News: Vom Kristall zum Planeten
Entsprechend groß war die Überraschung, als Rems Waters von der University of Amsterdam am 4. Februar 2000 auf einer Pressekonferenz in Madrid berichtete, dass Wissenschaftler mit dem Infrared Space Telescope (ISO) der European Space Agency im Umkreis von alten Sternen und protoplanetaren Scheiben große Mengen kristalliner Silikate entdeckt haben. Für Waters beginnt damit ein neuer Forschungszweig in der Astronomie – die Astromineralogie. Denn die Kristallstruktur ermöglicht es den Forschern, verschiedene Silikate zu unterscheiden, was bei amorphen Verbindungen nicht möglich ist. Und sie verraten die Entwicklungsgeschichte und die physikalischen Eigenschaften des Objektes, auf dem sie gefunden werden.
Schon lange untersuchen Wissenschaftler, unter welchen Bedingungen und mit welchen Mechanismen Kristalle wachsen. Ein paar Arbeitshypothesen sind bereits recht gut gesichert. So können Kristalle zum Beispiel dadurch erzeugt werden, dass Materie auf über 1300 Grad Celsius erhitzt und anschließend langsam abgekühlt wird.
Die von ISO nachgewiesenen Kristalle haben eine Temperatur von nur -170 Grad Celsius. Bei den alten Sternen – alles Rote Riesen – besteht bis zu 20 Prozent des sie umringenden Staubes aus Kristallen. Wissenschaftler gehen davon aus, dass die hohen Temperaturen in der Nähe des Sterns die Kristallisation auslösen. In den protoplanetaren Scheiben könnten elektrische Schockwellen, wie zum Beispiel Blitze, Staub aufgeheizt haben, der sich anschließend wieder abgekühlt hat.
Die entdeckten Kristalle sind mit einem Tausendstel Millimeter winzig klein. Nach Ansicht von Waters kollidieren sie miteinander und wachsen so zu immer größeren Gebilden heran. Innerhalb von zehn bis hundert Millionen Jahren könnten laut Modell daraus ganze Planeten werden.
Dass die Kristalle nicht schon früher entdeckt wurden, liegt an ihrer niedrigen Temperatur. Derart kalte Objekte senden vorwiegend Infrarotstrahlung aus, die nur mit einem entsprechenden Teleskop wie dem ISO gemessen werden kann. Welche Silikate sich hinter den Infrarotsignalen versteckten, wurde mit Spektrometern entschlüsselt, denn jede Verbindung besitzt ein ihr eigenes Spektrum, wie eine Art "chemischen Fingerabdruck", das mit den Spektren irdischer Mineralien verglichen wird. So konnten Wissenschaftler bereits die Silikate Forsterit und Enstatit in den Weltraumdaten identifizieren. Es gibt jedoch sehr viele kristalline Silikate, deren Spektren sehr ähnlich sein können. Daher sind noch viele Untersuchungen und Experimente nötig, bis Astronomen die Kristalle wirklich sicher bestimmen können.
Doch noch eine weitere Frage beschäftigt die Forscher: Warum haben sie im interstellaren Raum keine Kristalle gefunden? Schließlich gelangt Staub aus dem näheren Umkreis von Sternen auch dorthin und bereichert das Rohmaterial, aus dem sich noch mehr Sterne und Planeten bilden. "Die Kristalle werden uns noch eine ganze Menge lehren", meint Waters.
Der Heidelberger Verlag Spektrum der Wissenschaft ist Betreiber dieses Portals. Seine Online- und Print-Magazine, darunter »Spektrum der Wissenschaft«, »Gehirn&Geist« und »Spektrum – Die Woche«, berichten über aktuelle Erkenntnisse aus der Forschung.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.