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Seelische Gesundheit von Jugendlichen: »Ich habe die Auswirkungen hautnah miterlebt«

Corona, Klima, Krieg: Was macht die düstere Weltlage mit Jugendlichen? Vier von zehn Teenagern sind depressionsgefährdet, legt eine deutschlandweit einzigartige Studie nahe. Ein Gespräch mit der Traumaforscherin Tanja Michael über Schutzfaktoren für die jugendliche Psyche und darüber, wie Eltern und Lehrer sie aktivieren können.
Eine Jugendliche mit langen, glatten, rotblonden Haaren sitzt auf einer grau bezogenen Matratze, die auf einem hellgrau gestrichenen Dielenboden liegt. Sie trägt eine Bluejeans und ein weißes Hemd und hat das Gesicht in den Händen vergraben. Die Perspektive ist so gewählt, dass man die triste Szene von oben, aus der Luft sieht.
Verzweifelte Weltlage? Mädchen im Teenageralter sind noch stärker gefährdet als Jungen, eine Depression oder Angststörung zu entwickeln.

In der Hochphase der Pandemie bemerkt eine Psychologieprofessorin der Universität des Saarlandes, dass es ihren jugendlichen Kindern und deren Freunden nicht gut geht. Es ist das Jahr 2021: Die Schulen sind geschlossen, Kontaktsperren regeln, wen man noch treffen darf, und die Nachrichten melden stündlich Inzidenzen und Todesfälle. Als wäre die Sorge um die Zukunft auf einem aufgeheizten Planeten nicht schon genug. Tanja Michael fragt sich, was die Krise mit den Jugendlichen macht. Und tut, was Wissenschaftler zu tun pflegen, wenn sie vor einer Forschungsfrage stehen: Um die langfristigen Folgen von Großkrisen auf die jugendliche Psyche zu verstehen und gleichzeitig herauszufinden, was Teenager im Angesicht von Krisen stark macht, initiiert sie eine deutschlandweit einzigartige Studie. Über mehrere Jahre hinweg will sie tausende Jugendliche an saarländischen Schulen immer wieder nach ihrer Gemütslage befragen. Dafür wählt die Traumaexpertin die Jahrgangsstufen sieben bis neun für ihre erste Erhebung aus, denn in diesem Alter sind Jugendliche besonders anfällig für psychische Erkrankungen. Im Jahr 2022 – inzwischen ist mit dem Ukrainekrieg eine weitere Belastung hinzugekommen – lässt sie rund 4000 Siebt-, Acht- und Neuntklässler einen Fragebogen ausfüllen. Mehr als die Hälfte aller saarländischen Schulen machen mit. Ein Jahr später befragt sie dieselben Jugendlichen erneut, die inzwischen in die nächste Jahrgangsstufe aufgerückt sind; 2024 folgt dann die Befragung der Jahrgangsstufen neun bis elf. Anlass genug, nach den Ergebnissen zu fragen – und danach, was sie für Jugendliche, Eltern und Lehrer bedeuten.

Tanja Michael | Die Traumaexpertin ist Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität des Saarlands.

Frau Michael, vor zweieinhalb Jahren haben Sie begonnen, die psychische Belastung von Schülerinnen und Schülern zu erheben. Wie geht es den Jugendlichen?

Leider nicht besonders gut. Etwa 40 Prozent der Kinder, die wir untersucht haben, zeigen klinisch relevante Symptome eine Depression. Angstsymptome sind sogar noch etwas häufiger.

Wir sprechen von Kindern, die aktuell die Klassenstufen neun bis elf besuchen. Bei der ersten Befragung im Frühjahr 2022 waren sie in den Klassenstufen sieben bis neun.

Genau. Die Daten von 2022 sind bereits publiziert, aber die von 2023 haben wir auch schon ausgewertet. Leider sehen wir überhaupt keine Verbesserung darin. Wir hatten gehofft, dass die Symptome nach dem Ende der Pandemie zurückgehen würden, doch das ist nicht der Fall.

»Etwa 40 Prozent der Kinder, die wir untersucht haben, zeigen klinisch relevante Depressionssymptome«

Bedeutet das, zwei von fünf Kindern in der Mittelstufe bräuchten eigentlich eine Psychotherapie?

