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Modellansatz: L-Funktionen

Eine Person schreibt Gleichungen auf eine Glasscheibe. Interessant daran ist, dass sie anscheinend die ganze Zeit in Spiegelschrift schreibt.

Eine alte Fragestellung lautet, was die Summe der Kehrwerte aller natürlicher Zahlen ist. Mit anderen Worten: existiert der Grenzwert der Harmonischen Reihe\sum_{n=1}^\infty\frac{1}{n}? Die Antwort, die man im ersten Semester kennenlernen ist: Diese Reihe ist divergiert, der Wert ist nicht endlich. Über die spannenden Entwicklungen in der Zahlentheorie, die sich daraus ergaben, berichtet Fabian Januszewski im Gespräch mit Gudrun Thäter.

Eine verwandte Fragestellung zur harmonischen Reihe lautet: Wie steht es um den Wert von \sum_{n=1}^\infty\frac{1}{n^2}? Diese Frage wurde im 17. Jahrhundert aufgeworfen und man wußte, daß der Wert dieser Reihe endlich ist. Allerdings kannte man den exakten Wert nicht. Diese Frage war als das sogannte Basel-Problem bekannt.

Eine ähnliche Reihe ist

$\sum_{n=1}^\infty\frac{2}{n(n+1)}.$

Ihr Wert läßt sich elementar bestimmen. Dies war lange bekannt, und das Basel-Problem war ungleich schwieriger: Es blieb fast einhundert Jahre lang ungelöst. Erst Leonhard Euler löste es 1741:

$\sum_{n=1}^\infty\frac{1}{n^2}=\frac{\pi^2}{6}\,.$

Die Riemann'sche \zeta-Funktion

Die Geschichte der L-Reihen beginnt bereits bei Leonhard Euler, welcher im 18. Jahrhundert im Kontext des Basel-Problems die Riemann'sche \zeta-Funktion' \displaystyle\zeta(s)=\sum_{n=1}^\infty n^{-s} entdeckte und zeigte, dass sie der Produktformel \displaystyle\zeta(s)=\prod_{p}\frac{1}{1-p^{-s}} genügt, wobei p die Menge der Primzahlen durchläuft und s>1 eine reelle Variable ist. Diese Tatsache ist äquivalent zum Fundamentalsatz der Arithmetik: jede natürliche Zahl besitzt eine eindeutige Primfaktorzerlegung.

Eulers Lösung des Basel-Problems besagt, daß \zeta(2)=\frac{\pi^2}{6} und diese Formel läßt sich auf alle geraden positiven Argumente verallgemeinern: \zeta(2k)=(2\pi i)^{2k}\cdot\left(-\frac{B_{2k}}{2(2k)!}, wobei B_{2k}\in\mathbb Q^\times die 2k-te Bernoulli-Zahl bezeichnet.

Im 19. Jahrhundert zeigte Bernhard Riemann, dass die a priori nur für {\rm Re}(s)>1,\;s\in{\mathbb C} konvergente Reihe \zeta(s) eine holomorphe Fortsetzung auf {\mathbb C}-\{1\} besitzt, einer Funktionalgleichung der Form s \mapsto 1-s genügt und einen einfachen Pol mit Residuum1 bei s=1 aufweist. Letztere Aussage spiegelt die Tatsache wieder, dass in \mathbb Z jedes Ideal ein Hauptideal ist und \pm1 die einzigen multiplikativ invertierbaren Elemente sind. Weiterhin weiß \zeta(s) viel über die Verteilung von Primzahlen.

Setzen wir

$\displaystyle \Lambda(s):=\pi^{-s/2}\Gamma(\frac{s}{2})\zeta(s)\,,$

dann zeigte Riemann, daß die so definierte vervollständigte Riemann'sche \zeta-Funktion auf ganz \mathbb C-\{0,1\} holomorph ist und der Funktionalgleichung \Lambda(s)=\Lambda(1-s) genügt. Da die \Gamma-Funktion Pole bei nicht-positiven ganzzahligen Argumenten besitzt, ergibt sich hieraus die Existenz und Lage der sogenannten "trivialen Nullstellen" von \zeta(s): \zeta(-2k)=0 für k\geq 1.

Konzeptionell sollte man sich den Faktor \pi^{-s/2}\Gamma(\frac{s}{2}) als Eulerfaktor bei \infty vorstellen. John Tate zeigte in seiner berühmten Dissertation, daß dies tatsächlich sinnvoll ist: Die endlichen Eulerfaktoren werden von Tate als Integrale über \mathbb Q_p^\times interpretiert, und der "unendliche" Eulerfaktor ist ebenfalls durch ein entsprechendes Integral über \mathbb R^\times gegeben. Er legte damit den Grundstein für weitreichende Verallgemeinerungen.

Die Riemann'sche \zeta-Funktion ist der Prototyp einer L-Funktion, einem Begriff, der langsam Schritt für Schritt verallgemeinert wurde, zunächst von Richard Dedekind, Lejeune Dirichlet und Erich Hecke und weiter von Emil Artin, Helmut Hasse, André Weil, Alexander Grothendieck, Pierre Deligne, Jean-Pierre Serre und Robert Langlands et al. L-Funktionen spielen in der modernen Zahlentheorie eine zentrale Rolle, und bis heute ranken sich fundamentale Vermutungen um diesen Begriff.

