, da sie sich in Frankreich ausgegrenzt fühlten. Ihrer Meinung nach sollte die deutsche Regierung aus den Fehlern des französischen Verbots lernen.

Eine solche Ausgrenzung möchte auch Pistor-Hatam verhindern: »Die Art und Weise, wie mit Muslimen in Deutschland umgegangen wird, ist eine Marginalisierung, Diffamierung und eine Respektlosigkeit.« Im Jahr 2018 hat sie einen Text zum »Islam im Abseits« verfasst. Fraglich ist nur, ob nicht ein Verbot, das eine einzelne Studentin betrifft, eine solche Diffamierung in einer islamophoben Gesellschaft noch weiter befeuert.

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