SPD-Mitgliederentscheid: Wenig Führungskompetenz
Herr Professor Trötschel, was denken Sie: Wie geht der SPD-Mitgliederentscheid aus?
Da wage ich keine Prognose. Das wird wohl knapp.
Welches ist innerhalb der SPD das mächtigere Argument pro GroKo: Man habe der Union viel abgerungen und könne daher so manches vom eigenen Programm umsetzen? Oder: Wenn man die GroKo jetzt noch platzen lasse, werde man bei drohenden Neuwahlen einbrechen?
Die erste Botschaft zeigt positive Konsequenzen auf. Im Vordergrund stehen Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der GroKo, politischer Einfluss und künftige Erfolge. Die zweite Botschaft lässt hingegen negative Konsequenzen anklingen: die Angst vor Machtverlust oder künftigem Versagen. Welche Botschaft zu einer stärkeren Mobilisierung pro GroKo bei den SPD-Mitgliedern führt, hängt entscheidend von der inneren Haltung der Befragten ab.
Was heißt das genau?
Wenn die SPD-Mitglieder aktuell eher dazu neigen, die Chancen wie etwa den Zugewinn an Macht wahrzunehmen – diesen Zustand nennen Psychologen den Promotionsfokus –, dann sollte die Botschaft mit den positiven Konsequenzen zu einer stärkeren Zustimmung für die Regierungsbildung führen. Treiben die SPD-Basis momentan allerdings stärker Sorgen um wie die vor einem drohenden Abrutschen bei Neuwahlen, dann befinden sie sich im Präventionsfokus. In dieser Lage wirkt die Botschaft mit den negativen Konsequenzen motivierender pro GroKo.
Gerade scheint die Stimmung bei den meisten Mitgliedern ja ziemlich düster zu sein, wenn man den politischen Kommentatoren Glauben schenkt.
Das kann sich aber auch noch ändern. Sollte in der kommenden Woche durch Personalentscheidungen oder wodurch auch immer Aufbruchstimmung in der SPD entstehen, dann würde die positiv konnotierte Botschaft zu einer stärkeren Zustimmung für den Eintritt in die GroKo führen.
Welches Gewicht hat das normative Pro-GroKo-Argument der "staatspolitischen Verantwortung"?
Das Gefühl, verantwortlich zu sein, macht Menschen ganz allgemein weniger flexibel. Beispielsweise werden Personen in Verhandlungen durch das Gefühl der Verantwortung weniger nachgiebig und hängen mehr am Status quo. Auch geht das Gefühl der Verantwortung primär mit Ängsten einher, insbesondere der Sorge, den Ansprüchen von außen nicht gerecht zu werden. Übertragen auf den SPD-Mitgliederentscheid löst man also mit dem Verweis auf die staatspolitische Verantwortung eher einen Präventionsfokus aus. Dieses Argument mag folglich die SPD-Basis dazu motivieren, dem Koalitionsvertrag mehrheitlich zuzustimmen.
"Wer so agiert in so wichtigen Verhandlungen, der besitzt wenig Führungskompetenz“
Doch eine Aufbruchstimmung oder eine Fokussierung auf Chancen oder gar Visionen, die sich aus einer Regierungsbeteiligung für die SPD ergeben, erzeugt man mit dieser Botschaft nicht. Gleichzeitig hat das Argument der staatspolitischen Verantwortung noch eine andere Seite: Es appelliert eben nicht nur an die Identität der Befragten als Parteimitglieder, sondern auch an eine übergeordnete Identität, die des verantwortungsbewussten Politikers oder Bürgers. Es geht hier um das Überwinden von Denkmustern.
Es gibt ja noch ein weiteres Narrativ: Die "Erneuerung" der SPD gelinge besser in der Opposition. Wie mächtig ist diese Denkart?
Auch hier wird mit der Wahrnehmung von Chancen und Risiken gespielt: Die Prognose lautet, dass auf der Oppositionsbank bessere Perspektiven im Hinblick auf spätere Wahlerfolge liegen; als Juniorpartner auf der Regierungsbank werde man nach den Erfahrungen aus den vergangenen Legislaturperioden hingegen verschlissen.
Ist das überzeugend?
