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Letzte Hilfe: Wie sorge ich für einen Sterbenden?

Die meisten Menschen möchten zu Hause sterben und bis zum Tod ihre Lieben um sich haben. In einem Letzte-Hilfe-Kurs lernen Angehörige, was sie für Sterbende tun können.
Zwei Hände ergreifen die Hand eines Menschen im Rollstuhl

An einem sonnigen Herbstnachmittag sitzen zehn Frauen und ein Mann in Hamburg zusammen und sprechen über den Tod. In den Räumen der Diakonie Alten Eichen, einer gemeinnützigen Stiftung, findet ein Kurs in Letzter Hilfe statt. In vier Stunden wollen die Teilnehmenden lernen, wie sie jemanden in seinen letzten Monaten, Wochen und Stunden begleiten können.

»Wir Menschen werden füreinander da sein müssen«, stellt Kursleiterin Ulrike Wohlgemuth gleich zu Beginn fest. Die gelernte Krankenschwester ist Leitende Koordinatorin des Ambulanten Hospizdienstes der Diakonie Alten Eichen. »Die Menschen werden immer älter, und die meisten möchten zu Hause sterben«, sagt sie. Dafür sind sie auf die Unterstützung anderer angewiesen, auf Letzte Hilfe.

2008 entwickelte der deutsche Arzt Georg Bollig einen Prototyp des Kurzseminars für Sterbebegleitung. Er ist gleichzeitig Palliativ- und Notfallmediziner und sagt: »Im Notfall Erste Hilfe zu leisten, liegt in der Verantwortung jedes Menschen. Für Letzte Hilfe gilt meines Erachtens das Gleiche.« 2015 verlieh ihm Bundeskanzlerin Angela Merkel einen Preis für seine Idee. Danach wurden die Kurse immer bekannter. Heute hat Georg Bollig mit seinem Team nach eigenen Angaben bereits mehr als 26 000 Kursleiterinnen und Kursleiter in 17 Ländern ausgebildet, von Dänemark bis Brasilien. Hospizdienste in ganz Deutschland bieten Letzte-Hilfe-Kurse an. Es gibt auch ein spezielles Programm für Kinder und Jugendliche. Die Termine sind regelmäßig ausgebucht.

Der Kurs richtet sich an alle, die sich für das Thema interessieren. In Hamburg sind die Teilnehmer aus unterschiedlichen Gründen gekommen: Einige wollen vorbereitet sein, wenn ein geliebter Mensch stirbt. Manche möchten ihre Hemmungen verlieren, sich mit dem Tod zu beschäftigen. Andere sind beruflich häufig mit Sterbenden konfrontiert, etwa in der Pflege.

»Man darf einen Sterbenden nicht anlügen, auch wenn man ihn dadurch schonen möchte. Die Betroffenen spüren das und fühlen sich isoliert«
Claudia Bausewein, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Palliativmedizin am LMU Klinikum München

Zuerst geht es darum, Sterben als Teil des Lebens zu begreifen. Obwohl das Lebensende unvermeidlich ist, halten wir den Tod gern aus dem Alltag heraus. Dadurch fühlen sich nicht wenige unsicher und sprachlos, wenn es um das Sterben geht. »Die moderne Medizin vermittelt uns, dass wir alles unter Kontrolle haben«, sagt Claudia Bausewein, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Palliativmedizin am LMU Klinikum München und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin. »Dass dem nicht so ist, hat uns zuletzt die Corona-Pandemie gelehrt.« Die Kurse seien ein gutes Angebot, das Thema Menschen näherzubringen.

Doch wie kann ich mir den nahen Tod vorstellen? Darauf gibt es auch in diesem Kurs keine eindeutige Antwort. Sterben ist so individuell wie das Leben selbst. Viele Menschen haben in ihren letzten Lebenstagen immer weniger Interesse am Essen, sogar an ihren Mitmenschen. Andere blühen noch einmal richtig auf, suchen die Nähe ihrer Lieben und das Gespräch. Oft geht es dann um Ängste, zum Beispiel vor Schmerzen.