Selbst die Mysterien der Riemann'schen \zeta-Funktion sind auch heute bei weitem nicht vollständig ergründet. Die berühmteste Vermutung in diesem Kontext ist die Riemann'sche Vermutung. Riemann zeigte 1859 nicht nur, daß die Riemann'sche \zeta-Funktion eine holomorphe Fortsetzung auf {\mathbb C}-\{1\} besitzt, sondern stellte auch einen engen Zusammenhang zwischen der Verteilung der Primzahlen und den Nullstellen von \zeta(s) her. Eulers Produktenwicklung von \zeta(s) für {\rm Re}(s)>1 zeigt, dass stets \zeta(s)\neq für {\rm Re}(s)>1. Aus der Funktionalgleichung von \zeta(s) ergibt sich, dass \zeta(-k)=0 für natürliche Zahlen k>0. Die sind die sogenannten trivialen Nullstellen der \zeta-Funktion. Riemann vermutete, dass sämtliche nicht-trivialen Nullstellen auf der Geraden {\rm Re}(s)=\frac{1}{2} liegen.

Euler bestimmte im wesentlichen die Werte \zeta(2k) für positives k. Bis heute wissen wir sehr wenig über die Werte \zeta(2k+1) an positiven ungeraden Argumenten. Ein Satz von Apéry besagt, daß \zeta(3) irrational ist. Wir haben allerdings keine einfache Formel für diesen Funktionswert. Konzeptionell unterscheiden sich die ungeraden von den geraden positiven Argumenten darin, daß der in \Lambda(1-s) auftretende Faktor der \Gamma-Funktion für ungerades positives s dort einen Pol besitzt, was ebenfalls das Verschwinden von \zeta(-2k) zur Folge hat.

Über die Werte an negativen ungeraden Argumenten wissen wir aus der Funktionalgleichung, daß \zeta(1-2k)=-\frac{B_{2k}}{2k}\in\mathbb Q^\times. Insbesondere gilt \zeta(-1)=-\frac{1}{12}. Dieser Wert kann in gewissen Kontexten als Grenzwert (der divergierenden!) Reihe

$1+2+3+\cdots=\sum_{n=1}^\infty n^{1}=\sum_{n=1}^\infty n^{-s}|_{s=-1}=\zeta(-1)$

interpretiert werden (formal ergeben diese Identitäten natürlich keinen Sinn). In gewissen Situationen ist der Funktionswert \zeta(-1)=-\frac{1}{12} ein sinnvoller endlicher Ersatz für den nicht existierenden Grenzwert der Reihe 1+2+3+\cdots. Derartige Phänomene treten in Zahlentheorie an vielen Stellen auf.

Literatur und Zusatzinformationen

  • Haruzo Hida, Elementary theory of L-functions and Eisenstein series, Cambridge University Press, 1993.
  • Jean-Pierre Serre, "Cours d'arithmétique", Presses Universitaires de France, 1970.
  • Goro Shimura, "Introduction to the arithmetic theory of automorphic functions." Princeton University Press, 1971.
  • Jürgen Neukirch, Algebraische Zahlentheorie, Springer Verlag, 1992.
  • André Weil, Basic Number Theory, Springer Verlag, 1973.
  • Podcast Modellansatz 036: Analysis und die Abschnittskontrolle
  • Bernhard Riemann, Über die Anzahl der Primzahlen unter einer gegebenen Grösse, Monatsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1859
  • John T. Tate, "Fourier analysis in number fields, and Hecke's zeta-functions", Algebraic Number Theory (Proc. Instructional Conf., Brighton, 1965), Thompson, 1950, S. 305–347.
  • Andrew Wiles, "Modular Elliptic Curves and Fermat’s Last Theorem." Annals of Mathematics142, 1995, S. 443–551.
  • Richard Taylor, Andrew Wiles, "Ring-theoretic properties of certain Hecke algebras." Annals of Mathematics142, 1995, S. 553–572.
  • Brian Conrad, Fred Diamond, Richard Taylor, "Modularity of certain potentially Barsotti-Tate Galois representations", Journal of the American Mathematical Society12, 1999, S. 521–567.
  • Christophe Breuil, Brian Conrad, Fred Diamond, Richard Taylor, "On the modularity of elliptic curves over Q: wild 3-adic exercises", Journal of the American Mathematical Society14, 2001, S. 843–939.
  • Frobeniushomomorphismus
  • Galois-Darstellungen
  • Weil-Vermutungen
  • Standard-Vermutungen
  • Automorphe Formen
  • Das Langlands-Programm
  • Wikipedia: Automorphe L-Funktionen
  • Emil Artin, Über eine neue Art von L-Reihen, Abh. Math. Seminar Hamburg, 1923.
  • Armand Borel, "Automorphic L-functions", in A. Borel, W. Casselman, "Automorphic forms, representations and L-functions" (Proc. Sympos. Pure Math., Oregon State Univ., Corvallis, Oregon, 1977), Teil 2, Proc. Sympos. Pure Math., XXXIII, American Mathematical Society, 1979, S. 27–61.
  • Robert P. Langlands, "Problems in the theory of automorphic forms", in "Lectures in modern analysis and applications III," Lecture Notes in Math 170, 1970, S. 18–61.
  • Robert P. Langlands, '"'Euler products", Yale University Press, 1971.
  • Wikipedia: Spezielle Werte von L-Funktionen
  • Pierre Deligne; "Valeurs de fonctions L et périodes d’intégrales." , in A. Borel, W. Casselman, "Automorphic forms, representations and L-functions" (Proc. Sympos. Pure Math., Oregon State Univ., Corvallis, Oregon, 1977)'', Teil 2, Proc. Sympos. Pure Math., XXXIII, American Mathematical Society, 1979, S. 313–346.

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