Ich würde den monokausalen Zusammenhang, dass die SPD als kleinerer Partner in der Großen Koalition stets mit Stimmenverlusten rechnen muss, stark anzweifeln. Denn er besagt: Die Regierungskonstellation der GroKo ist die primäre oder sogar alleinige Ursache für den Stimmverlust der SPD. In Wirklichkeit gibt es aber sicher noch andere, vielleicht weitaus stärkere Faktoren, die zum Absacken der SPD wie ja auch der anderen beiden regierenden Parteien bei der letzten Bundestagswahl geführt haben.
Welchen Einfluss hat das personelle Wirrwar der zurückliegenden Tage, haben die Animositäten an der SPD-Parteispitze auf den Ausgang des GroKo-Memorandums?
Als Verhandlungsforscher habe ich beim Durchsickern der Details nach den GroKo-Gesprächen den Eindruck gewonnen, dass gegen Ende der Verhandlungen überwiegend parteipolitische und persönliche Interessen das Geschehen bestimmten. Sehr aufschlussreich hierzu waren Schilderungen von CSU-Chef Horst Seehofer, der sehr detailliert beschrieb, wie zäh und destruktiv die Verhandlungen über die Ressortverteilung in den letzten Stunden vor dem Durchbruch geführt wurden. Während die Öffentlichkeit davon ausging, dass der zusätzlich anberaumte Verhandlungstag für die Lösung umstrittener Inhalte genutzt wird, wurde laut Seehofer von 16 Uhr nachmittags bis 6 Uhr morgens vielmehr um Ministerien gefeilscht. Außerdem wurden innerhalb der SPD-Führung offensichtlich bereits interne Verhandlungen geführt, wer welche Ressorts erhält.
Welche psychologischen Folgen hat das an der Parteibasis?
Insgesamt hinterlässt dies nicht nur an der SPD-Basis, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit den Eindruck einer unprofessionellen Diskussionsführung. Wer so agiert in so wichtigen Verhandlungen, der besitzt wenig Führungskompetenz. Dieser Eindruck dürfte weite Teile der SPD-Basis ziemlich schockiert haben.
Die entsprechende Kritik aus den eigenen Reihen führte dann recht schnell dazu, dass Martin Schulz nicht nur den Parteivorsitz abgeben wollte, sondern auch auf das angestrebte Außen-, ja überhaupt auf ein Ministeramt verzichtet.
Auch wenn der ehrenhafte Rücktritt von Martin Schulz diesen Vorwurf, man bediene sich da selbst, im Nachhinein entkräften sollte: Wie schon nach den gescheiterten Jamaika-Verhandlungen bleibt der Eindruck, dass die Professionalität der Akteure am Verhandlungstisch sowie nach Abschluss der Verhandlungen noch gesteigert werden kann.
"Die Abstimmung über die Regierungsbeteiligung allein innerhalb der SPD bedroht das Demokratieverständnis bei jedem Einzelnen von uns"
Das ist aber nett formuliert.
Es ist eine Tatsache, dass im internationalen Vergleich die Schulung in professioneller Verhandlungsführung in Deutschland eine untergeordnete Rolle spielt.
Welchen Einfluss hat die No-GroKo-Kampagne der Jusos auf den Ausgang des SPD-Mitgliederentscheids?
Der Nachwuchs macht sich hier zur Aufgabe, für Erneuerung innerhalb der Partei zu sorgen. Da die vergangene GroKo mit ihren politischen Akteuren für eine inzwischen abgeschlossene politische Periode steht, wirkt die Kampagne der Jusos authentisch. Als Konfliktforscher, der sich primär mit der Lösung sozialer Konflikte durch Verhandlungen beschäftigt, betrachte ich die Kampagne der Jusos als einen legitimen Versuch, einen Interessen- oder Wertkonflikt durch Handeln anstatt durch Ver-Handeln zu lösen.
Also handeln, weil man selbst als Jusos nicht mit ver-handeln durfte?
Die Jusos hatten ja wenig Möglichkeiten, die mittlerweile abgeschlossenen Koalitionsverhandlungen direkt zu beeinflussen. Offenbar sehen sie auch ihre Möglichkeiten beschränkt, während der nächsten Regierungszeit alternative politische Lösungen mit der eigenen Parteispitze – geschweige denn den anderen Regierungsparteien – auszuhandeln. Folglich versuchen sie den parteiinternen Konflikt durch alternatives Handeln statt Verhandeln zu ihren Gunsten zu entscheiden. Das nach außen getragene Argument lautet dabei, dass die SPD in der Opposition ihre politischen Positionen besser herausarbeiten kann als in der Regierung. Aber hier geht es vielleicht nicht nur um die Schärfung der Konturen, sondern auch um die Erneuerung der eigenen Identität. In der Opposition lässt sich eine erneuerte Identität verbunden mit neuen politischen Akteuren umfänglicher und wirkungsvoller verwirklichen als innerhalb der Regierung.
