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Ruht der fliegende Pfeil?

Treitz-Rätsel

Zenon von Elea war Schüler von Parmenides aus der gleichen Stadt im heutigen Campanien. Beide Eleaten waren der Überzeugung, dass nur das Sein existieren kann, das Nichtsein jedoch nicht, und also auch nicht die Mischungen aus beiden wie Werden, Entstehen, Verwandlung oder auch Bewegung. Mit diesem Wort "Bewegung" war (auch bei Aristoteles) nicht nur die Ortsveränderung im Raum gemeint, sondern überhaupt jede Veränderung oder Umwandlung. Mit welchen spitzfindigen Argumenten Zenon den Begriff der Bewegung als in sich widersprüchlich aufzuweisen versucht, kann man im Physikbuch von Aristoteles lesen (der diesen Unfug entschieden ablehnt, das 9. Kapitel des VI. Buches handelt davon, ebenso das 2., welches Bewegung und Zeit als Kontinuum behandelt).

Das 3. Paradoxon Zenons bestreitet die Möglichkeit von Bewegung rundheraus: Wenn ein fliegender Pfeil zu jedem Zeitpunkt an einem Ort (genauer wäre: mit jedem Ende an genau je einem Ort) ruht, so ruht er die ganze Zeit und kann sich infolgedessen überhaupt nicht bewegen.

Nach Aristoteles ergibt sich der Trugschluss einfach "aus der Fehlannahme, dass die Zeit aus Jetzten sich zusammensetze". Der italienische Schriftsteller und Filmregisseur Luciano De Crescenzo schreibt in seiner amüsanten Geschichte der griechischen Philosophie (Teil 1: Die Vorsokratiker): Wenn Zenon heute leben würde, würde er vielleicht sagen: "Wenn ihr mir nicht glaubt, versucht doch einmal ein Foto zu machen, und sagt dann selber, ob der Pfeil sich bewegt oder ob er stillsteht."

Ist die Sache mit dem Foto nun ein Argument für oder gegen Zenon?

Bei einem Foto kommt es auf die Belichtungszeit an: Ist sie kurz genug, verschwindet die Bewegungsunschärfe in der wellenoptisch und durch die Korngröße bestimmten Unschärfe. Lassen wir die Belichtungszeit auf 0 schrumpfen, so geht zwar die Bewegungsunschärfe mit, aber ebenso die Intensität, und zwar auch auf 0.

Die Bilder neben der Kinokasse sind keine Bilder aus dem Film, sondern werden mit besonderen Kameras während der Dreharbeiten aufgenommen, denn die richtigen Filmbilder wären für eine ruhende Betrachtung viel zu unscharf, insbesondere wegen der Bewegung. Auch auf unserer Netzhaut gibt es bei Bewegungen einige Unschärfe, die das Gehirn aber nicht als Unschärfe, sondern als Bewegung versteht und sich dazu scharf umrissene Gegenstände denkt.

Man kann daraus lernen, daß die Redeweise vom Ruhen in Zeitpunkten mißverständlich ist und eigentlich einen Grenzübergang ernster nimmt, als es gut ist. Läßt man die Zeit- und die Wegintervalle gegen 0 laufen, so ist für uns der Grenzwert des Quotienten wichtig, 0/0 ist nicht definiert, und es macht darum wenig Sinn zu fragen, was in einer Zeitspanne der Länge 0 geschieht, denn in solchen Spannen kann naturgemäß nichts geschehen.

In dem Zusammenhang kann man auch fragen: Was sind Punkte?

Wie gut ist die (bequeme) Sprechweise, mit der man Linien, Flächen und Volumina als Punktmengen bezeichnet? Es sind unendlich viele Punkte, sogar überabzählbar viele darin, aber macht es Sinn anzunehmen, eine Linie sei nur eine Menge von Punkten? Ist sie nicht vielleicht zugleich auch eine Menge von Abständen? Ihre Länge können wir nicht als Summe aus unendlich vielen Nullen bestimmen, sondern nur aus endlich vielen endlichen Längen. Wenn ein Punkt keine Länge und kein Volumen hat, kann eine Menge von Punkten allenfalls ein Gebilde, das so etwas hat, beliebig dicht bevölkern, aber eigentlich nicht dasselbe sein.

Euklid hat einen Punkt als das "definiert", was keine Teile hat. In der Physik benutzt man das Wort ganz anders: Ein Punkt hat einen bestimmten Ort, aber seine Ausdehnung ist unwichtig. Eine Punktladung hat außerdem eine bestimmte elektrische Ladung, eine Punktmasse (auch Massenpunkt genannt) eine bestimmte Masse. Ob eine Lichtquelle punktförmig ist, kommt auf die Fragestellung und auf Größen wie Lochdurchmesser oder Entfernungen an. So sind für die meisten optischen Betrachtungen Sterne trotz ihrer gewaltigen Größe punktförmig, Ionen im Kristallgitter aber haben verschiedene Durchmesser, auf die es sehr wohl ankommen kann.

Ein Kollege, der zugleich Astronom ist, erzählte, dass seine Tochter in der Grundschule (!) bei der Aufzählung von "punktförmigen Lichtquellen" zur Enttäuschung des Lehrers nicht auf die Sterne gekommen war, weil sie wusste, dass sie riesig groß sind. Trotzdem ist der Begriff nicht sinnlos, man muss ihn nur ordentlich erklären.

Zum Schluss noch eine antike Anekdote: Antisthenes war der erste Kyniker. Das waren genügsame, angeblich wie Hunde (kynikos = hündisch) herumstreunende Philosophen, am bekanntesten ist Diogenes. Unsere Bezeichnung "zynisch" tut ihnen unrecht, denn sie wird auf Leute angewendet, die das Leid Anderer missachten; die Kyniker dagegen haben ihr jeweils eigenes nicht ernstgenommen.

Vielleicht tröstet es Sie, was Antisthenes gemacht hat, als er ein Paradoxon von Zenon nicht widerlegen konnte: Er lief pausenlos vor ihm auf und ab, bis der Leugner jeglicher Bewegung die Geduld verlor und ihn anblaffte: "Kannst du nicht mal endlich stehenbleiben?"

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