Coronavirus in Deutschland: 1,8 Millionen Corona-Infizierte in Deutschland?
Schon während ihrer Entstehung hat die Heinsberg-Studie für Aufsehen und Kritik gesorgt. Anfang April hatten die Autorinnen und Autoren um den Bonner Virologen Hendrik Streeck Zwischenergebnisse ihrer Untersuchung über die Sterberate von Covid-19-Patienten unter umstrittenen Umständen publiziert. Nun hat das Team um den Direktor des Instituts für Virologie an der Universität Bonn das Manuskript der Arbeit auf der Webseite der Universität zur Verfügung gestellt.
Die dort beschriebenen Ergebnisse unterscheiden sich nicht wesentlich von den Zwischenergebnissen. Trotzdem liefert das Manuskript wichtige Antworten auf Fragen zum neuen Coronavirus, welche die Bonner Forscherinnen und Forscher bisher offengelassen hatten.
Das explizite Ziel der nun als Preprint veröffentlichten Heinsberg-Studie ist es, die so genannte Infektionssterblichkeit für das neue Coronavirus Sars-CoV-2 herauszufinden. Das ist die Zahl der Toten geteilt durch die Zahl der tatsächlich Infizierten, inklusive der Menschen, die zwar das Virus in sich tragen, aber keine Symptome zeigen. Also asymptomatisch sind. Denn nur die Infektionssterblichkeit kann einen genauen Eindruck von der Gefährlichkeit des Coronavirus liefern. Außerdem lässt sich mit Ihrer Hilfe die tatsächliche Verbreitung des Virus in der Bevölkerung abschätzen.
Für ihre Studie haben Streeck und seine Kollegen zwischen dem 31. März und dem 6. April 2020 Blutproben und Rachenabstriche von insgesamt 919 Bürgern aus 405 Haushalten in der nordrhein-westfälischen Gemeinde Gangelt im Landkreis Heinsberg genommen. Wenige Wochen vor Beginn der Studie war Gangelt am 28. Februar Zeuge eines selbst gemachten »Super Spreading Events« gewesen, der Knappensitzung während des Karnevals. In den Tagen nach der Sitzung stieg die Zahl der Neuinfektionen mit Sars-CoV-2 rapide an und erreichte um den 13. März mit 85 neuen Fällen innerhalb von vier Tagen ihr Maximum. Das machte Gangelt mit seinen 12 597 Einwohnern und seiner vergleichsweise hohen Infektionsrate zu einem idealen Testfeld.
Teilnehmer luden die Bonner Forscher nach dem Zufallsprinzip aus dem Heinsberger Melderegister ein. In Frage kamen nur Personen, die mindestens 18 Jahre alt waren sowie deren Haushaltsmitglieder. Außerdem wurden Doppelungen von Familiennamen ausgeschlossen, um tendenziell mehr Haushalte zu erwischen. Die Studie erfasst mit ihren 919 Teilnehmern immerhin 7,3 Prozent der Bevölkerung. Die Stichprobe sei, was Alter, Geschlecht, berufliche Tätigkeit und Ausländeranteil angeht, eine repräsentative Stichprobe, hatte Studienleiter Streeck bereits anlässlich der Zwischenergebnisse betont.
Die Ergebnisse im Überblick:
Durchseuchung in Heinsberg
Um als infiziert zu zählen, mussten Teilnehmer der Heinsberg-Studie eines von zwei Kriterien erfüllen: Entweder musste der PCR-Test aus dem Rachenabstrich positiv sein, oder es mussten sich Antikörper des Typs IgG im Blut finden lassen. Einen positiven PCR-Test hatten 33 der Teilnehmer – was bedeutet, dass das Virus sich zum Zeitpunkt des Testes im Rachen vermehrte. Hinzu kamen noch 22 Teilnehmer, die einen früheren positiven PCR-Test in einem Fragebogen angaben, den alle ausfüllen mussten. Bei Vieren davon war sowohl der alte als auch der neue PCR-Test positiv. Macht abzüglich der Überlappung 51 PCR-Positive. Hinzu kommen 125 IgG-Positive, was als Nachweis einer bereits überstandenen Infektion gewertet wird. Allerdings waren von diesen 23 PCR-positiv beim aktuellen Test und 18 bei einem früheren, drei bei beiden PCR-Tests.