Nein. Ich spreche von klinisch relevanter Symptomatik, aber nicht von behandlungsbedürftigen Störungen. Störungen kann ich nur diagnostizieren, wenn ich die betreffende Person wirklich sehe, mit ihr spreche und sie untersuche. Was unsere Fragenbogen zu Tage fördern, ist sozusagen der Prozentsatz der Jugendlichen, die man sich klinisch genauer angucken müsste – um so festzustellen, ob im Einzelfall tatsächlich eine behandlungsbedürftige Störung vorliegt oder nicht. Es haben also nicht 40 Prozent der befragten Schülerinnen und Schüler eine Depression, sondern 40 Prozent sind depressionsgefährdet. Entsprechendes gilt für die generalisierte Angststörung, die wir ebenfalls angeschaut haben.

Wie kamen Sie auf die Idee für Ihre Fragebogen-Studie?

Ich forsche viel zu Trauma und Resilienz. Besonders interessieren mich dabei die Schutzfaktoren vor psychischen Erkrankungen: Was bewirkt, dass manche Menschen trotz Krisen und Ängsten nicht daran verzweifeln und psychisch krank werden? Als die Corona-Pandemie mit ihren Kontaktbeschränkungen und Lockdowns über uns hereinbrach, war meine Tochter gerade 13 und mein Sohn 17 Jahre alt. Ich habe die Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden von Teenagern also hautnah miterlebt – und war besorgt. Mit etwas Hartnäckigkeit konnte ich das saarländische Ministerium für Bildung und Kultur davon überzeugen, eine Langzeitstudie an Schulen zu genehmigen – schließlich kann man nicht einfach in den Unterricht spazieren und anfangen, Kinder zu befragen. Am Ende hat sich das Ministerium sogar an den Kosten beteiligt.

Knapp 4000 Datensätze, das ist ein Wort. Sind Ihre Ergebnisse repräsentativ für ganz Deutschland?

Nein, es gibt eine doppelte Einschränkung. Streng genommen kann man vom Saarland nicht auf ganz Deutschland schließen. Ich gehe allerdings davon aus, dass die Unterschiede zum Rest gering sind, denn wir haben alle Schultypen einbezogen: Gymnasien, Realschulen und Gemeinschaftsschulen. Und wir haben Daten sowohl aus ländlichen Gegenden als auch aus der Stadt. Aber klar, das Saarland ist ein kleines westdeutsches Bundesland und zum Beispiel keine Metropole wie Berlin, wo die Dinge anders liegen könnten.

Und die zweite Einschränkung?

Neben der Mitwirkung sämtlicher Schulleitungen brauchten wir für jedes einzelne Kind eine individuelle Einverständniserklärung der Eltern. Und die Kinder selbst mussten natürlich auch mitmachen wollen.

Das heißt, in Ihren Daten sind Filter drin, trotz der großen Zahl?

Möglicherweise. Doch ob die Eltern von, sagen wir, psychisch stark belasteten Kindern tendenziell bereitwilliger oder gerade weniger bereitwillig ihre Zustimmung zur Teilnahme erteilt haben, wissen wir nicht. Alles in allem haben sämtliche Schulleitungen und ein Großteil der Eltern grünes Licht gegeben.

Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse?

Zunächst einmal haben wir einen zentralen Befund bestätigt, den Klinische Kinder- und Jugendlichenpsychologen und Psychotherapeuten schon kennen: Individuelle Belastungen wirken sich auf das psychische Wohlbefinden von Kindern aus. Wer zu Hause Stress hat, selbst krank ist oder kranke Eltern hat, ist im Schnitt stärker belastet. Neu an unserer Studie ist, dass wir uns auch externe Belastungsfaktoren anschauen – und einen Einfluss sehen.

Sie sprechen von Pandemie, Klimakrise und Ukrainekrieg.

Genau. Und wir sehen in den Daten, dass der stärkste Belastungsfaktor zwar die individuellen Sorgen der Jugendlichen im privaten Umfeld sind, aber die verschiedenen Krisen setzen noch Symptomatik obendrauf.

»Die Kinder- und Jugendtherapeuten sind komplett dicht. Die Situation ist fürchterlich«

Rund 40 Prozent der Jugendlichen müsste man sich eigentlich genauer ansehen, sagen Sie. Wäre das nicht in Ihrem Interesse, aber auch dem der Eltern und Lehrer und letztlich von uns allen als Gesellschaft, dass das auch tatsächlich geschieht?