Ebenso können spirituelle Fragen auftauchen: Warum muss ich jetzt sterben? Und wo gehe ich hin? Wer diesen Themen ausweicht, nimmt den Sterbenden nicht ernst. Besser ist es, ehrlich die eigenen Gefühle und Gedanken zu formulieren. Das kann auch bedeuten, offen zuzugeben: »Ich weiß es nicht.« Und dann hinzuzufügen: »Was meinst denn du?« So ergibt sich vielleicht ein Austausch.

»Auf existenzielle Fragen nach Sinn und Leid gibt es keine einfachen Antworten«, bestätigt Claudia Bausewein. »Aber wir können Menschen dabei unterstützen, ihre eigene Antwort zu finden.« Das gelinge, indem man zuhöre und anwesend bleibe, selbst wenn dies bedeute, ein Gefühl der Ohnmacht angesichts des nahen Todes zusammen auszuhalten. Ein Umgang auf Augenhöhe ist der Medizinerin wichtig. »Alles, was ich sage, muss der Wahrheit entsprechen«, sagt Claudia Bausewein. Das gelte genauso für unangenehme Gespräche, etwa über eine Krankheitsprognose. »Man darf einen Sterbenden nicht anlügen, auch wenn man ihn dadurch schonen möchte. Die Betroffenen spüren das und fühlen sich isoliert.«

Themenwoche: Leben mit dem Tod

Mit der Corona-Pandemie ist der Tod näher an den Alltag herangerückt. Wie gehen wir damit um? Die folgenden Beiträge sollen Mut machen: sich auf das eigene Ende vorzubereiten, für Sterbende da zu sein und nach einem plötzlichen Verlust weiterzuleben.

Immer wieder geht es im Letzte-Hilfe-Kurs darum, authentisch zu bleiben. Die Reaktionen darauf können überraschend sein: Ulrike Wohlgemuth erzählt von einem Sterbenden, der wochenlang nicht auf sie reagiert hatte. Eines Tages entfuhr ihr verzweifelt: »Es ist für mich schwer auszuhalten, nicht zu wissen, ob Sie es bequem haben!« Da hob der Mann seine Hand und strich ihr zärtlich über das Gesicht.

Um bis zuletzt sicherzustellen, dass der eigene Wille verfolgt wird, sollte jeder eine Patientenverfügung und eine Vorsorgevollmacht erstellen – so lautet eine Erkenntnis aus dem zweiten Teil des Kurses. Dafür ist es wichtig, sich selbst zu fragen, wie man sterben möchte. Wo möchte ich die letzten Tage verbringen? Wer soll für mich entscheiden? Wann hat das Leben für mich noch einen Sinn?

Gut vorsorgen mit Vollmacht und Verfügungen

Ein Unfall, eine Krankheit oder auch das Alter können die Fähigkeit einschränken, selbst über das eigene Schicksal zu bestimmen. Wer volljährig ist, kann für solche Fälle schriftlich vorsorgen. Eine Patientenverfügung legt fest, welche medizinischen Maßnahmen man durchführen lassen möchte, wenn man darüber nicht mehr selbst entscheiden kann. Ärzte und Angehörige sind dann an diese Verfügung gebunden. Beim Verfassen sollte man sich von einer fachkundigen Person, etwa einem Arzt oder einer Ärztin, beraten lassen. Eine Vorsorgevollmacht ermächtigt jemanden dazu, in gesundheitlichen Fragen für einen selbst zu entscheiden; und eine Betreuungsverfügung bestimmt, wer als betreuende Person bestellt werden soll. Beides gilt für den Fall, dass man dazu nicht mehr in der Lage ist. Musterformulare gibt es zum kostenlosen Download unter anderem beim Bundesgesundheitsministerium und bei der Bundesärztekammer. Die Dokumente kann man bei der Bundesnotarkammer registrieren lassen und bekommt dann eine Art Scheckkarte, die auf die Verfügungen verweist und die man für den Notfall immer bei sich tragen kann.