Von 100 Menschen mit positivem IgG-Test wurde im Schnitt einer falsch positiv getestet
Insgesamt zählen die Autorinnen und Autoren 138 der 919 Teilnehmer (15 Prozent) als Covid-19-Infizierte, etwa fünfmal mehr als in den öffentlichen Testzahlen. Ein wesentlicher Punkt der Skepsis unter Fachleuten nach der Veröffentlichung der vorläufigen Ergebnisse am 9. April war die Frage, wie zuverlässig eigentlich der IgG-Test von Euroimmun ist, den die Forscher aus Bonn eingesetzt haben. Das Bonner Manuskript spricht von einer Spezifizität des Tests von 99,1 Prozent. Das bedeutet, das von 100 Menschen ohne IgG-Antikörper, im Schnitt einer falsch positiv getestet wurde. Diese hohe Spezifizität sei sowohl von der Virologie der Charité als auch von anderen Forschungseinrichtungen bestätigt worden. Eine eigene Kontrolluntersuchung mit Blutproben, die nicht in die Studien einflossen, hätte eine Spezifizität von 98 Prozent ergeben, was am aktuellen Ergebnis weniger als ein Prozent Unterschied ausmachen würde. Darüber hinaus habe der Test »laut Datenblatt« keine Reaktion auf andere Coronaviren außer Sars-CoV-1, dem ersten Sars-Coronavirus. Der Test liefert demnach kaum falsche Ergebnisse. Bei der Sensitivität schneidet er dagegen nicht so gut ab. Nur etwa neun von zehn tatsächlich Infizierten würden erkannt. Deshalb hat das Team von Streeck hier noch einen Korrekturfaktor eingebaut.
Summa summarum kommt die Heinsberg-Studie so auf einen geschätzten Anteil Infizierter von 15,53 Prozent. Bei den vorläufigen Ergebnissen waren es »insgesamt zirka 15 Prozent«. Das bedeutet aber nicht, dass auch 15 Prozent aller Menschen in Deutschland das Virus in sich tragen oder trugen. Selbst wenn die Stichprobe der Teilnehmer aus demografischer Sicht repräsentativ ist. Denn Heinsberg ist einer der Orte mit einer besonders hohen Durchseuchung (einer der Gründe, warum hier die Studie stattfand). Der Anteil der Infizierten lässt sich so direkt also nicht auf Deutschland übertragen. Aber indirekt vielleicht schon.
Infektionssterblichkeit in Heinsberg
Wendet man den Anteil der Infizierten (15,53 Prozent) auf die Gesamtbevölkerung (12 597) von Gangelt an, kommt man auf eine geschätzte Zahl von 1956 Infizierten in der Gemeinde (für den letzten Tag der Studie am 6. April). Zu diesem Zeitpunkt waren aus Gangelt sieben Covid-19-Todesfälle gemeldet. Daraus ergibt sich eine Infektionssterblichkeit von 0,36 Prozent. In den vorläufigen Ergebnissen war von 0,37 Prozent die Rede. Das ist das Hauptergebnis der Studie.
In Gangelt lag die Fallsterblichkeit bei 1,8 Prozent
Und das Ergebnis, das im Vorfeld am meisten Aufsehen erregte. Denn laut den Daten des Robert Koch-Instituts lag die Fallsterblichkeit in ganz Deutschland, also der Anteil der Gestorbenen von denen mit positivem PCR-Test, am 6. April bei 1,5 Prozent. In Gangelt lag sie bei 1,8 Prozent (sieben Tote / 388 gemeldete Infektionen). Zwischenzeitlich ist die Fallsterblichkeit laut Daten des Robert Koch-Instituts in Deutschland sogar auf 4,1 Prozent gestiegen, was einer Überschätzung der Covid-19-Sterblichkeit um einen Faktor von 11 entsprechen würde. Und das hätte erhebliche Konsequenzen für die Gesamtzahl der Infizierten.