Natürlich, das wäre absolut angeraten. Vor allem, wenn man bedenkt, dass gerade dieses Alter – die Pubertät – eine der verletzlichsten Lebensphasen überhaupt ist und entscheidend für den weiteren Lebensweg. Doch es funktioniert nicht. Die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten sind komplett dicht, nicht nur im Saarland. Die Situation ist fürchterlich.

Geben Sie denn wenigstens einen Hinweis an die Eltern, wenn Sie in Ihren Daten ein besonders gefährdetes Kind ausmachen?

Das ist nicht möglich. Die Datenerhebung erfolgt komplett anonym. Das ist eine zwingende Voraussetzung, um überhaupt gesundheitsbezogene Daten erheben zu dürfen, zumal in Schulen. Wir können keinerlei Rückschlüsse von einem bestimmten Datensatz auf das entsprechende Kind ziehen, nicht einmal auf seine Klasse. Was wir dürfen und auch tun: Wir geben den Schulleitungen eine Rückmeldung über die Situation ihrer Schule insgesamt, aber auch das nur, wenn wir mindestens 100 Kinder der Einrichtung befragen konnten. Mehr Rückmeldung ist aus Datenschutzgründen nicht drin.

Sehen Sie denn größere Unterschiede zwischen einzelnen Schulen, was die psychische Belastung der Teenager angeht?

Nein.

Auch nicht zwischen Stadt und Land?

Nein, keine nennenswerten Unterschiede.

Was ist mit den verschiedenen Schulformen – Realschulen versus Gymnasien zum Beispiel?

Nein, auch hier gibt es keine nennenswerten Unterschiede.

Sozioökonomischer Status?

Auch quasi kein Einfluss. Das könnte freilich an der Art und Weise liegen, wie wir fragen. Fast alle Jugendlichen ordnen ihre Familie der Mittelschicht zu, was in etlichen Fällen sicher nicht zutrifft.

Jungs und Mädchen?

Hier sehen wir klare Unterschiede: Mädchen sind im Schnitt stärker belastet als Jungen. Das war auch zu erwarten, weil wir wissen, dass generell mehr jugendliche Mädchen als Jungen an psychischen Störungen erkranken, gerade an denen, die wir erfasst haben, Depression und Ängste. Hätten wir stattdessen nach externalisierenden Störungen gefragt – Aggression, Drogen und so weiter –, dann ergäbe sich sicher ein anderes Bild. Wir haben jedoch nur eine Schulstunde für die Befragung, und in 45 Minuten muss man sich eben beschränken.

Welche der verschiedenen Krisen – Pandemie, Klimawandel, Ukrainekrieg – macht den Jugendlichen am meisten zu schaffen?

Die Pandemie, gefolgt von der Klimakrise. Das war sowohl 2022 als auch 2023 der Fall.

In der neuen Shell-Jugendstudie geben die befragten 12- bis 25-Jährigen an, dass ihnen der Krieg in Europa am meisten auf der Seele liegt.

Das sind Befragungsdaten aus dem Jahr 2024 mit einer außerdem viel breiteren Alterszusammensetzung als bei uns. Aber vielleicht sehen wir in unseren 2024er Daten Entsprechendes. Wir beginnen demnächst mit der Auswertung.

»Krieg ist eher mit Angst, aber weniger mit Depressivität verknüpft«

In Ihren bereits veröffentlichten Zahlen von 2022 ist Krieg mit Angstsymptomen verknüpft, Corona und Klimakrise zusätzlich auch mit Depressivität und gesundheitsbezogener Lebensqualität. Was bedeutet das?

Das bedeutet: Je stärker sich die von uns befragten Jugendlichen durch den Ukrainekrieg belastet fühlten, von desto mehr Angstsymptomen berichteten sie. Einen ähnlichen Zusammenhang mit Depressivität oder der gesundheitsbezogenen Lebensqualität konnten wir jedoch nicht feststellen. Man könnte also sagen, dass Krieg eher mit Angst, aber weniger mit Depressivität oder einer geringeren gesundheitsbezogenen Lebensqualität verknüpft ist. Anders verhält es sich bei der Belastung durch die Corona-Pandemie und die Klimakrise: Hier geht eine stärkere wahrgenommene Belastung sowohl mit mehr Angst- und Depressionssymptomen einher als auch mit einer geringeren gesundheitsbezogenen Lebensqualität.

Worin sehen Sie die methodische Stärke Ihrer Studie?

