Der Brockhaus: Nobelpreise
Zumindest was die Physik angeht, hat das Komitee, das alljährlich – mit bislang wenigen Unterbrechungen – den hoch dotierten und prestigeträchti-gen Nobelpreis für überragende wissenschaftliche Leistungen vergibt, gute Arbeit geleistet. Einige Merkwürdigkeiten und Verspätungen sind als unvermeidlich anzusehen. So ist den Relativitätstheorien selbst niemals ein Nobelpreis zuerkannt worden, wohl weil sie dem Komitee nicht über alle Zweifel erhaben schienen; ersatzweise bekam 1921 der damals schon weltberühmte Albert Einstein den Physik-Preis "für seine Verdienste um die theoretische Physik, besonders für die Entdeckung des Gesetzes des photoelektrischen Effekts". Erst 1980 konnte sich das Komitee dazu durchringen, die "Verletzungen fundamentaler Symmetrien beim Zerfall der neutralen Kaonen", eine wahrlich fundamentale und überraschende Entdeckung von 1964, durch die Preisvergabe an James W. Cronin und Val L. Fitch zu würdigen. Und nach Auffassung der Gemeinde der Elementarteilchenphysiker steht für die Entdeckung der Quantenchromodynamik eine Auszeichnung seit Jahrzehnten aus. Aber von diesen und ähnlichen Mängeln abgesehen, geben die Leistungen der Nobelpreisträger – auch wenn sie gelegentlich mit dem Preis für Chemie geehrt wurden – im Wesentlichen schon die bedeutendsten Errungenschaften der Physik wieder, die uns das vergangene 20. Jahrhundert beschert hat (für die anderen Fachgebiete fühle ich mich nicht zuständig). Ein erläuterndes Lexikon dieser Leistungen könnte ein unübertreffliches Kompendium der durch sie bewirkten Fortschritte bilden. Eine große Chance also. Doch wurde sie in diesem Buch genutzt? Nicht optimal in dem Format, das der Verlag gewählt hat: Für jeden, auch geteilten Nobelpreis eines Jahres steht eine Doppelseite zur Verfügung. Das ist zu viel für den Nobelpreis des Jahres 1912 an den Schweden Nils Gustaf Dalén für "die Erfindung selbstwirkender Regulatoren", die bei der Beleuchtung von Leuchttürmen und Leuchtbojen Anwendung finden, und zu wenig für den unter drei Forscher aufgeteilten Physik-Preis 1978. Eine Hälfte des Preises ging an den russischen Physiker Pjotr L. Kapiza "für seine grundlegenden Arbeiten auf dem Gebiet der Tieftemperaturphysik", die andere Hälfte zu gleichen Teilen an die Amerikaner Arno A. Penzias und Robert W. Wilson "für die Entdeckung der kosmischen Mikrowellen-Hintergrundstrahlung". Verschiedener können zusammen gewürdigte Leistungen nicht sein. Im-merhin: Dem Autor der zugehörigen Doppelseite, dem Physiker und Wissenschaftshistoriker Michael Schaaf aus Kapstadt, ist es trotz des eingeschränkten Platzes gelungen, die Leistungen der drei Forscher sowohl darzustellen als auch geschichtlich einzuordnen. Man soll ja nicht zu viel auf Titel geben. Aber in diesem Buch drängt sich eine Trennung der Autoren mit und ohne durch den Titel ausgewiesene Kompetenz geradezu auf. Die gut 110 Essays über die Nobelpreise für Physik und für Chemie, durch die Physiker geehrt wurden, sind insgesamt von nur 18 Autoren verfasst. Von ihnen sind bei großzügiger Auslegung 13 oder 14 durch ihre ausgewiesene Vorbildung qualifiziert, große Themen der Physik und/oder deren Geschichte darzustellen. Diese Autoren haben aber nur etwa die Hälfte dieser Essays geschrieben. Von den anderen stammen vierzig aus der Feder von Uwe Schulte, der im Autorenverzeichnis als "Dipl.-Ing. agr., Autor und freier Wissenschaftsjournalist mit Themenschwerpunkt Biotechnologie, Freiberg" vorgestellt wird. Und siehe da: Unter den Artikeln der "quali-fizierten" Autoren finden sich alle vorzüglichen und keine schiefen oder gar falschen. Umgekehrt ist unter den übrigen Artikeln kein vorzüglicher, aber zahlreiche schiefe. Man lese nur die hoffnungslos misslungene Darstellung des Raman-Effektes, für dessen Entdeckung der indische Physiker Chandrasekhara Ventaka Raman den Physik-Nobelpreis des Jahres 1930 erhalten hat. Wie soll auch ein einziger Autor vierzig der wichtigsten Erfolge der Physik des vergangenen Jahrhunderts kompetent darstellen und geschichtlich einordnen können? Das Personenregister ist lausig. Bei den Nobelpreisträgern beschränkt es sich mit wenigen Ausnahmen auf die Angabe der ihrem Preis gewidmeten Seiten. Immerhin wird vermerkt, dass Albert Einstein in dem Essay auftaucht, der von dem Physik-Nobelpreis des Jahres 1918 an Max Planck handelt, nicht aber, dass Niels Bohr auf derselben Seite genannt wird. Es fehlen zahlreiche in den Essays erwähnte Personen, die nicht Nobelpreisträger sind, wie Heinrich Hertz oder Arnold Sommerfeld, der im hervorragenden Essay zum Nobelpreis an Max von Laue (1914) mehrfach erwähnt wird. Wegen zahlreicher Überschneidungen der durch Nobelpreise ausgezeich-neten Forschungen hätte eine ordnende Hand die Beiträge koordinieren sollen. Die aber fehlt. Wiederholungen sind häufig; es gibt sogar einander widersprechende historische Einschätzungen. In ihrem hervorragenden Beitrag über den Chemie-Nobelpreis an Ernest Rutherford 1908 nennt Beate Ceranski zusammen mit ihm auch seinen Mitarbeiter Hans Geiger. Üblich, wenn auch ungerecht ist es, nur Rutherford zu nennen. Diesen aber zu Gunsten von Geiger und deren gemeinsamem Adepten Ernest Marsden ganz fortzulassen, wie in dem Artikel zu dem Nobelpreis von 1990 an Jerome I. Friedman, Henry W. Kendall und Richard E. Taylor, zeugt von Unkenntnis oder gewollter Fehleinschätzung. Eingeleitet wird der "Brockhaus der Nobelpreise" durch gelungene 29 Seiten Überblick über das Leben des Preisstifters Alfred Nobel, die Geschichte und gegenwärtige Vergabepraxis des Preises sowie über dessen Einfluss auf die Lebensumstände des deutschen Preisträgers von 1985, Klaus von Klitzing. Für meinen Geschmack nimmt allerdings Jutta Fölsing, die Autorin dieser Berichte, die Koketterien ihres Preisträgers zu oft zu ernst. Jedes Jahrzehnt wird durch eine Bildergalerie eingeleitet. Insgesamt wurde eine Chance vertan; ein besseres Buch wäre möglich gewesen (und wäre auch jetzt noch – mit gründlicher Überarbeitung – aus dem vorhandenen Material zu machen). Doch für eine Orientierung über die Fortschritte der Physik im vergangenen Jahrhundert reicht auch dies, und besser als keins ist es allemal. So sei es unter Vorbehalten empfohlen.
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