Wenn man davon ausgeht, dass die angegebene Spezifizität des IgG-Tests in der Gangelt-Studie stimmt, kann man nämlich eine Hochrechnung anstellen. Dabei wird, ausgehend von der Zahl der Toten und der geschätzten Infektionssterblichkeit, die Gesamtzahl der Infizierten berechnet. Basierend auf den Covid-19-Totenzahlen der Johns-Hopkins University (6866) schätzt Professor Streeck diese Zahl für ganz Deutschland nun in Interviews auf 1,8 Millionen. Das erscheint mutig, denn die Infektionssterblichkeit, die in der Heinsberg-Studie aus den Gangelt-Daten gezogen wird, basiert auf nur sieben Toten. Nur sieben Tote mehr in Gangelt und man hätte die doppelte Infektionssterblichkeit und damit nur die Hälfte der Infizierten (etwa 900 000). Und vollkommen gesichert ist die hohe Spezifizität des IgG-Antikörpertests von Euroimmun noch nicht. So kommt eine aktuelle Studie im »Journal of Clinical Virology« von Forschern der RWTH Aachen auf einen Wert von 96,2 Prozent.*
Weitere Beobachtungen
Weniger anfällig für statistische Schwankungen, aber ähnlich relevant erscheinen da die Ergebnisse zu Alter und Geschlecht. So wurde in Gangelt kein Einfluss von Alter oder Geschlecht der Teilnehmer auf die Infektionsrate festgestellt. Immerhin waren 61 Kinder unter 14 Jahren an der Studie beteiligt. Das Ergebnis widerspricht daher den Ergebnissen einer aktuellen Studie in »Science« (basierend auf PCR-Daten aus der chinesischen Provinz Henan), der zufolge sich Kinder in der Altersgruppe von 0 bis 14 Jahren nur etwa ein Drittel so häufig ansteckten wie Kontakte in der Altersgruppe von 15 bis 64 Jahren. Auch zwischen Männern und Frauen gab es in der Gangelt-Studie keinen signifikanten Unterschied in der Infektionshäufigkeit, anders als oft berichtet.
Der Verlust von Geruch und Geschmack bei Covid-19-Infizierten ist ein häufiges Krankheitsmerkmal
Darüber hinaus hat sich die bisherige Beobachtung von Streecks Arbeitsgruppe erhärtet, dass der Verlust von Geruch (31 von 137) und Geschmack (37 von 137) bei Covid-19-Infizierten ein häufiges Krankheitsmerkmal ist. Interessanterweise haben auch 11 beziehungsweise 15 der Nichtinfizierten von diesen Symptomen berichtet. Das hat nun also durchaus klare Relevanz bei der Diagnose von Covid-19, wobei noch nicht klar ist, wann im Verlauf der Erkrankung diese Sinnesverluste am häufigsten auftreten. Von großer epidemiologischer Bedeutung ist auch, dass die Infektionsrate und die Zahl der Symptome bei Teilnehmern der Knappensitzung und anderer Karnevalsveranstaltungen deutlich und signifikant erhöht waren. Großveranstaltungen sind also nach wie vor eine schlechte Idee. Ebenso relevant ist die Erkenntnis, dass sich die Ansteckungsgefahr für Menschen, die mit einem Infizierten in einem Haushalt leben, deutlich erhöht: in einem Zweierhaushalt von 15,5 Prozent auf rund 44 Prozent, in einem Dreierhaushalt auf rund 36 Prozent und in einem Viererhaushalt auf rund 18 Prozent. Waren die Infizierten Kinder, lag das Risiko sogar noch mal höher, 67 Prozent in einem Dreier- und 33 Prozent in einem Viererhaushalt.
Die Ergebnisse aus Heinsberg legen also nahe, dass die Zahl der Infizierten in ganz Deutschland deutlich höher ist als bisher angenommen. Gleichzeitig liegt die Infektionssterblichkeit, von den Daten in Gangelt ausgehend, deutlich unter den Werten, die sich aus den offiziellen Zahlen ergibt. Allerdings lassen sich die Daten nicht wirklich für eine saubere Einschätzung der Durchseuchung in der Bevölkerung heranziehen. Außerdem darf man nicht vergessen, dass die Studie noch nicht begutachtet wurde. An den Ergebnissen weitere Lockerungsmaßnahmen aufzuhängen, wäre da mehr als mutig.
*Anm. d. Red.: In einer früheren Version hieß es, der Wert liege bei 86,4. Wir haben das korrigiert.
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