In den letzten Stunden stellen die Organe langsam ihre Funktion ein. Die meisten Menschen werden dadurch müde und schläfrig, viele aber auch unruhig, sie nesteln etwa an ihrer Bettwäsche oder machen ausladende Armbewegungen. Auf direkte Ansprache reagieren sie zunehmend weniger. Der Atem kann lange Pausen machen. Manche entwickeln ein Atemgeräusch, das als »Todesrasseln« beschrieben wird. Es entsteht durch ein Sekret, das sich im Rachen sammelt und durch den Luftstrom hin und her bewegt wird. »Oft erschrecken Angehörige bei diesem Geräusch sehr und denken, die Sterbenden leiden darunter. Aber soviel wir wissen, belastet es die Sterbenden nicht«, klärt Katrin Kopplin-Förtsch auf, die den Kurs gemeinsam mit Ulrike Wohlgemuth durchführt und als Krankenschwester die Palliativstation im Agaplesion Diakonieklinikum Hamburg leitet.

Das Nichtwissen um solche Phänomene könne verunsichern, warnt Palliativmedizinerin Claudia Bausewein: »Durch Informationen können wir dagegen das, was passiert, besser einordnen.« Um selbst aufzuklären, hat sie gemeinsam mit Rainer Simader das Buch »99 Fragen an den Tod« veröffentlicht, einen »Leitfaden für ein gutes Lebensende«.

Gegen den nahen Tod können wir letztlich nichts ausrichten. Wir können nur versuchen, ihn so erträglich wie möglich zu gestalten

Doch so viel wir auch zu wissen glauben: Das Gefühl der Hilflosigkeit verschwindet nie ganz. Das macht der Kurs deutlich. Denn gegen den nahen Tod können wir letztlich nichts ausrichten. Wir können nur versuchen, ihn so erträglich wie möglich zu gestalten.

Darum geht es im dritten Teil. Die Palliativmedizin kennt Medikamente, die Beschwerden wie Schmerzen, Atemnot oder Übelkeit lindern. Angehörige können auf ihre eigene Weise helfen. Besonders angenehm finden es viele Sterbende, wenn sie berührt werden, zum Beispiel wenn jemand ihre Hand hält oder sie leicht massiert. Gemeinsames Singen, Beten, ein geliebter Duft auf dem Kopfkissen oder der Klang vertrauter Lieder aus dem Lautsprecher vermitteln Geborgenheit. Gut ist, wenn Menschen größere und kleinere Wünsche für ihr Lebensende in einer Patientenverfügung festgehalten haben. Danach können sich Pflegende richten, wenn jemand nicht mehr auf Ansprache reagiert. In der Verfügung kann aber beispielsweise auch stehen, welche Musik man in den letzten Lebenstagen auf keinen Fall hören möchte.

»Ein Mensch stirbt nicht, weil er aufhört zu essen und zu trinken, sondern er hört auf zu essen und zu trinken, weil er stirbt«
Ulrike Wohlgemuth, Leitende Koordinatorin des Ambulanten Hospizdienstes der Diakonie Alten Eichen in Hamburg

Ist das Ende nahe, lassen Hunger und Appetit nach. »Verweigert ein Mensch Nahrung und Wasser, ist das für Angehörige schwer auszuhalten«, sagt Ulrike Wohlgemuth. Doch sie betont: Ein Mensch stirbt nicht, weil er aufhört zu essen und zu trinken, sondern er hört auf zu essen und zu trinken, weil er stirbt.

Unangenehm ist allerdings die zunehmende Trockenheit im Mund. »Da ist kreative Mundpflege gefragt«, sagt Ulrike Wohlgemuth. In der Apotheke gibt es Mundpflegestäbchen mit einem Ende aus weichem Schaumstoff. Dieses taucht man in ein Lieblingsgetränk des Sterbenden – sei es Kakao, Saft oder Wein – und benetzt damit der Mund außen und innen. Auch eingefrorene Obststückchen oder kleine Eiswürfel aus verschiedenen Getränken kühlen den Mund wohltuend. Und Brausepulver löst trockene Beläge auf der Zunge.