Viele Kommentatoren urteilen, die SPD habe der Union erstaunlich viel in den Koalitionsverhandlungen abverlangt, indem sie das Mitgliedervotum als Druckmittel einsetzte. Auch die Nachfolgerin oder den Nachfolger von Martin Schulz als Parteivorsitzenden solle erst eine Urwahl küren, fordern nun manche. Wie wird sich die Politik in Deutschland verändern, sollten solche Konsultationen der Basis bei immer mehr Entscheidungen Schule machen?
Viele Menschen in unserem Land empfinden ein starkes Bedürfnis nach basisdemokratischen Entscheidungen. Für die Akzeptanz solcher Entscheidungen erscheint es mir aus Sicht der Psychologie jedoch wichtig, dass alle Personen, die von den Konsequenzen einer bestimmten Entscheidung betroffen sind, auch am Entscheidungsprozess beteiligt sind. Das können bei einer so wichtigen Frage wie der, ob Deutschland eine Große Koalition oder stattdessen vielleicht Neuwahlen bekommt, jedoch nicht allein die Mitglieder einer einzelnen Partei sein! Unabhängig von verfassungsrechtlichen oder gesellschaftlichen Fragen frage ich mich als Psychologe folglich: Wie werden Menschen, die von einem Entscheidungsprozess ausgeschlossen, aber von dessen Ausgang unmittelbar betroffen sind, die Konsequenzen der Entscheidung akzeptieren?
Und Ihre Antwort darauf?
Befürworter einer direkten Demokratie haben bereits Schwierigkeiten, die Entscheidungen einer gewählten Regierung innerhalb unserer repräsentativen Demokratie zu akzeptieren. Entscheidet sich die SPD-Basis im konkreten Fall des Mitgliederentscheids für oder gegen die Regierungsbeteiligung, so kann bei jedem von uns, der nicht der SPD angehört und somit nicht gefragt wurde, das Gefühl entstehen, von einer äußerst bedeutsamen Entscheidungsfindung ausgeschlossen gewesen zu sein.
"Viele Menschen in unserem Land empfinden ein starkes Bedürfnis nach basisdemokratischen Entscheidungen"
Erklären sich so die vielen Neueintritte in die SPD? Über 24 000 neue Mitglieder seit Jahresbeginn, das ist ein Zuwachs von mehr als fünf Prozent.
An dieser Zahl lässt sich natürlich der Wunsch von Menschen ablesen, in der GroKo-Frage gehört zu werden. Wobei sowohl Personen eingetreten sind, die die GroKo wollen, als auch solche, die sie ablehnen. Damit aber bedroht die Abstimmung über die Regierungsbeteiligung allein innerhalb der SPD das Demokratieverständnis eines jeden Einzelnen von uns, insbesondere von Bürgerinnen und Bürgern, die sich schon vorher von demokratischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen wähnten.
Und wie wäre das bei einer Urwahl der Nachfolgerin oder des Nachfolgers für Martin Schulz an der Parteispitze?
Hier zeigt sich gerade der Unterschied zwischen verschiedenen Arten basisdemokratischer Beteiligung: Das wäre ja ein SPD-interner Entscheidungsprozess, dessen Ausgang unmittelbar auch nur die SPD beträfe. Folglich können sich Personen außerhalb der SPD von diesem Entscheidungsprozess auch nicht ausgeschlossen fühlen. Das nehmen sie als legitim wahr. Es würde mich jedenfalls sehr wundern, wenn wir vor einer möglichen Wahl für den neuen SPD-Parteivorsitz ähnlich viele Parteieintritte verzeichnen würden wie vor dem anstehenden Referendum zur Regierungsbeteiligung.
Auch wenn innerhalb der SPD noch heftig debattiert wird: Die Parteioberen propagieren mehrheitlich den Eintritt in die Große Koalition. Wenn Sie als Verhandlungsexperte eine Empfehlung auszusprechen hätten, wie die SPD-Spitze die eigene Basis vom "Ja" zur GroKo überzeugen könnte, was wäre das?