Wir machen eine Längsschnittstudie, das heißt, wir befragen dieselben Jugendlichen immer wieder im Abstand von einem Jahr. So können wir Vergleiche über die Zeit anstellen. Denn auch wenn sich die Zahlen insgesamt von Jahr zu Jahr kaum verändert haben, gibt es natürlich Jugendliche, denen es 2022 schlecht ging und 2023 besser – oder umgekehrt. Und aus dieser Variation der Symptomatik können wir viel lernen.

Nämlich?

Wenn ein Kind 2022 angab, sich durch die externen Krisen stark belastet zu fühlen, war die Wahrscheinlichkeit höher, dass es 2023 psychische Symptome zeigte. Umgekehrt können wir bei Kindern, die erst Symptome zeigten, denen es aber ein Jahr später besser ging, in den Datensätzen nach möglichen Gründen dafür suchen. Doch vor allem interessiert uns, warum manche Teens trotz ausgeprägter Krisenwahrnehmung kaum oder gar nicht darunter leiden. Das bringt uns auf die Fährte von Schutzfaktoren für die jugendliche Psyche.

»Wenn emotionale Flexibilität und Selbstwirksamkeit hoch ausgeprägt sind, geht es den Jugendlichen besser«

Was macht die Jugendseele denn stark im Angesicht der multiplen Krisen?

Wir haben uns zwei Schutzfaktoren gezielt angeguckt – emotionale Flexibilität und Selbstwirksamkeit. Und tatsächlich sehen wir: Wenn diese Faktoren hoch ausgeprägt sind, geht es den betreffenden Jugendlichen im Schnitt besser.

Was verstehen Psychologen unter emotionaler Flexibilität?

Emotionale Flexibilität bedeutet, dass man das ganze Spektrum menschlicher Emotionen fühlen, aushalten und zwischen ihnen hin und her schalten kann. Wenn ich zum Beispiel Ängste habe, aber emotional flexibel bin, spüre ich meine Angst, kann sie zulassen und verarbeiten. Ich bleibe aber nicht an ihr hängen, sondern kann sie je nach den situativen Anforderungen auch runterregulieren. Das heißt, ich kann zum Beispiel mal mit meiner besten Freundin einen lustigen Film anschauen und dabei herzlich lachen, auch wenn mir ein anderes Thema gerade Angst macht. Emotionale Flexibilität ist eine super Fähigkeit.

Um Jugendlichen, die unter Ängsten leiden, zu helfen, würde man also versuchen, ihre emotionale Flexibilität zu stärken?

Genau, das ist ja ein Kernstück der Psychotherapie: einen guten, flexiblen Umgang mit den eigenen Emotionen zu finden. Manche Leute brauchen das nicht zu lernen, sie haben einfach Glück. Wir sind ja geprägt durch unsere Biologie, durch unsere Hormone, durch unsere Gehirnstruktur. Und manche lernen es von ihren Eltern einfach besser als andere. Wenn die Eltern einem vorleben, wie man gut mit seinen Emotionen umgehen kann, dann können es die Kinder später auch oft besser. Sie haben es sich einfach abgeschaut.

Und wie steht es mit der Selbstwirksamkeit?

Selbstwirksamkeit bedeutet, dass man sich als wirksamen Akteur in der Welt wahrnimmt, dass man also nicht nur reagiert auf seine Umwelt, sondern in ihr auch etwas bewirken kann. Dabei ist Selbstwirksamkeit nichts Universelles: Man kann sich in bestimmten Lebensbereichen als selbstwirksam erleben, in anderen dafür überhaupt nicht. Entscheidend ist: Wenn man erlebt, dass man selbst etwas beeinflussen kann, dann stärkt einen das im Umgang mit schwierigen Gefühlen wie Angst, Trauer oder Wut.

Wie können Lehrer dazu beitragen, die Selbstwirksamkeit von Schülern zu stärken?

Nehmen wir das Beispiel Klimakrise, die bei vielen Schülerinnen und Schülern Zukunftsängste auslöst. Lehrer sollten zum einen möglichst sachlich und nicht katastrophisierend über die Gefahren des Klimawandels sprechen. Zum anderen sollten sie immer auch Lösungsansätze zur Sprache bringen, damit die Jugendlichen erkennen: Ja, es gibt Gefahren, doch es gibt auch Möglichkeiten, etwas zu tun. Es gibt Strategien, man kann sich anpassen, es gibt Beispiele, von denen man lernen kann. Und ganz wichtig: Die Jugendlichen lernen so, dass man auch über Dinge sprechen kann, die einem Angst machen.

