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Coronavirus-Bekämpfung: Was verrät die Reproduktionszahl R wirklich?

Die Reproduktionszahlen R und R0 gehören zu den wichtigsten Zahlen für die Kontrolle der Epidemie. Wir erklären, was sie aussagen.
Stilisierte Beschreibung eines Beziehungsnetzes zwischen Menschen, mit abstrakten Menschensymbolen an den Knotenpunkten, von denen eins rot ist.

Die Basisreproduktionszahl R0 ist ein zentrales Konzept der Infektionsepidemiologie. Die Zahl beschreibt, wie viele Menschen ein Infizierter im Schnitt ansteckt unter der idealisierenden Annahme, dass (noch) niemand gegen den Erreger immun ist. Zum Beispiel liegt R0 des extrem ansteckenden Masernvirus bei 15 bis 18. Ohne Impfung und Immunität auf Grund bereits durchgemachter Erkrankung würde ein einziger Masernerkrankter im Verlauf seiner Erkrankung im Schnitt 15 bis 18 andere Menschen anstecken. Zum Vergleich: Die saisonale Grippe hat eine Basisreproduktionszahl von 0,9 bis 2,1. Beim pandemischen Coronavirus Sars-CoV-2 verortet das RKI R0 zwischen 2,4 und 3,3.

Das Gute am R0-Wert ist, dass man aus ihm unmittelbar einschätzen kann, ob ein Erreger eine Epidemie auslösen kann und wie schnell sie sich dann ausbreitet. Liegt der Wert unter 1, steckt jeder Infizierte im Schnitt weniger als eine weitere Person an, so dass die Verbreitung des Erregers nach und nach von allein verebbt. Liegt R0 dagegen über 1, wächst die Zahl der Infizierten in einer Population ohne Immunität und ohne Kontrollmaßnahmen an. Wie genau eine Epidemie dann verläuft, bestimmen Epidemiologen mit mathematischen Modellen, in die R0 als wesentlicher Parameter eingeht.

Reproduktionszahlen messen

Allerdings ist es gar nicht so einfach, R0 zu bestimmen. Man kann die Zahl direkt berechnen, indem man drei Parameter miteinander multipliziert: wie häufig Infizierte in einer bestimmten Zeitspanne Kontakt mit anderen Menschen haben, wie wahrscheinlich eine Ansteckung bei einem Kontakt ist und wie lange infizierte Menschen ansteckend sind. »Im besten Fall stammen solche Faktoren aus der Kontaktverfolgung«, sagt Matthias an der Heiden von der Abteilung für Infektionsepidemiologie des Robert Koch-Instituts. »Dabei werden Kontakte von Erkrankten am Anfang einer Epidemie intensiv nachverfolgt.« Allerdings veränderten die damit einhergehenden Interventionen wie etwa Quarantänemaßnahmen bereits das Verhalten eines Erregers und damit auch die echte R0, erklärt der Wissenschaftler.

Alternativ kann man R0 aus Populationsdaten schätzen, also zum Beispiel aus den gemeldeten Infektionszahlen. Mit Hilfe gewöhnlicher Differenzialgleichungen können Theoretiker daraus Modelle der Dynamik der Epidemie erzeugen, inklusive einer passenden Basisreproduktionszahl, ohne Individuen zu verfolgen. Jedoch gehen in diese Modelle ebenfalls viele meist nicht überprüfbare Annahmen über das durchschnittliche Verhalten auf der Ebene der Individuen ein.

Wie viele Menschen haben sich neu angesteckt? | Die »Sieben-Tage-Inzidenz« gibt an, wie viele Neuinfektionen es in den letzten 7 Tagen pro 100.000 Einwohner gab. Stecken sich zu viele Menschen an, sollen die Landkreise Schutzmaßnahmen ergreifen.

»R0 ist kein feststehender Wert«, sagt an der Heiden. »Der Wert wird vom Kontaktverhalten der Menschen direkt mitbestimmt.« Gesellschaften mit unterschiedlicher Anzahl, Art und Weise von Kontakten hätten deshalb verschiedene R0-Werte für den gleichen Erreger. Eine Gesellschaft, in der Niesen ohne Mundschutz in der Öffentlichkeit als unhöflich gilt, wird für ein und dasselbe Atemwegsvirus also einen anderen R0-Wert haben als eine, in der fünf Wangenküsschen die Mindestanforderung sind.

Die effektive Reproduktionszahl R

Die Basisreproduktionszahl R0 beschreibt also das epidemiologische Potenzial eines Erregers unter (für den Erreger) idealen Bedingungen – ohne jegliche Immunität oder Intervention. Im Gegensatz dazu misst die effektive Reproduktionszahl R die durchschnittliche Anzahl der Ansteckungen pro Infiziertem im Verlauf einer Epidemie. Anders als R0 nimmt R im Verlauf einer Epidemie zusammen mit der Zahl der noch nicht Immunen ab.