Aus der Analyse unzähliger Verhandlungen weiß ich, dass einseitiges Argumentieren, also das Aufzählen von Aspekten, die die eigene Sichtweise und Weltanschauung stützen, selten zum Erfolg führt. Manche Politikerinnen und Politiker argumentieren am Verhandlungstisch stundenlang mit Hilfe von Statistiken und Gutachten. Diese Art der Verhandlungsführung – die auch hinter verschlossenen Türen genau so stattfindet – können wir wöchentlich in politischen Talkshows vor dem Fernseher beobachten. Selten habe ich jedoch erlebt, dass die Gegenpartei am Verhandlungstisch nach unzähligen Argumenten einlenkt und sagt: "Da haben Sie Recht, ich bin nun überzeugt und schließe mich Ihrer Position an."
Was hilft stattdessen?
Weitaus wirkungsvoller ist es, die Interessen der Personen anzusprechen, die man für sich gewinnen möchte. Hierzu ist es zunächst wichtig, die Interessen und Bedürfnisse des Gegenübers richtig zu verstehen. Ich muss also zunächst die richtigen Fragen stellen, um danach zuzuhören. Erst wenn ich ein umfassendes Verständnis aller Interessen habe, kann ich aufzeigen, wie meine eigenen Vorschläge die Belange meines Gegenübers ansprechen. Bezogen auf den Fall der SPD sollte die Parteispitze also zunächst einmal die Ziele und Hoffnungen, aber auch die Ängste und Sorgen der Menschen an der Basis verstehen! Und dann kommen wir wieder zur eingangs gestellten Frage: Falls das vorherrschende Interesse der Parteibasis darin liegt, aktiv Politik zu gestalten, so sollten Chancen und Möglichkeiten aufgezeigt und konkrete Schritte erörtert werden, wie die eigene Programmatik während der künftigen Regierungszeit effizient umgesetzt wird.
Und falls nicht?
Falls es das primäre Interesse der Parteibasis ist, einen weiteren Machtverlust zu vermeiden, sollten die Oberen daran appellieren, dass Neuwahlen womöglich zu weiteren Stimmenverlusten führen. Der Eintritt in die Große Koalition reduziert dann die Ängste.
Und wenn Sie die NoGroKo-Fraktion beraten würden, was wäre hier Ihr Rat für eine erfolgreiche Strategie im Hinblick auf das Mitgliedervotum vom 20. Februar bis 2. März?
Alles Gesagte gilt umgekehrt auch für die GroKo-Gegner: Je nach Interessen, Bedürfnissen, Ängsten und Sorgen sollten eine Vision für die Erneuerung der Partei in der Opposition ausgemalt oder umgekehrt die potenziellen Gefahren der Regierungsbeteiligung veranschaulicht werden.
Auch die Spitzen von CDU und CSU wollen die GroKo. Welche Signale sollten sie in Richtung der SPD-Mitglieder senden?
Das Vertrauen zwischen den Parteien hat durch den Wahlkampf, aber auch durch die zähen Verhandlungen um inhaltliche Positionen, parteipolitische Interessen und persönliche Belange stark gelitten. Das Wichtigste im Anschluss an eine abgeschlossene Verhandlung ist das Wiederherstellen von zerstörtem Vertrauen. In der Sprache von Psychologen sind politische Koalitionen ebenso wie Verhandlungen ganz allgemein Situationen mit einer gemischt-motivierten Interdependenz.
Das heißt?
Es liegt eine wechselseitige Abhängigkeit vor, gekennzeichnet durch Kooperation und Kompetition, also Zusammenarbeit und Rivalität. Denn die Akteure wollen sich auch innerhalb einer gemeinsamen Regierung voneinander abgrenzen und ihre parteispezifischen Ziele durchsetzen. Sie befinden sich also weiterhin in einem kontinuierlichen Wettstreit um das politische Agieren. Gleichzeitig können die Koalitionspartner das Regierungsprogramm nur gemeinsam verwirklichen. Dieses Spannungsfeld zwischen Kompetition und Kooperation kann man nur dadurch lösen, dass man Vertrauen aufbaut. Konkret heißt das, dass sich alle Parteien auf ihre gemeinsam getroffenen Vereinbarungen verlassen können müssen und mit Blick auf diese Vereinbarungen als verlässliche politische Partner agieren. Das Signal der CDU- und CSU-Führung in Richtung der SPD-Mitglieder sollte also ganz klar lauten: Auch wenn es uns in den Koalitionsverhandlungen schwergefallen ist, auf die SPD zuzugehen, so kann sich die SPD nun auf die getroffenen Vereinbarungen und deren Umsetzung absolut verlassen.
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