»Schule ist heute längst ein Lebensort – nicht mehr ein Lernort wie vor 25 Jahren«

Müssen Lehrer dafür ihre Rolle aufgeben?

Nein, aber vielleicht sollten Lehrer ihre Rolle etwas anders ausfüllen. Schule ist heute längst ein Lebensort – nicht mehr ein Lernort wie vor 25 Jahren, wo man vormittags Deutsch und Mathe lernte, und nachmittags begann dann das wahre Leben – zu Hause, auf dem Bolzplatz oder im Verein. Heute ist Schule das Leben für die allermeisten Jugendlichen. Deswegen sind auch gemeinsame Erlebnisse wie Ausflüge so wichtig, bei denen man auch mal informeller miteinander reden kann.

Sollen Lehrer einen Jugendlichen ansprechen, wenn sie merken, dass er sich zurückzieht oder es ihm schlecht geht?

Ich würde Lehrern immer raten, einen Schüler anzusprechen, wenn sie merken, dass er sehr still wird oder dass es ihm irgendwie nicht gut geht. Vielleicht macht unsere Studie, so bedrückend die Ergebnisse sind, Lehrern ja auch Mut, öfter mal einen Schüler anzusprechen, weil sie wissen, dass ihr eigenes Gefühl mit hoher Wahrscheinlichkeit zutreffen könnte: Da leidet jemand und braucht Hilfe.

Was kann die Schule als Institution tun, um ihren Schülern in einer krisengeschüttelten Gegenwart zu helfen?

Was ich mir als sehr wirksam vorstelle, ist eine Art Stufenmodell. Die Schulen machen ihren Schülern ein Basisangebot: Was sind Emotionen? Woher kommen sie? Wie kann ich meine Gefühle regulieren? Was ist Selbstwirksamkeit – und wie merke ich, wenn ich selbstwirksam bin? Davon würden alle Kinder profitieren. Dieses Vor-Ort-Angebot würde ergänzt durch digitale Tools, etwa zur Stärkung der Emotionsregulation, und die Möglichkeit, anhand eines webbasierten Fragebogens selbst für sich zu ermitteln, wie es einem psychisch geht. Und wenn ein Jugendlicher dann merkt, dass er hohe Werte hat und auch die Tools nichts verbessern, dann sollte ein Übergang zu einer professionellen Anamnese möglich sein, bis hin zu einer Therapie.

Aber das wäre dann keine Psychotherapie in der Schule?

Auf keinen Fall! Jugendliche wollen nicht, dass ihre Mitschüler wissen, dass sie zum Therapeuten gehen. In vielen Fällen ist die damit verbundene Sorge, gehänselt oder ausgegrenzt zu werden, sicher auch berechtigt.

Was können Eltern machen?

Eltern sollten so viel wie möglich mit ihren Kindern sprechen. Gerade Jugendliche müssen dabei nicht in Watte gepackt werden, es ist allerdings wichtig, in stetem Kontakt mit seinen Kindern zu sein. Das heißt vor allem: ihnen ganz viel zuzuhören, sich dafür interessieren, was sie sagen und was sie machen. Das gibt Kindern Halt.

»Eltern müssen Eltern bleiben, aber als Mutter oder Vater versuchen, möglichst nah dran zu sein«

Aber nicht jeder Jugendlicher erzählt gern und viel.

Klar, manche reden von Natur aus mehr als andere. Doch auch die, die weniger reden, reden irgendwann mal und erzählen Dinge, die sie bewegen. Jugendliche brauchen den Kontakt zu ihren Eltern. Eltern müssen nicht die Freunde ihrer Kinder sein, sollen sie auch gar nicht. Eltern müssen Eltern bleiben, aber als Mutter oder Vater versuchen, so nah dran wie möglich zu sein: Geht es meinem Kind jetzt wirklich ganz schlecht oder ist das ein normaler Liebeskummer, wo es wohl reicht, wenn ich mein Kind in den Arm nehme und anschließend etwas Schönes mit ihm unternehme? Davon geht der Liebeskummer zwar nicht weg, aber man weiß als Eltern, dass das Kind das durchsteht. Liebeskummer gehört zum Leben.

Und wenn man als Eltern merkt, das reicht nicht?