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

Neben der natürlichen Immunität kann R auch durch Kontrollmaßnahmen oder eine Impfung gesenkt werden. Grundsätzlich gilt: Um einen Ausbruch zu stoppen, muss R dauerhaft unter 1 gehalten werden. Das ist auch das erklärte Ziel der Bundesregierung, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel auf der Pressekonferenz zur Zukunft der Kontrollmaßnahmen am Donnerstag erklärte. Wie also steht es aktuell um R für Sars-Cov-2 in Deutschland?

In seinem epidemiologischen Bulletin vom 15. April gibt das Robert Koch-Institut eine Schätzung für den Verlauf für R seit dem 6. März an. Der Wert wird darin als der Quotient der Anzahl von Neuerkrankungen in zwei aufeinander folgenden Zeitabschnitten (Generationszeit, siehe unten) berechnet. Die Ergebnisse zeigen, dass R Anfang März Werte um 3 hatte, danach absank und sich seit dem 22. März um 1 stabilisiert. Als Grund dafür, dass der Rückgang trotz der gravierenden Maßnahmen nur recht langsam geschah, nimmt das RKI die zunehmenden Infektionen in Altenheimen an. Am 17. April meldete das RKI eine effektive Reproduktionszahl von 0,7.

Wie zuverlässig sind solche Angaben, wenn man berücksichtigt, dass etwa die Dunkelziffer der tatsächlichen Infektionen noch nicht bekannt ist? »Die Dunkelziffer ist hier nicht das Entscheidende«, sagt an der Heiden. »Es geht nämlich mehr um einen Trend, das heißt, die Anzahl der Neuinfektionen über die Zeit in gleicher Weise zu ermitteln.« Die Größenordnung der geschätzten Werte für R0 seien plausibel und stimmten für verschiedene Autoren ganz gut überein. Wichtiger sei es nun, nicht nur das mittlere R für Deutschland insgesamt zu betrachten, sondern beispielsweise Gruppen oder Bereiche zu identifizieren, in denen das R höher ist, sagt an der Heiden. Dann könne gezielter gegensteuert werden, wenn irgendwo ein Ausbruch losgeht.

Die Reproduktionszahl R

Veröffentlicht am: 03.05.2020

Laufzeit: 0:04:35

Sprache: deutsch

Wie geht es weiter?

»Am schwierigsten ist es aktuell, die Verteilung der Generationszeit oder des seriellen Intervalls stabil zu schätzen«, sagt an der Heiden. »Denn auf dieser Verteilung beruht typischerweise die R-Schätzung.« Die Generationszeit ist die Zeit, die ein Erreger im Mittel braucht, um nach der Infektion eines Menschen zum nächsten zu springen. Sie entspricht grob dem seriellen Intervall, also der durchschnittlichen Zeit, die zwischen dem Symptombeginn einer erkrankten Person und der ihrer Folgefälle vergeht. Wie die beiden Reproduktionszahlen hängt auch die Generationszeit von den gesellschaftlichen Umständen ab. In seiner Schätzung der Verlaufs von R ist das RKI von einer Generationszeit von vier Tagen ausgegangen.

Die Ergebnisse für R deuten also darauf hin, dass die Kontrollmaßnahmen wirken. Die Verbreitung von Sars-CoV-2 verlangsamt sich, wenn auch moderat. Aber wie lange braucht man die Einschränkungen noch? Sind sie schwer wiegend genug? Oder gar zu drastisch? Das hängt von etlichen Faktoren ab: wann eine wirksame Therapie kommt, wann eine Impfung kommt und nicht zuletzt, wie sich jeder Einzelne auf dem Weg in die Post-Corona-Ära verhält. Klar ist: Um die Pandemie zu stoppen, müssen wir R dauerhaft unter 1 halten.

Dann kann man zum Beispiel die Frage stellen, wie groß die Immunität in der Bevölkerung sein muss, um diesen Status ohne weitere Maßnahmen zu halten. Nimmt man R0 = 3 an, dann bedeutet das, dass jeder Infizierte zu Beginn der Epidemie im Schnitt drei andere angesteckt hat. Soll R nun dauerhaft unter 1 bleiben, müssten also zwei von drei Personen aus der Menge der Suszeptiblen (Anfälligen) wegfallen. Etwa 66 Prozent der Bevölkerung müssen demnach immun werden, wenn man R ohne Maßnahmen unter 1 halten will.

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