Anatomie: Wegoperierte Evolution
Den unnützen und entzündungsgefährdeten Blinddarmfortsatz sollte doch, so denkt man landläufig, eigentlich gleich präventiv entfernt werden, bevor er am Ende einmal Probleme macht. Was hat sich die Evolution nur dabei gedacht? Offenbar einiges.
Am Wesen des Blindarmfortsatzes haben sich schon viele Forschergehirne entzündet. Auch Charles Darwin zum Beispiel hielt ihn 1871 für überflüssig. Der Appendix müsse ein evolutionsgeschichtliches Relikt von Primaten aus der Zeit sein, als sie noch ausschließlich Blätter fraßen und irgendein Darm-Divertikelchen zur intensiveren Verdauung brauchten. Der Wurmfortsatz heute jedenfalls: überflüssig. Viele Anatomen und Chirurgen teilten die Ansicht – und vielleicht nicht ganz zu Unrecht. Denn schließlich lebten ja bereits unzählige Menschen nach dem oft lebensrettenden Entfernen eines entzündeten Appendix absolut problemlos.
Schon im Jahr 2007 haben Randal Bolliger und Kollegen von der Duke University dagegen eine einleuchtende Gedankenkette aufgestellt, welche die manchmal unterschätzte Funktion des Appendix gut beleuchtet [1]. Sie betrachteten den Menschen dabei als Superorganismus: Eine Kolonie verschiedenster Arten, die miteinander in Harmonie zusammenleben und dabei als Ganzes besser klarkommen als die Summe ihrer Teile. Homo sapiens sei schließlich nichts ohne die vielen gutartigen Bakterien, die in seinem Darm leben und durch ihre Anwesenheit den unangenehmeren und krank machenden Keimen den Lebensraum wegnehmen.
Belege für diese Hypothese sind nicht einfach zu finden. Indizien unterstützen immerhin die Idee, der Wurmfortsatz spiele eine Rolle bei der Körperabwehr. So ist er beispielsweise von auffällig vielen Lymphgefäßen versorgt und enthält ausgedehnte, in widerstandsfähigen Biofilmen organisierte Bakteriengruppen. Dafür könnten erhöhte Konzentrationen von über das Immunsystem angelieferten Modulatoren der Körperabwehr sorgen: Das Immunglobulin A oder das Makromolekül Mucin fördern zum Beispiel nachweislich die Biofilmbildung, wie jüngst gezeigt wurde – und gerade Biofilme aus dem Appendix-Rückzugsraum würden sich hervorragend als mit solchen Signalen gut versorgte Keimzelle der Wiederbesiedlung eines frisch gespülten Darms eignen.
Nun legt das Team um Bollinger und seinem Institutskollegen William Parker evolutionsbiologisch-phylogenetische Argumente nach. Dazu haben die Mediziner penible Untersuchungen über die Mannigfaltigkeit des Wurmfortsatzes im Reich der Säugetiere angestellt [2]. Erstaunliches Zwischenfazit: In fast allen größeren Säugerklans – die Forscher durchsuchten rund 80 Vertreter verschiedener Familien oder Großgruppen – gibt es einen Appendix oder zumindest etwas Ähnliches; gleichzeitig aber fehlt er auch nicht wenigen Spezies ganz. Mehrmals und unabhängig voneinander, so die Schlussfolgerung aus Phylogenie und Verbreitung des anatomischen Merkmals, muss der Blinddarmarmfortsatz erfunden worden sein.
Fasst man "Wurmfortsatz" etwas weniger eng, so erweitert sich das Feld der Appendix-Besitzer weiter: Eine Struktur, die sich anatomisch recht deutlich von einem blind endenden Darmabschnitt abhebt, findet sich sehr oft. Manche Tiere, die ihren Blinddarm nicht etwa zum verbesserten Verdauen nutzen müssen, haben dabei augenscheinlich sogar den ganzen Abschnitt zum funktional gut mit dem Lymph- und Immunsystem vernetzten Anhängsel gemacht.
Kurz: Zumindest die Stammgruppe der Nagetiere und Hasenartigen; die Primaten und auch die Diprotodontia (zu denen etwa Kängurus und Koalas zählen) haben Wurmfortsätze alle unabhängig voneinander erfunden – und womöglich sogar die doch recht eigentümlichen Kloakentiere, deren Schnabeligel und Ameisenigel ebenfalls mit einer Wurmfortsatzvariante aufwarten.
Eine derart oft erfundene und in verschiedenen, kaum verwandten Arten vorhandene Struktur, die teilweise wohl über rund 80 Millionen Jahre durchgängig vorhanden war, dürfte kaum ohne jeden biologischen Sinn sein, so Parker und Co nach ihrem säugersystemanalytischen Rundumschlag. Tatsächlich, so die Forscher weiter, war schon im Verdauungstrakt von Amphibien ein Darmabschnitt auf die Beherbergung von biofilmbildenden Keimkommunen spezialisiert – eine Situation, die heute noch im Bullenfrosch vorliegt und die offenbar im Lauf der Evolution von Säugetieren ausgebaut und verfeinert wurde.
Bleibt am Ende nur noch eine Frage: Warum, siehe oben, leben dann eigentlich wirklich unzählige Menschen nach einer Blinddarm-OP problemlos? Das treffe eigentlich nur zu, wenn man sich Operierte in den hygienisch aufgeklärten und medizinisch gut versorgten Regionen der Welt anschaue, meinen die Forscher um Parker. Die rasche Wiederbesiedlung des Darms nach einer Erkrankung sei hier offenbar immer weniger entscheidend. Über lange Phasen der menschlichen Entwicklung aber gab es keine verlässliche Wasseraufbereitung, fehlten Kläranlagen und war der Zugang zu sauberem Trinkwasser erschwert – und Durchfallerkrankungen daher eine deutlich häufigere Bedrohung für die Gesundheit. Optimale Voraussetzungen mithin für den Einsatz des Blinddarmfortsatzes.