Doch was, wenn jemand nicht mehr sagen kann, ob ihm etwas schmeckt oder nicht? »Er wird es Ihnen schon zeigen, indem er den Mund schließt, das Gesicht verzieht oder die Zunge herausstreckt«, meint Ulrike Wohlgemuth. Da solche Reaktionen in der letzten Lebensphase aber minimal sein können, gelte es sensibel und aufmerksam zu bleiben, erklären die Kursleiterinnen.

Umsorgen heißt auch, einfach nur da zu sein. Gerade in den letzten Stunden gibt es nicht mehr viel zu tun. »Die bloße Anwesenheit hat jedoch eine große Bedeutung«, sagt Katrin Kopplin-Förtsch. Der Klang einer vertrauten Stimme oder Musik können zusätzlich gut tun. Viele Sterbende scheinen noch zu hören, selbst wenn sie nicht mehr reagieren. Viele wünschen sich jetzt vor allem eine Atmosphäre der Ruhe.

»Jedes Gefühl hat seinen Platz und seine Zeit. Auch die Trauer kommt und geht in Wellen«
Katrin Kopplin-Förtsch, Letzte-Hilfe-Kursleiterin und leitende Krankenschwester auf der Palliativstation im Agaplesion Diakonieklinikum Hamburg

Auch nach dem Tod ist keine Eile geboten: Bis sichere Todeszeichen wie die Leichenstarre eintreten, die ärztlich bestätigt werden müssen, vergehen mindestens drei Stunden, lernen die Teilnehmenden im vierten Kursteil. Und Rituale wie eine Beerdigung helfen beim Abschiednehmen. »Jede Reaktion auf den Tod ist richtig und normal«, sagt Katrin Kopplin-Förtsch. »Jedes Gefühl hat seinen Platz und seine Zeit. Auch die Trauer kommt und geht in Wellen.«

Wichtig ist bei alldem, dass die Pflegenden ihre eigenen Bedürfnisse nicht vergessen. Nur wem es selbst gut geht, kann für andere da sein. Angehörige sollten offen sagen, wenn sie sich mit der Betreuung überfordert fühlen, macht der Kurs deutlich. »Sterben ist ein anstrengender Prozess. Er verlangt auch Angehörigen viel ab«, sagt Ulrike Wohlgemuth. Unterstützen können sie zum Beispiel die Ehrenamtlichen eines ambulanten Hospizdienstes.

In Hamburg ist die Sonne mittlerweile untergegangen. Den Kursleiterinnen ist anzumerken, wie viel Erfahrung sie bereits im Umgang mit Sterbenden gesammelt haben. »Man kann nicht alles wissen«, beruhigt Katrin Kopplin-Förtsch. »Ziel ist eher, es bestmöglich zu machen.« Das ist auch Georg Bollig, dem Initiator der Kurse, wichtig: »Die Kurse sollen Menschen motivieren, sich mehr zuzutrauen.« Ob er dieses Ziel erreicht, versucht er als Wissenschaftler an der Süddänischen Universität zu klären: In einem internationalen Forschungsprojekt will er verfolgen, ob die Teilnehmer ihre neu gewonnenen Kenntnisse tatsächlich anwenden.

Letzte Hilfe geben

Letzte-Hilfe-Kurse führen Menschen an die Themen Tod und Sterben heran. Die Teilnehmer setzen sich mit schwierigen Entscheidungen, Abschiednehmen sowie mit rechtlichen Fragen rund um Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung auseinander, und sie erfahren, wie sie das Leid ihrer kranken Angehörigen an deren Lebensende lindern können. Hospiz- und Palliativstationen bieten die Kurse seit 2015 kostenfrei oder gegen eine geringe Gebühr deutschlandweit an. Letzte-Hilfe-Kurse gibt es auch für Kinder und Jugendliche.

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