Dann sollte man sich trauen, Dinge gezielt anzusprechen und zu sagen »Ich fange tatsächlich an, mir Sorgen um dich zu machen«. Leider sind viele Eltern an diesem Punkt gehemmt. Gerade Helikoptereltern, die sich sonst sehr, sehr gut um ihre Kinder kümmern, scheuen sich zuzugeben, dass ein Kind emotionale Probleme hat. Denn sie denken, sie sind schuld. Und mit der eigenen Schuld will man nicht konfrontiert werden, das ist unangenehm.

Das klingt auch nach Scham.

Gerade Eltern, die sich immer gekümmert haben, kommen hier in Nöte. Sie haben keine Probleme, mit der Kinderärztin über eine mögliche Nahrungsmittelunverträglichkeit ihrer Tochter zu sprechen. Aber über eine mögliche Essstörung? Da könnte ja jemand fragen »Was läuft denn bei euch zu Hause schief, was habt ihr denn falsch gemacht mit eurem Kind?«. Und aus dieser Scham heraus reagieren manche Eltern viel zu spät.

»Speziell Helikoptereltern, die sich sonst sehr, sehr gut um ihre Kinder kümmern, scheuen sich, zuzugeben, dass ein Kind emotionale Probleme hat. Denn sie denken, sie sind schuld«

Was sagen Sie diesen Eltern als Psychologin?

Ihr bringt eure Kinder doch auch zum Kinderarzt, wenn sie übel husten oder seit einer Woche humpeln. Bringt sie doch bitte auch zum Therapeuten, wenn sie emotional leiden. Das ist keine Schande. Das betrifft viele. Und das bedeutet auch nicht, dass ihr als Eltern etwas falsch gemacht habt. Das ist vielleicht sogar die wichtigste Botschaft.

Wir haben über emotionale Flexibilität und Selbstwirksamkeit als Schutzfaktoren gesprochen. Was sind darüber hinaus noch wichtige Schutzfaktoren?

Finanzielle Sicherheit hilft, aber auch tragfähige soziale Bindungen zum Beispiel. Heute haben wir viel mehr allein erziehende Eltern und Kleinfamilien. Eine allein erziehende Mutter oder ein allein erziehender Vater kann eine super Bindung zum Kind haben. Doch jeder Mensch braucht viele Beziehungen, eine Person kann nie alles abdecken. Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen. An diesem Sprichwort ist viel dran.

Was bedeuten Ihre Studienergebnisse für uns als Gesellschaft?

Das Problem hat tatsächlich eine gesellschaftliche Dimension. Denn wenn am Ende wirklich viele der gefährdeten Jugendlichen eine chronische Depression entwickeln, wäre das für die Betroffenen eine individuelle Katastrophe, aber auch für die Gesellschaft wäre es äußerst schlecht. Menschen mit Depression sind antriebslos und deutlich weniger leistungsfähig. Sie stehen dem Arbeitsmarkt nur eingeschränkt zur Verfügung, nicht den Vereinen, den Kirchen, den Familien. Depressive Menschen gehen auch viel seltener wählen.

Und was sind die gesellschaftlichen Folgen von Angst?

Die Angst, die wir ja auch großflächig in unseren Daten sehen, sogar bei noch mehr Jugendlichen, hat ähnliche Folgen. Angst geht zudem mit Vermeidung einher. Eine hohe Ängstlichkeit kann daher dazu führen, dass die zukünftige Gesellschaft manchen Problemen lieber grundsätzlich aus dem Weg geht, anstatt sich ihnen zu stellen und nach Lösungen zu suchen. Außerdem wissen wir, dass Jugendliche, die viel Angst haben, häufiger an Verschwörungstheorien glauben und eher extremistische Positionen einnehmen.

Könnte es am Ende nicht auch einfach so sein, dass Jugendliche in der sensiblen Phase der Pubertät zu allen Zeiten anfälliger für psychische Belastungen waren?

Das ist definitiv der Fall. Das Jugendalter war schon immer eine schwierige Phase und wird es immer bleiben: erst himmelhoch jauchzend, dann zu Tode betrübt. Hormonell gerät alles durcheinander, das Gehirn strukturiert sich völlig neu, man muss irgendwie seine Identität finden … Genau deswegen treffen externe Krisen Jugendlichen noch härter als Erwachsene. Und da wir wissen, dass viele psychische Störungen im Jugendalter zum ersten Mal auftreten, herrscht bei den Zahlen, die wir sehen, wirklich dringender Handlungsbedarf.

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