Schon im Jahr 2007 haben Randal Bolliger und Kollegen von der Duke University dagegen eine einleuchtende Gedankenkette aufgestellt, welche die manchmal unterschätzte Funktion des Appendix gut beleuchtet [1]. Sie betrachteten den Menschen dabei als Superorganismus: Eine Kolonie verschiedenster Arten, die miteinander in Harmonie zusammenleben und dabei als Ganzes besser klarkommen als die Summe ihrer Teile. Homo sapiens sei schließlich nichts ohne die vielen gutartigen Bakterien, die in seinem Darm leben und durch ihre Anwesenheit den unangenehmeren und krank machenden Keimen den Lebensraum wegnehmen.
Gelegentlich aber muss die gesunde Darmflora gegenüber einer Krankheitskeim-Invasion kapitulieren und der Körper dann zu rabiaten Abführmethoden greifen – Durchfall spült den Darmtrakt und seine unliebsamen Gastbesetzer im Idealfall hinaus. Spätestens jetzt muss eine Wiederbesiedlung mit der natürlichen Flora der Superspezies stattfinden, und genau hier komme der Wurmfortsatz ins Spiel: Er diene als geschützter Rückzugsraum, in den schädlichen Keime kaum eindringen, aus dessen Darmbakterien-Reservoir sich aber die neue Keimflora nach dem Störfall rekrutiere.
Belege für diese Hypothese sind nicht einfach zu finden. Indizien unterstützen immerhin die Idee, der Wurmfortsatz spiele eine Rolle bei der Körperabwehr. So ist er beispielsweise von auffällig vielen Lymphgefäßen versorgt und enthält ausgedehnte, in widerstandsfähigen Biofilmen organisierte Bakteriengruppen. Dafür könnten erhöhte Konzentrationen von über das Immunsystem angelieferten Modulatoren der Körperabwehr sorgen: Das Immunglobulin A oder das Makromolekül Mucin fördern zum Beispiel nachweislich die Biofilmbildung, wie jüngst gezeigt wurde – und gerade Biofilme aus dem Appendix-Rückzugsraum würden sich hervorragend als mit solchen Signalen gut versorgte Keimzelle der Wiederbesiedlung eines frisch gespülten Darms eignen.
Nun legt das Team um Bollinger und seinem Institutskollegen William Parker evolutionsbiologisch-phylogenetische Argumente nach. Dazu haben die Mediziner penible Untersuchungen über die Mannigfaltigkeit des Wurmfortsatzes im Reich der Säugetiere angestellt [2]. Erstaunliches Zwischenfazit: In fast allen größeren Säugerklans – die Forscher durchsuchten rund 80 Vertreter verschiedener Familien oder Großgruppen – gibt es einen Appendix oder zumindest etwas Ähnliches; gleichzeitig aber fehlt er auch nicht wenigen Spezies ganz. Mehrmals und unabhängig voneinander, so die Schlussfolgerung aus Phylogenie und Verbreitung des anatomischen Merkmals, muss der Blinddarmarmfortsatz erfunden worden sein.
Fasst man "Wurmfortsatz" etwas weniger eng, so erweitert sich das Feld der Appendix-Besitzer weiter: Eine Struktur, die sich anatomisch recht deutlich von einem blind endenden Darmabschnitt abhebt, findet sich sehr oft. Manche Tiere, die ihren Blinddarm nicht etwa zum verbesserten Verdauen nutzen müssen, haben dabei augenscheinlich sogar den ganzen Abschnitt zum funktional gut mit dem Lymph- und Immunsystem vernetzten Anhängsel gemacht.
Kurz: Zumindest die Stammgruppe der Nagetiere und Hasenartigen; die Primaten und auch die Diprotodontia (zu denen etwa Kängurus und Koalas zählen) haben Wurmfortsätze alle unabhängig voneinander erfunden – und womöglich sogar die doch recht eigentümlichen Kloakentiere, deren Schnabeligel und Ameisenigel ebenfalls mit einer Wurmfortsatzvariante aufwarten.
Eine derart oft erfundene und in verschiedenen, kaum verwandten Arten vorhandene Struktur, die teilweise wohl über rund 80 Millionen Jahre durchgängig vorhanden war, dürfte kaum ohne jeden biologischen Sinn sein, so Parker und Co nach ihrem säugersystemanalytischen Rundumschlag. Tatsächlich, so die Forscher weiter, war schon im Verdauungstrakt von Amphibien ein Darmabschnitt auf die Beherbergung von biofilmbildenden Keimkommunen spezialisiert – eine Situation, die heute noch im Bullenfrosch vorliegt und die offenbar im Lauf der Evolution von Säugetieren ausgebaut und verfeinert wurde.
Bleibt am Ende nur noch eine Frage: Warum, siehe oben, leben dann eigentlich wirklich unzählige Menschen nach einer Blinddarm-OP problemlos? Das treffe eigentlich nur zu, wenn man sich Operierte in den hygienisch aufgeklärten und medizinisch gut versorgten Regionen der Welt anschaue, meinen die Forscher um Parker. Die rasche Wiederbesiedlung des Darms nach einer Erkrankung sei hier offenbar immer weniger entscheidend. Über lange Phasen der menschlichen Entwicklung aber gab es keine verlässliche Wasseraufbereitung, fehlten Kläranlagen und war der Zugang zu sauberem Trinkwasser erschwert – und Durchfallerkrankungen daher eine deutlich häufigere Bedrohung für die Gesundheit. Optimale Voraussetzungen mithin für den Einsatz des Blinddarmfortsatzes.
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